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Die neuen moralischen Anforderungen an die moderne Tierhaltung

Kühe die eng zusammenstehen
© Pexels, Diego F. Parra

„Die Ermittlungen haben endlich Resultate erzielt: Die Tierquäler haben Angst“, sagt Friedrich Mülln, der Gründer und Chef der Soko Tierschutz, die sich seit fast zehn Jahren für die Rechte von Tieren einsetzt. Nach einer Weile fügt er hinzu: „Ich möchte, dass sie noch mehr Angst bekommen. Die Jahre der Straffreiheit haben ihnen enorme Gewinne beschert.“

 

Von Magda Roszkowska

Mülln erklärt, dass es jedes Jahr in Deutschland durchschnittlich vier große Fleischskandale gibt – und dazu noch viele kleinere. In den letzten sechs Jahren haben die Mitglieder der Soko Tierschutz Verstöße gegen das Tierschutzgesetz in 15 deutschen Schlachthöfen aufgedeckt, 14 von ihnen mussten daraufhin geschlossen werden. Die Tierschützer bewiesen unter anderem, dass in einigen der Betriebe sogar tote Tiere geschlachtet und zur Lebensmittelproduktion verwendet wurden.


Ein Imageschaden

Diese Affären haben nicht nur zur Schließung kleinerer Betriebe geführt, sondern auch den großen Konzernen, wie zum Beispiel der Firma Tönnies, die über sieben Milliarden Euro Umsatz erwirtschaftet, nachhaltig geschadet. Im Juni 2020, auf dem Höhepunkt der Corona-Pandemie, erfuhren die Deutschen erstmals von den skandalösen Arbeitsbedingungen im Tönnies-Werk, dessen 7000 Mitarbeiter überwiegend aus Osteuropa, insbesondere aus Rumänien, Bulgarien und Polen stammen.

Einen Monat später veröffentlichte die Organisation Deutsches Tierschutzbüro versteckte Aufnahmen aus einem Tönnies-Zulieferbetrieb. Der Film zeigte kranke Schweine mit abgebissenen Ohren, die dicht gedrängt in ihrem eigenen Kot stehen. Aus solchen Tieren stellt der Branchengigant seit Jahren seine Fleisch- und Wurstspezialitäten her.
 
Auch die deutschen Discounterketten Aldi und Lidl gerieten ins Kreuzfeuer der Kritik. 2021 veröffentlichte die Deutsche Umwelthilfe eine Studie, bei der in jeder vierten Geflügelfleischprobe antibiotikaresistente Keime entdeckt wurden. Der Grund? Die Discounter stehen seit Jahren in einem erbitterten Konkurrenzkampf um die Gunst der Kunden und zahlen ihren Zulieferern nur die niedrigsten Preise.
Um trotzdem gewinnbringend arbeiten zu können, sparen die Zulieferbetriebe, wo es nur geht: Sie drängen Tausende von Schweinen, Hühnern und Puten in riesigen Masthöfen auf engstem Raum zusammen und setzen immer mehr Antibiotika ein – nicht etwa, um Krankheiten zu heilen, sondern um das Risiko ihres Auftretens zu minimieren. Dadurch werden diese Masthöfe zu einer idealen Umgebung für die ständig mutierenden Mikroorganismen. Wissenschaftler warnen davor, dass antibiotikaresistente Keime schon in wenigen Jahrzehnten zur weltweiten Todesursache Nummer eins werden könnten.

„Es ist nicht so, dass die Bedingungen in deutschen Massenbetrieben schlechter sind als in polnischen oder umgekehrt. Sie sind überall auf der Welt gleich katastrophal. Deutsche Schweine leiden genauso wie polnische oder chinesische“, konstatiert Mülln.
 


Vor zwanzig Jahren wurde der Tierschutz als Staatsziel in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland aufgenommen, und das deutsche Tierschutzgesetz zählt zu den strengsten in Europa. Sein erster Paragraph besagt, dass niemand einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leid oder Schäden zufügen darf. Es verbietet unter anderem die Zwangsfütterung von Enten und Gänsen, das Halten von Tieren auf engstem Raum und eine zu starke Reduktion arttypischer Verhaltensweisen.

