Nachhaltigkeit und Komfort
Wie durchbricht man ein überökonomisiertes Nachhaltigkeitsdenken? Wie etabliert man Standards, die die Beschränkungen unseres Planeten und das menschliche Wohlbefinden in stärkerem Maße berücksichtigen? Wie bringt man Fortschritt und Glück unter einen Hut? Wir haben in zwei kürzlich veröffentlichten Publikationen nach Antworten auf diese Fragen gesucht. Die eine ist der neueste Monitoringbericht von Eurostat über die Fortschritte der EU bei der Erreichung der 17 Nachhaltigkeitsziele[1]. Die andere ist der World Happiness Report des Sustainable Development Solutions Networks[2].
Von Maciej Frąckowiak
Der Bericht über die Verwirklichung der Nachhaltigkeitsziele verweist auf die noch immer zu langsamen Fortschritte bei der Abkehr von einem Komfortbegriff, der sich in einem unkontrollierten Verbrauch von Ressourcen (Energie, Materialien und Böden) sowie in einer Zerstörung der biologischen Vielfalt und der öffentlichen Gesundheit äußert. Der Bericht verweist auf die Kosten der bisher verfolgten Strategien, unter anderem die Verluste durch extreme Wetterphänomene. Er signalisiert deutlich, dass wir heute nicht mehr von Komfort sprechen können, ohne uns der vorhandenen Ungleichheiten bewusst zu sein und die Mechanismen wahrzunehmen, die den Komfort der einen systematisch auf Kosten der anderen hervorbringen. Neben dem individuellen Gefühl der Freiheit von Sorgen müssen somit auch die Daten zu den Themen Armut, Hunger, Kälte, Obdachlosigkeit, Geschlechterungleichheit und Artensterben berücksichtigt werden, ebenso wie die die Beiträge zur Forschung und zur Entwicklung sowie der allgemeine Bildungsstandard. Ohne diese Bemühungen wird es kaum möglich sein, Fortschritte zu erzielen sowie nachhaltige Konzepte und die mit ihnen verbundenen Technologien zu etablieren.
Die Überschriften im ersten Teil der vorliegenden Abhandlung entsprechen den 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung. Wir haben einige der Statistiken ausgewählt, die dazu verwendet werden, um die Fortschritte bei der Erreichung dieser Ziele zu überwachen – eben jene, die unserer Ansicht nach am meisten mit dem Begriff Komfort zu tun haben. Einige der von uns ausgewählten Nachhaltigkeitsindikatoren mögen sehr speziell wirken, sie erscheinen uns jedoch wichtig, um auf die Komplexität dieses Phänomens hinzuweisen und zum Nachdenken anzuregen. Erfordert allgemeines Glück tatsächlich eine Abkehr vom Streben nach Komfort? Oder sollten wir lieber einfach aufhören, es mit individueller Ausschweifung gleichzusetzen?
Wir ergänzen die Materialien zum Thema Nachhaltigkeit mit dem World Happiness Report des Gallup-Instituts. Die Autoren sind der Ansicht, dass dieser Bericht eine wichtige Ergänzung zu dem internationalen Projekt der Überwachung der Nachhaltigkeitsziele darstellt. Der Begriff Glück erscheint in diesem Zusammenhang als ein komplexer Indikator: eine Kombination aus Einkommen, Gesundheit, sozialer Unterstützung, Freiheit, Großzügigkeit und der Abwesenheit von Korruption. Ein so verstandener Glücksbegriff kann sich als eine starke Motivation zum nachhaltigen Handeln erweisen. Es geht somit gar nicht darum, aus einem Gefühl der Aufopferung nachhaltig zu handeln, sondern eher darum, woanders nach Begeisterung und Energie für ein solches Handeln zu suchen.
KEINE ARMUT
21,7% der Menschen in der EU waren 2021 von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht
* Im Vergleich zu 2016 sank diese Zahl um 7,9% (von 103,6 auf 95,4 Millionen EU-Bürger). Gleichzeitig verringert sich die Zahl der betroffenen Personen jedoch nicht so schnell wie erwartet.
8,9% der Arbeitnehmer in der EU sind von Erwerbsarmut bedroht
* Die Zahl der Erwerbsarmen stieg zwischen 2010 und 2021 um 0,4%.
