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Polinnen und Polen in Deutschland
Von Hobbys und guter Nachbarschaft

3 Personen, Händedruck
© Zdjęcie (fragment) Colourbox

Gegenwärtig leben rund 890.000 polnische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger in Deutschland. Über die Hälfte von ihnen wanderten nach dem Jahr 2011 ein, als der deutsche Arbeitsmarkt für Arbeitskräfte aus Polen geöffnet wurde. Zusätzlich haben über 1,5 Millionen Deutsche einen polnischen Migrationshintergrund. Mit insgesamt über 2,2 Millionen Migrantinnen und Migranten und ihren Nachkommen bilden Polinnen und Polen – nach Migrantinnen und Migranten aus der Türkei – die zweitgrößte Einwanderergruppe in Deutschland.

Von Magda Roszkowska

OLA: DIE MEISTEN MEINER FREUNDINNEN STAMMEN AUS POLEN

Vor siebeneinhalb Jahren stieg Ola am Berliner Hauptbahnhof aus dem Zug – mit dem festen Entschluss, sich ein neues Leben aufzubauen. Sie war 27 Jahre alt, hatte Freunde und eine Wohnung in Warschau und arbeitete für ein Marktforschungsinstitut. Ihr polnischer Chef hatte ihr erlaubt, im Homeoffice zu arbeiten, 550 Kilometer entfernt von ihrem Büro. Ola sprach zwar Deutsch, hatte jedoch keinen einzigen Bekannten in Berlin. „Ich hatte schon immer davon geträumt, wie es wohl wäre, im Ausland zu leben und ganz von vorn anzufangen. Es war eine Herausforderung für mich – ohne den ganz großen Druck, es unbedingt schaffen zu müssen. Wenn es mir schlecht ging, wusste ich, dass ich nur sechs Stunden mit dem Zug von zu Hause entfernt war“, erinnert sie sich. Vor ihrer Abfahrt aus Warschau hatte Ola sich auf der Internetplattform WG-Gesucht nach einem Zimmer in Berlin umgesehen. „Am leichtesten findet man in Berlin ein Zimmer für wenige Monate – von Mieterinnen und Mietern, die ein Auslandsstipendium absolvieren oder für längere Zeit verreisen wollen, ohne ihren Mietvertrag zu kündigen. Aufgrund des Mieterschutzes dürfen Vermieter Mieten aus bestehenden Verträgen nur bis zu einer bestimmten Grenze erhöhen. Wer seinen Mietvertrag bereits vor vielen Jahren abgeschlossen hat, zahlt für eine vergleichbare Wohnung deutlich weniger als jemand, der gerade erst eingezogen ist. Also möchte jeder seinen bestehenden Mietvertrag behalten“, erklärt Ola. „Ich habe in meinen siebeneinhalb Jahren in Berlin sechsmal die Wohnung gewechselt, was bei der derzeitigen Wohnsituation in Berlin keine Seltenheit ist. „Ich habe mich daran gewöhnt. Auf diese Weise hat man auch die Gelegenheit, die Stadt und die Menschen näher kennenzulernen. Ich habe mich jedoch nicht mit allen meinen Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern gut verstanden. Wirklich angefreundet habe ich mich nur mit einer Frau aus Kolumbien“, erzählt Ola. Sie sagt offen, dass es ihr nicht leicht fiel, neue Bekanntschaften zu schließen. Sie trat unterschiedlichen Social-Media-Gruppen bei und nutzte Apps wie MeetMe und Yubo, um Menschen mit ähnlichen Interessen zu finden. „Viele dieser Bekanntschaften waren eher oberflächlich, manche beschränkten sich auf ein einziges Treffen. Meine engsten und langjährigsten Freundinnen sind allesamt Polinnen“, erklärt Ola.