„So ist es in der Theorie“, sagt Mülln. Dann erklärt er, dass es in Deutschland rund 30 Millionen Mastputen gibt, von denen 99,9 Prozent verkürzte Schnäbel haben. Bei dem sogenannten Schnabelkürzen werden die Schnabelspitzen mit unterschiedlichen Methoden amputiert. Da die Schnabelspitze sehr empfindlich und mit Nerven durchzogen ist, bereitet dieser Eingriff den Tieren akute Schmerzen, die wochenlang anhalten. Diese Praxis verstößt eindeutig gegen das Tierschutzgesetz!

Mülln erklärt, dass die Masthöfe Sondergenehmigungen zum Schnabelkürzen beantragen können – mit dem Argument, dass die auf engstem Raum zusammengedrängten Tiere sich ansonsten gegenseitig verletzen. Ein ähnliches rechtliches Hintertürchen gebe es auch in der Schweinezucht (2021 wurden in deutschen Schlachthöfen rund 51,8 Millionen Schweine geschlachtet). Den Tieren werden die Schwänze abgeschnitten, um zu verhindern, dass die durch die artwidrigen Haltungsbedingungen gestressten Tiere sie sich gegenseitig abbeißen.

Andererseits wird das Tierschutzgesetz zunehmend verschärft. Seit 2019 gibt es in Deutschland keine Pelzfarmen mehr. Und seit Anfang dieses Jahres dürfen in deutschen Brütereien keine männlichen Küken mehr am ersten Lebenstag getötet werden. Zuvor wurden männliche Eintagsküken, weil sich ihre Aufzucht wirtschaftlich gesehen nicht lohnt, lebendig geschreddert oder vergast.

Friedrich Mülln nickt, als ich ihm dies aufzähle, denn er selbst hat 20 Jahre lang dafür gekämpft, dass diese Gesetze in Kraft treten. „Jetzt werden die Küken nach Polen transportiert und dort getötet“, sagt er. Mülln würde sich wünschen, dass Verstöße gegen das Tierschutzgesetz zukünftig mit Freiheitsstrafen von drei bis fünf Jahren geahndet werden. Die Grünen haben vor den Wahlen eine solche Gesetzesänderung bereits angekündigt.

Fürs Erste hat der grüne Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft Cem Özdemir ein fünfstufiges staatliches Label zur Tierwohlkennzeichnung auf Lebensmitteln vorgestellt, das die Verbraucher über die jeweilige Haltungsform informiert. Das staatliche Label soll zunächst für Schweinefleisch gelten.

Das Ende der Illusionen


Jeden Tag werden in Deutschland mehr als 2 Millionen Tiere geschlachtet, davon 80 Prozent Geflügel. Die deutsche Fleischbranche gehört zu den größten in Europa: Allein 2020 machte sie Umsätze in Höhe von 25 Milliarden Euro. Die großen Konzerne haben nicht nur Angst vor weiteren Aufdeckungen der Tierschützer, tierärztlichen Inspektionen, Hygienekontrollen und staatsanwaltlichen Ermittlungen, sondern auch vor der Tatsache, dass die deutschen Verbraucher jedes Jahr weniger Fleisch und Milch konsumieren.
Aus Statistiken geht hervor, dass 18 Prozent der Deutschen (circa 15 Millionen) sich inzwischen selbst als Flexitarier bezeichnen, 10 Prozent als Vegetarier und 2 Prozent als Veganer. 2021 aß der durchschnittliche Deutsche 55 Kilogramm Fleisch, drei Jahre zuvor waren es noch 6 Kilogramm mehr!
„Die Menschen verlieren endlich ihre Illusionen“, freut sich Mülln, der bereits seit zwei Jahrzehnten auf einen solchen gesellschaftlichen Wandel gehofft hat.