KEIN HUNGER
9,1% der landwirtschaftlichen Fläche in der EU wurden 2020 ökologisch bewirtschaftet
* Dieser Anteil stieg im Vergleich zu 2015 um 2,5%, liegt jedoch unter den Erwartungen (bis 2030 soll dieser Anteil 25% betragen).
Zwischen 2006 und 2021 sank die Zahl der Feldvögel in der EU um ein Fünftel
* Zwischen 1990 und 2021 sank diese Zahl um 35,9%. Dies ist ein deutliches Anzeichen für die Abnahme der Biodiversität.
GESUNDHEIT UND WOHLERGEHEN
Die durchschnittliche Lebenserwartung für Kinder, die 2020 geboren wurden, liegt bei 64 Jahren
* Dieser Mittelwert sank seit Beginn (2019) um ein halbes Jahr. Auffällig ist auch, dass die Unterschiede zwischen den Lebenserwartungen der Menschen in den einzelnen EU-Ländern bis zu 19,3 Jahre betragen.
17,6% der EU-Bürger fühlten sich 2020 durch Straßenlärm oder Geräusche der Nachbarn belästigt
* Die Autoren des Berichts verweisen darauf, dass die Belästigung durch Lärm die Lebenszufriedenheit und das subjektive Wohlbefinden deutlich verringert (Eurostat 2023, S. 75). Die Anzahl der Personen, die sich durch Lärm belästigt fühlen, sank seit 2010 um 3%.
HOCHWERTIGE BILDUNG
93% der Kinder in der EU besuchten 2020 Einrichtungen der frühkindlichen Bildung und Betreuung
* Dieser Anteil steigt zwar, jedoch langsamer als erwartet. Dieser Indikator verdient besondere Beachtung, weil er nicht nur einen Einfluss auf die zukünftige Entwicklung und den Bildungserfolg von Kindern hat, sondern auch auf ihr Wohlbefinden.
11,9% der EU-Bürger im Alter von 25 bis 64 nutzten 2022 Angebote der Erwachsenenbildung
* Dieser Anteil ist bei Frauen und Einwohnern von Großstädten höher.
GESCHLECHTERGLEICHHEIT
Das Geschlechtergefälle bei der Beschäftigung betrug 2022 in der EU 10,7%
Männer verdienten 2021 im Durchschnitt 12,7% mehr als Frauen
SAUBERES WASSER UND SANITÄREINRICHTUNGEN
1,5% der EU-Bürger hatten 2020 keine sanitären Anlagen bei sich zu Hause
* Dieser Anteil sinkt kontinuierlich (vor zehn Jahren betrug er noch 2,2%).
78,2% der Badestellen im Inland der EU wiesen 2021 eine ausgezeichnete Wasserqualität auf
* Dieser Anteil betrug 2016 82,1% und 2020 77,7%.
BEZAHLBARE UND SAUBERE ENERGIE
Der Primärenergieverbrauch ist seit 2006 um 13,4% gesunken
* Die Vergleichsdaten stammen aus dem Jahr 2021. Der Rückgang ist zwar deutlich, liegt jedoch unter den Erwartungen.
6,9% der EU-Bürger waren 2021 nicht in der Lage, ihre Wohnung angemessen zu heizen
* Dieser Wert sank im Vergleich zu 2012 um 11,2%. Diese Daten berücksichtigen nicht die durch den Krieg in der Ukraine ausgelöste Energiekrise.
NACHHALTIG WIRTSCHAFTEN ALS CHANCE FÜR ALLE
Das durchschnittliche reale Pro-Kopf-BIP betrug 2022 in der EU 28 820 Euro.
* Das sind 3,3% mehr als im Vorjahr.
2020 wurden in der EU 6,11 Mrd. Tonnen weltweit geförderte Rohstoffe verbraucht
* Dies ist der niedrigste Wert seit 20 Jahren. Verantwortlich für diesen Rückgang ist die durch die Corona-Pandemie ausgelöste Rezession.
INDUSTRIE, INNOVATION UND INFRASTRUKTUR
2,26% des BIP wurden 2021 in der EU in Forschung und Entwicklung investiert
* Diese Investitionen steigen langsamer als erwartet und sind im Vergleich zu 2020 sogar leicht zurückgegangen. Diese Entwicklung ist bedenklich, denn ohne Innovationen wird es schwieriger werden, die notwendigen Technologien für eine nachhaltige Wirtschaft und Energiegewinnung zu entwickeln.