Er sagt, dass diese Illusionen wie eine Ansichtskarte aus Bayern wirken. Es sind Bilder von braun-weiß gescheckten Kühen, die auf einer grünen Bergwiese weiden, Gras zupfen und sich in der Sonne wärmen. Im Hintergrund ist ein Bauernhof zu sehen, manchmal auch ein Bauer, der in der Regel einen Trachtenanzug trägt. Man merkt sofort, dass er seit Generationen hier lebt, sich liebevoll um seine Tiere kümmert und jedes von ihnen mit Namen kennt.
„Das ist nicht nur eine Ansichtskarte, die man seiner Familie aus dem Urlaub schickt, sondern auch ein Bewusstseinszustand: die Vorstellung vom netten Bauern aus der Nachbarschaft. Die deutsche Fleisch- und Milchindustrie gibt jedes Jahr Unmengen von Geld aus, um dieses Image zu fördern. Und anstatt den Tatsachen ins Gesicht zu sehen, haben viele Menschen jahrzehntelang lieber in dieser Illusion gelebt“, betont Mülln.

Dann zeigt er mir andere Bilder aus Bayern. Der erste Film zeigt eine kranke Kuh, die auf der Erde liegt und nicht mehr aufstehen kann. Ein Mitarbeiter eines Milchviehbetriebs schleift das Tier mit einem Radlader durch den Stall und lädt es auf einen Lastwagen, der es daraufhin zum Schlachthof transportiert. Der zweite Film zeigt verletzte und kranke Kühe, die in einem Stall liegen und auf ihren Tod warten. Sie sind hungrig und durstig. Die Bilder belegen, dass ihr Todeskampf bis zu neun Tage dauert. Im dritten Film sind Mitarbeiter zu sehen, die kranke Kühe schlagen und treten, weil sie nicht mehr die Kraft haben, von allein aufzustehen.

Die Filme wurden im Mai und Juni 2019 von einem Mitarbeiter des größten bayerischen Milchviehbetriebs im Kurort und Kneippheilbad Bad Grönenbach aufgenommen. Damals lebten auf den drei Höfen des Betriebs fast 3000 Rinder. Der Mitarbeiter war ein Aktivist der Soko Tierschutz. Viele Tieraktivisten gehen auf diese Weise vor: Sie schleusen sich als Mitarbeiter in landwirtschaftliche Betriebe ein, um dort Verstöße gegen das Tierschutzgesetz zu dokumentieren.

In diesem Fall gab es so viel belastendes Material, dass 2020 Anklage gegen den 66-jährigen Besitzer des Milchviehbetriebs und seinen 23-jährigen Sohn erhoben wurde.  Die Staatsanwaltschaft warf den Angeklagten vor, ihre Kälber und Kühe in insgesamt 54 Fällen nicht ausreichend versorgt zu haben, sodass diese länger anhaltende Schmerzen erlitten und zum Teil getötet werden mussten. Das Verfahren ist noch nicht abgeschlossen, den Angeklagten droht eine Geldstrafe oder eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren. Unmittelbar nach dem Bekanntwerden des Skandals wurde ein Tierhaltungsverbot gegen die damaligen Betreiber verhängt, und der Hof wurde von einem anderen Züchter übernommen.

„Auch das Veterinäramt wusste angeblich nichts von den Missständen. Warum wurde keine Anklage gegen die Behörde erhoben?“, fragt Mülln.
Und doch war der Skandal für den Tieraktivisten ein Wendepunkt: Er löste einen Aufschrei in den Medien und eine bundesweite gesellschaftliche Debatte aus. Ganz Deutschland empörte sich über die Misshandlung der Tiere, und die Menschen aus der Region organisierten Protestmärsche und Mahnwachen vor dem Zaun des Milchviehbetriebs. „Plötzlich erreichten wir mit unserer Botschaft sogar Männer über 50 – eine Gruppe die sich, wie Studien belegen, am wenigsten für das Thema Tierwohl interessiert. Es gab sogar einige Landwirte, die sich bei uns bedankten und uns schrieben, dass sie ihren Konsum von Tierprodukten als Reaktion auf unsere Ermittlungen deutlich eingeschränkt haben“, erinnert sich Mülln.

Heute ist er 42 Jahre alt. Für den Tierschutz engagiert er sich seit seiner Jugend, die Soko Tierschutz gründete er 2012. Als er die ersten Fälle von Tierquälerei in der industriellen Viehhaltung aufdeckte, ignorierten die Medien diese Vorfälle oder handelten sie in kurzen Berichten ab. Das ist heute anders: Die Medienverantwortlichen haben gemerkt, dass die Menschen sich zunehmend für das Thema Tierwohl interessieren und wissen wollen, woher das Essen auf ihrem Teller stammt. Deshalb bleiben die Skandale oft wochenlang in den Medien präsent.“

„Dank der medialen Berichterstattung wissen heute immer mehr Menschen, wie der Alltag von Tieren in der industriellen Landwirtschaft aussieht“, erklärt Mülln. „Das Schweigen wurde gebrochen. Im Augenblick liegen uns fast 200 Hinweise auf Tierquälerei in Mast- und Milchbetrieben in ganz Deutschland vor. Leider habe ich nicht genügend Mitarbeiter, um all diesen Hinweisen nachzugehen“, seufzt er.

Die Vegan-Branche auf dem Vormarsch

Um sechs Uhr morgens betritt Adrian den Produktionsraum der Tofu-Manufaktur Soy Rebels in Berlin-Lichtenberg. Dort warten bereits 45 Kilogramm Sojabohnen auf ihn, die über Nacht in einem großen Topf eingeweicht wurden. Adrian spült sie ab und püriert sie. Dann siebt er die Masse und fängt die Sojamilch in einem großen Topf auf, den er anschließend auf den Herd stellt. In der einen Hand hält er einen langen Rührstab und in der anderen ein Thermometer. Sobald die Temperatur 88 Grad erreicht, gibt Adrian ein Gerinnungsmittel hinzu. Er rührt die Flüssigkeit so lange um, bis ein dicker Brei entsteht. Dann hebt er die Masse vorsichtig aus dem Topf, presst die verbliebene Flüssigkeit heraus und teilt die Masse in circa 200 Gramm schwere Stücke. Diesen Vorgang wiederholt er mehrere Male. Anschließend mariniert er den frischen Tofu in Sojasauce und Gewürzen und lässt ihn eineinhalb Stunden im Backofen trocknen. Zum Schluss wandern die marinierten und getrockneten Tofustücke noch in einem Räucherofen, wo sie über speziellem Holz geräuchert werden. Als es Abend wird, hat Adrian ungefähr 42 Kilogramm Tofu hergestellt. Bevor er Feierabend macht, schüttet er noch getrocknete Sojabohnen in einen Topf und weicht sie für den nächsten Morgen ein. Adrians Schicht hat zwölf Stunden gedauert. Dafür hat er morgen frei. Die nächste Charge wird Mateusz herstellen, der Mitgründer und Chef der Berliner Manufaktur für Bio-Tofu Soy Rebels.
 


Mateusz und Agnieszka gründeten die Firma vor zehn Jahren gemeinsam mit Frank, der sein Wissen über die Tofuherstellung auf einer Sojafarm in Süddeutschland erworben hatte. Einige Jahre lang arbeiteten sie ohne Genehmigung. Dann verließ Frank Berlin, und 2020, zu Beginn der Pandemie, stieß Adrian zum Team hinzu.
„Jeden Monat verarbeiten wir eine Tonne Sojabohnen, die wir von deutschen Bio-Sojabäuerinen und -bauern beziehen. Wir arbeiten in zwei Schichten. Wir benutzen keine großen Maschinen, sondern machen alles in Handarbeit. Den fertigen Tofu liefern wir mit Fahrradkurieren an zwölf Bioläden und zwei Restaurants aus. Jeden Samstag verkaufen wir unsere Produkte auch auf einem Wochenmarkt. Wir haben einen Marktwagen, an dem wir Tofu-Kebab anbieten“, erklärt Adrian.

Der in Handarbeit hergestellte Bio-Tofu der Berliner Manufaktur ist etwa doppelt so teuer wie der Tofu beim Discounter. Die Kunden der Soy Rebels stammen überwiegend aus der Mittelschicht – die meisten von ihnen sind Flexitarier, die nur selten, aber wenn, dann hochwertiges Fleisch kaufen.
„Die Soy Rebels sind ein ziemlich radikales Projekt. Wir sind ein lokales Unternehmen, arbeiten nicht wachstumsorientiert und produzieren klimabewusst“, zählt Adrian auf.