12,8% der Personenkilometer wurden 2020 mit Bussen und Bahnen zurückgelegt
* Dieser Anteil sank im Vergleich zu 2019 um 5%, wahrscheinlich im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie.
WENIGER UNGLEICHHEITEN
Die einkommenschwächsten 40% der EU-Bevölkerung hatten 2021 einen Anteil von 21,3% Prozent am Gesamteinkommen
Die Unterschiede im Haushaltseinkommen zwischen den einzelnen EU-Mitgliedsländern betrugen 2021 24,2%
* Einerseits ist dieser Wert seit 2006 um fast 10% gesunken, andererseits gibt es laut den EU-Statistikern nach wie vor ein starkes Gefälle zwischen den nordwestlichen und den südöstlichen Mitgliedsstaaten.
NACHHALTIGE STÄDTE UND GEMEINDEN
4,3% der EU-Bürger waren 2020 von Wohnungsnot betroffen
* Dieser Anteil ist seit 2010 um 1,8% zurückgegangen. Die Betroffenen leben zum Beispiel in überbevölkerten oder zu dunklen Wohnungen oder haben keinen Zugang zu grundlegender Infrastruktur.
Die Siedlungsfläche pro Kopf betrug 2018 in der EU 703,4 m2
* Dieser Wert ist seit 2015 um 3,3% gestiegen.
NACHHALTIG PRODUZIEREN UND KONSUMIEREN
Der Sektor der Umweltgüter und -dienstleistungen erwirtschaftete 2020 in der EU 300,1 Mrd. Euro
* Die EU-Statistiker weisen darauf hin, dass die Bruttowertschöpfung des grünen Sektors in diesem Pandemie-Jahr um fast 2% stieg, während das BIP der EU-Staaten um 5,6% zurückging.
2020 fielen in der EU 4813 Kilogramm Abfälle pro Einwohner an
* Dieser Wert ist seit 2016 um fast 5% gesunken, wahrscheinlich im Zusammenhang mit der Pandemie.
WELTWEIT KLIMASCHUTZ UMSETZEN
Die Emission von Treibhausgasen wurde zwischen 2016 und 2021 um 8,9% reduziert
* Auch in diesem Bereich ist der Einfluss der Corona-Pandemie spürbar (2021 wurden noch 6% mehr Treibhausgase produziert als 2020).
Die durch Extremwetter verursachten wirtschaftlichen Verluste betrugen zwischen 1980 und 2021 in der EU 559,8 Mrd. Euro
LEBEN UNTER WASSER SCHÜTZEN
1% der Meeresgewässer der EU wurden 2022 als eutrophiert eingestuft
* Eutrophierte Gewässer zeichnen sich durch Sauerstoffmangel und stark schwankende Chlorophyllgehalte aus.
Der Fischereidruck wurde in den EU-Gewässern zwischen 2005 und 2020 um 37% reduziert
LEBEN AN LAND
43,5% der Landfläche der EU waren 2018 mit Wald oder Waldland bedeckt
* Dieser Anteil ist seit 2015 leicht (um fast 1%) gestiegen.
Die Schmetterlingspopulation sank zwischen 2005 und 2020 in der EU um fast 25%
* In den letzten Jahren ging die Population sogar noch stärker zurück als in den Jahren zuvor (zwischen 2015 und 2020 um fast 30%)
WELCHE FAKTOREN BEEINFLUSSEN UNSER GLÜCK?
Eine wichtige Rolle bei der Bewertung des eigenen Lebens spielen Einkommen, Gesundheit, soziale Unterstützung und Freiheit beim Treffen von Lebensentscheidungen, aber auch Großzügigkeit und die Abwesenheit von Korruption (WHR+23, S. 8)
POLEN IM WORLD HAPPINESS REPORT
Glücksindex: 6,2
* Der Glücksindex wird anhand von sechs Kernvariablen gemessen: Pro-Kopf-BIP, eine gesunde Lebenserwartung, soziale Unterstützung, die Freiheit beim Treffen von Lebensentscheidungen, Großzügigkeit und Abwesenheit von Korruption (der maximale Wert des Index beträgt 10).
Rang 39
* Es wurden 139 Ländern bewertet. Auf dem ersten Platz befand sich Finnland (mit einem Mittelwert von 7,8 für die Jahre 2020–2022), auf dem letzten Afghanistan (mit einem Mittelwert von 1,9).