Adrian lebt seit über 20 Jahren in Berlin. Als er aus Breslau hierherkam, war er bereits Veganer. Seitdem hat er die bescheidenen Anfänge und den anschließenden Boom der Vegan-Branche aktiv mitbegleitet. Doch ein Big Player wollte er nicht werden.

„Um 2010 herum hörte vegane Ernährung allmählich auf, ein Nischenphänomen zu sein. In Berlin gab es damals kaum vegane und nur etwa ein Dutzend vegetarische Restaurants [heute sind es 85 vegane und 117 vegetarische Restaurants, Anm. d. Aut.], doch man spürte bereits, dass die Nachfrage von Monat zu Monat stieg. Schließlich begannen sogar normale Restaurants, vegane Gerichte in ihre Speisekarte aufzunehmen, weil es einfach dazugehörte“, erinnert sich Adrian. Zu jener Zeit arbeitete er in dem vegetarischen Café Morgenrot und hatte es sich zum Ziel gesetzt, das Süßspeisen-Angebot des Cafés zu veganisieren.

Seitdem er vegan lebte, hatte sich Adrian am meisten nach dem Geschmack von Kuchen und Süßspeisen zurückgesehnt, die mit Butter, Eiern und Milch hergestellt wurden. Deshalb experimentierte er schon früh mit veganen Ersatzprodukten, mit denen er klassische Gerichte nachahmte: Käsekuchen aus Tofu, Brownies und Zimtbrötchen. Die Besucher des Cafés verliebten sich auf Anhieb in Adrians Kreationen, und die Mund-zu-Mund-Propaganda sorgte dafür, dass er schon bald Anfragen von anderen Restaurants erhielt.

„In den ersten zwei, drei Jahren wussten nur die wenigsten, wie veganes Kochen eigentlich funktionierte. Man konnte sich frei entfalten. Ich mietete mir eine Küche in einem Restaurant von Bekannten, um dort nachts Kuchen zu backen. Schon bald kamen immer mehr Bestellungen hinzu, sodass ich mich schließlich entscheiden musste: Entweder ich nehme einen Kredit auf, expandiere und konzentriere mich auf mein Unternehmen, oder ich ziehe mich zurück“, erinnert sich Adrian.

Schließlich entschied das Schicksal für ihn: Seine Tochter wurde geboren. Doch einige der damaligen Pioniere packten die Gelegenheit beim Schopfe und sind heute bekannte Namen auf dem Markt für vegane Lebensmittel.
„Die Firma Taifun, die Tofu produziert, wurde von einem deutschen Hippie gegründet, der sich für die asiatische Küche begeisterte. Und die Firma Veganz, die ihre veganen Produkte in deutschen Supermärkten vertreibt, ist das geistige Kind von Jan Bredack, dem ehemaligen Manager des ersten Daimler-Werks in Moskau. Veganz entstand zunächst als eine vegane Supermarktkette. Als die Branche schließlich so sehr boomte, dass vegane Lebensmittel sogar in den Regalen der Discounter angeboten wurden, drohte dem Unternehmen die Insolvenz.  Also schloss Veganz seine Supermärkte und konzentrierte sich ganz auf die Produktion“ erzählt Adrian.

Vor einigen Jahren wollte Adrian sich selbst davon überzeugen, wie der Alltag in einer Fabrik für pflanzliche Lebensmittel aussieht. Also meldete er sich bei der Firma Treiber Tofu, die im Gegensatz zu den Soy Rebels eine Tonne Soja nicht in einem Monat, sondern an einem Tag verarbeitet. Dort arbeiten in jeder Schicht 30 Personen. Adrian frittierte dort einen ganzen Tag lang Tofu-Würfel – dann hatte er genug. „Fließbandarbeit – selbst wenn sie ethisch vertretbar ist – ist einfach nichts für mich“, konstatiert er.

Der Markt für vegane und vegetarische Lebensmittel wächst in Deutschland jedes Jahr um rund 30 Prozent. 2019 überstiegen die Umsätze der Branche erstmals eine Milliarde Euro. Marktstudien belegen, dass Deutschland weltweit führend in der Entwicklung von veganen Innovationen ist. Am interessantesten ist jedoch, dass der Markt für vegane Lebensmittel in den vergangenen Jahren zunehmend von den großen Fleischkonzernen übernommen wird!
 


Die Produkte der Marke Like Meat werden von dem Fleischkonzern Recker Convenience hergestellt, und hinter der Marke Vevia steht sogar der berüchtigte deutsche Wurstfabrikant Tönnies! Im vergangenen Jahr machte die Firma Rügenwälder Mühle mehr Umsatz mit veganen und vegetarischen Produkten als mit herkömmlichen Fleisch- und Wurstprodukten.

„Früher bedeutete die Entscheidung für eine vegane Lebensweise noch ein echtes persönliches Opfer. Pflanzenmilch schmeckte wie Spülwasser, und wenn man eine Pizza bestellte, dann ohne Käse. Wenn ich heute Lust auf den Geschmack von Lachs, Spareribs oder Steak habe, kann ich einfach in den Discounter gehen, wo es ganze Regale mit veganen Ersatzprodukten gibt“, konstatiert Adrian.

Jeder kann einen Beitrag leisten

„»Woher weißt du, dass jemand Vegetarier ist? Weil er es dir sofort erzählt!« – noch vor einigen Jahren habe ich selbst über diesen Witz gelacht. Ich dachte mir, dass Veganer und Vegetarier so viel von ihrer Ernährung reden, damit wir Fleischesser uns schuldig fühlen“, erzählt der 23-jährige Felix, der heute in Erlangen lebt und Medizin studiert.

Bevor er sein Studium aufnahm, arbeitete er ein Jahr lang in einem Krankenhaus als Stationshilfe. Eben dort lernte er zum ersten Mal einen Vegetarier kennen, und weil dieser ebenfalls als Stationshilfe arbeitete, verbrachten die beiden viel Zeit miteinander. Zum ersten Mal hatte er Kontakt zu jemandem, der freiwillig darauf verzichtete, Fleisch zu essen.

Felix war in einem Dorf unweit der Grenze zu Tschechien aufgewachsen und hatte 18 Jahre lang, so wie jeder im Dorf, mehrmals am Tag Fleisch gegessen. Zu Beginn lachte er noch darüber, wenn sein Bekannter in der Krankenhauskantine wieder einmal ein fleischloses Gericht bestellte. „Doch er wehrte unsere Frotzeleien mit Argumenten ab: dass das Essen von Fleisch die Wahrscheinlichkeit erhöhe, an Sklerose oder Krebs zu erkranken, und dass Fleisch Antibiotika enthalte. Eines Tages kehrte ich nach Hause zurück und begann, im Internet nach Gegenargumenten zu suchen“, erinnert sich Felix.

Ein halbes Jahr später versuchte er selbst, einen Monat lang kein Fleisch zu essen. „Das war nicht einfach“, gibt er zu. Vor allem, weil seine Familie diese Entscheidung zunächst für eine Marotte hielt. Doch Felix hielt sogar ganze vier Monate durch. Als er sein Studium aufnahm und von zu Hause auszog, beschloss er, noch einen Schritt weiter zu gehen und auch auf Milch, Käse und Joghurt zu verzichten.

„Damals las ich viel über die Auswirkungen der industriellen Viehzucht auf das Klima. Darüber, dass durch die Herstellung von Tierprodukten mehr CO2 erzeugt wird als durch sämtliche Autos und Flugzeuge! Oder dass für die Herstellung eines Liters Kuhmilch 628 Liter Wasser verbraucht werden! Für die Herstellung eines Liters Sojamilch benötigt man nur 28 Liter Wasser. Jedes Mal, wenn ich auf Fleisch, Käse und Joghurt verzichte, leiste ich einen Beitrag zum Klimaschutz“, argumentiert Felix.

Er bezeichnet sich selbst als Flexitarier: Er isst zweimal im Jahr Fleisch, zweimal im Monat Fisch, und an Wochenenden, wenn er seine Familie besucht, gönnt er sich manchmal ein Stück Käse oder einen Joghurt. „Nach einigen Jahren bemerkte ich, dass auch meine Eltern immer weniger Fleisch aßen. Ich denke, dass es vor allem gesundheitliche Argumente waren, die sie überzeugt haben“, erklärt er.