DIE GLÜCKS-AGENDA
1. Eine Gesellschaft kann nur dann ein hohes Maß an allgemeiner Lebenszufriedenheit erfahren, wenn ihre Mitglieder prosozial, gesund und wohlhabend sind. Wenn sie also ein hohes Maß dessen aufweisen, was Aristoteles einst als Eudaimonie bezeichnete. Auf gesellschaftlicher Ebene gehen Lebenszufriedenheit und Eudaimonie also Hand in Hand.
2. Auf der individuellen Ebene kann es jedoch Unterschiede geben. Wie die Daten zeigen, erhöht großzügiges Verhalten in der Regel das Glück des Gebers (und auch des Empfängers). Und doch gibt eine große Zahl von tugendhaften Menschen, darunter auch Pfleger, die unzufrieden mit ihrem Leben sind.
3. Wenn wir eine Gesellschaft, eine Situation oder eine Politik bewerten, sollten wir nicht nur darauf achten, welch durchschnittliches Glück sie (auch für zukünftige Generationen) hervorbringt, sondern auch besonders das aus ihr resultierende Ausmaß des Elends (also eine niedrige Lebenszufriedenheit) berücksichtigen. Um solches Elend zu verhindern, sollten Regierungen und internationale Organisationen Rechte begründen, so wie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Sie sollten darüber hinaus auch die Nachhaltigkeitsziele erweitern und die Dimensionen Wohlbefinden und Umweltschutz gemeinsam abwägen, um das Glück zukünftiger Generationen zu sichern. Diese Rechte und Ziele stellen wichtige Werkzeuge dar, um heute und in Zukunft das Glück der Menschen zu erhöhen und das Elend zu verringern.
4. Sobald Glück als ein Regierungsziel akzeptiert wird, ergeben sich daraus andere weitreichende Konsequenzen für institutionelle Praktiken. Gesundheit, insbesondere psychische Gesundheit, erhält eine noch höhere Priorität, ebenso wie Arbeitsqualität, Familienleben und Gemeinschaft.
5. Auch auf die Forscher kommen große Herausforderungen zu. Sämtliche Regierungsstrategien sollten hinsichtlich des von ihnen generierten Wohlbefindens (pro ausgegebenem Dollar) bewertet werden. Und die Förderung von Tugenden sollte zu einem wichtigen Gegenstand der Forschung werden.
* Übersetzt aus: J. F. Helliwell, R. Layard, J. D. Sachs et al. (Red.): World Happiness Report 2023 (11. Ausgabe), Sustainable Development Solutions Network, 2023, S. 2.
Publikation mit freundlicher Genehmigung der Fundacja Bęc Zmiana, der Text erschien in Notes na 6 tygodni Nr. 148.
Das Labor für Glücksforschung. Das Leben nach dem Komfortozän
Ein künstlerisch-wissenschaftliches Projekt, das Akteure aus den Bereichen Kunst, Wissenschaft, Design, Technologie und Wirtschaft zusammenbringt. Themen: eine Zukunft mit eingeschränktem Komfort, Stadtökologie, die Wirtschaft der Zukunft, die Suche nach Quellen des Optimismus, spekulatives Denken als Motor des Fortschritts und die Bewältigung von Krisen und Knappheiten.
Ein Projekt des Goethe-Instituts, der NGO Bęc Zmiana und des Zentrums für Kunst und Urbanistik (Berlin) mit Unterstützung der Stadt Warschau, der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit und der Heinrich-Böll-Stiftung in Warschau.
Wissenskoproduktion:
Die Akademie der Bildenden Künste in Katowice, BWA Wrocław Galerie Sztuki Współczesnej, das Institut für Stadtkultur (Instytut Kultury Miejskiej) in Gdańsk, der Verband Media Dizajn (Szczeciński Inkubator Kultury) und die Galerie Arsenał in Białystok.
www.postkomfortocen.info
[1]
[1] https://ec.europa.eu/eurostat/en/web/products-flagship-publications/w/ks-04-23-184.
[2]
[2] Der Bericht wurde von J.F. Helliwell, R. Layard, J.D. Sachs, J.E. De Neve, L.B. Aknin und S. Wang verfasst. Eine Beschreibung des Projekts, ein Archiv und eine interaktive Datenbank sind auf der Website https://worldhappiness.report/ verfügbar.