Aus Umfragen geht hervor, dass es vor allem die jungen Menschen sind, die die vegane Revolution in Deutschland vorantreiben. Ganze 12 Prozent der Deutschen unter 30 Jahren bezeichnen sich selbst als Vegetarier, und 6 Prozent als Veganer. In der Gruppe der Studierenden sind die Zahlen noch deutlicher: Fast 25 Prozent bezeichnen sich selbst als Vegetarier und fast 8 Prozent als Veganer. Während die älteren Generationen vor allem aufgrund von Berichten über die Massentierhaltung und aus gesundheitlichen Gründen den Verbrauch von Fleisch einschränken, stehen bei den jungen Menschen ethische Motive an erster Stelle: die Sorge um die Zukunft unseres Planeten und das Leid der Tiere in den Massenbetrieben.

Elisa beschloss während einer Zugfahrt von Stuttgart nach München, endgültig auf den Konsum von Fleisch zu verzichten. Damals sah sie sich den Dokumentarfilm „Cowspiracy“ an, der die Umweltauswirkungen der Produktion tierischer Lebensmittel beleuchtet. Ihren Eltern erzählte sie erst zwei Monate später von ihrer Entscheidung. Sie waren wenig begeistert – ihr Vater warnte sie sogar, sie solle bloß nicht auf die Idee kommen, Veganerin zu werden! Doch Elisa war gerade wegen des Studiums von zu Hause ausgezogen und konnte selbst entscheiden, was sie einkaufte. Eineinhalb Jahre später beschloss sie, auf jegliche Produkte tierischer Herkunft zu verzichten.

„Ich lebe vegan, weil ich nicht zur Emission von Treibhausgasen beitragen will. Außerdem bin ich der Meinung, dass ich nicht das Recht habe, ein Tier zu töten“, erklärt Elisa, die sich so sehr für das Thema Klimaschutz interessiert, dass sie sogar ein Studium in dieser Richtung aufgenommen hat. Menschen, die ihr Naivität vorwerfen und sagen, es bedürfe systemischer Veränderungen, entgegnet sie: Das eine schließt das andere ja nicht aus! Sie verweist die Zweifler auf eine Website, auf der jeder seine persönliche CO2-Bilanz ermitteln kann [footprintcalculator.org]. Der Umstieg zu einer veganen Lebensweise trägt entscheidend zur Verbesserung dieser Bilanz bei.

„Ich habe den Eindruck, dass mehr Menschen durch die Klimakrise dazu gebracht werden, ihre Ernährung umzustellen, als durch die Missstände in der industriellen Tierhaltung, die schließlich schon seit Langem bekannt sind“, erklärt Elisa. „Vielleicht deshalb, weil die Klimadiskussion weniger von Emotionen und Schuldgefühlen geprägt ist?
 
***
Friedrich Mülln ist seit 25 Jahren Veganer. Dadurch hat er nach eigener Rechnung 458 Hühnern, 2,5 Rindern oder 13 Schweinen das Leben gerettet.

Adrian hat keine Befürchtungen, dass die Existenz der Soy Rebels durch den Vorstoß der großen Fleischkonzerne auf den Veganmarkt gefährdet sein könnte. Er macht sich mehr Sorgen wegen der hohen Strompreise.
In einigen Tagen wird Felix ein Steak von einem Hirsch essen, den der Vater einer Kommilitonin auf der Jagd erlegt hat. Er sagt, dass der Hirsch im Gegensatz zu den Rindern in den Massenbetrieben wenigstens ein gutes Leben gehabt habe.

Elisa absolviert derzeit ein Auslandsstipendium in Schweden. Um ihre CO2-Bilanz nicht zu sehr zu belasten, reist sie, wenn sie ihre Eltern in der Nähe von Frankfurt besuchen will, 12 Stunden mit dem Zug.
* Die verwendeten Statistiken stammen von der Website des Statistischen Bundesamtes destatis.de, dem Statistikportal statista.com und der Website für Nachhaltigkeit und Veganismus veganivore.de.
 

Oto Niemcy (DAS IST DEUTSCHLAND)

Dieser Artikel gehört zu einer Reihe von Reportagen „Oto Niemcy“ (Das ist Deutschland), die das Goethe-Institut gemeinsam mit dem Magazin Weekend.gazeta.pl veröffentlicht.

 

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