Schließlich kündigte Ola ihren polnischen Arbeitsvertrag und begann, für ein deutsches Medienunternehmen zu arbeiten. Das Unternehmen hatte ein Büro in Berlin und seinen Hauptsitz in Süddeutschland. „Die Teilnahme an den Unternehmenskonferenzen war für mich ein echter Kulturschock“, erzählt sie. „In Berlin hatte ich nie das Gefühl, anders wahrgenommen zu werden, nur weil ich nicht von hier stammte. In der Unternehmenszentrale war das plötzlich anders. Es wurde nie offen ausgesprochen, aber ich hatte das Gefühl, dass diese Tatsache meine Aufstiegsmöglichkeiten in der Firma beeinflusste. Seit diesem Jahr arbeite ich für ein anderes Unternehmen, in einem international geprägten Umfeld.“

„Es gibt viele Dinge, die mir in Deutschland fehlen: Pierogi, Quark und homogenisierter Käse“, zählt Ola auf. „In Polen würde ich bestimmt die deutsche Krankenversicherung vermissen. Seit ich hier lebe, habe ich noch keinen einzigen Euro für Arztbesuche ausgegeben. In Polen hatte mein Arbeitgeber eine Absprache mit einer privaten Klinik, und ich musste sämtliche Arztbesuche selbst bezahlen. In Deutschland musste ich nur einen Hausarzt finden, und der Rest war ganz einfach.“

Ola weiß, wovon sie spricht, denn sie hatte in Deutschland bereits zwei Operationen. „Es war fast schon lustig: Vor einigen Jahren hatte ich eine Operation in Polen und musste den ganzen Tag auf einen Anästhesisten warten. Und ich Deutschland wurden meine beiden Narkosen von einem Anästhesisten aus Polen durchgeführt!“

Berlin © Colourbox

POLNISCHE EINWANDERUNG IN ZAHLEN

Die Nachkriegsemigration aus Polen in die Bundesrepublik Deutschland begann bereits in den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts. Die meisten der damaligen Zuwanderinnen und Zuwanderer beriefen sich dabei auf ihre deutschen Wurzeln. Paradoxerweise entschieden sich die meisten – über 800.000 – von ihnen erst in den 1980er-Jahren zur Aussiedlung aus Polen. Aufgrund der politischen Unterdrückung und schwierigen Wirtschaftslage kamen in jener Zeit noch zahlreiche polnische Flüchtlinge hinzu. Manche Schätzungen gehen davon aus, dass in den 1980er-Jahren bis zu 850.000 Polinnen und Polen in die Bundesrepublik Deutschland einwanderten. Ein Teil von ihnen kehrte nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in die Heimat zurück. In den 1990er-Jahren kam es zu einem deutlichen Rückgang der Einwanderungszahlen: Nur 60.000 Polinnen und Polen wanderten in diesem Jahrzehnt nach Deutschland aus. Dafür stieg die Zahl der Saisonarbeiterinnen und Saisonarbeiter, insbesondere in der Landwirtschaft, in der Gastronomie und im Hotelwesen. Der polnische EU-Beitritt im Jahr 2004 änderte nur wenig an dieser Situation, denn der deutsche Arbeitsmarkt blieb für polnische Arbeitskräfte bis 2011 weitgehend geschlossen. Seit dem Jahr 2011 wandern jedes Jahr Zehntausende von Polinnen und Polen nach Deutschland aus, die meisten von ihnen (circa 100.000) im Jahr 2015.

Fahnen © Colourbox

IGA: WIR WOLLTEN GERNE IM AUSLAND LEBEN

„Wenn ich heute daran denke, kommt mir unser ganzer Umzug völlig verrückt vor: Ich war hochschwanger, hatte ein eineinhalbjähriges Kind, und wir hatten keine Unterstützung vor Ort“, erzählt Iga. „Aber in Posen hatte uns die Midlife-Crisis erwischt. Wir hatten uns gefragt: Soll das jetzt alles sein? Dabei waren wir erst 31 Jahre alt. Dann fand mein Mann einen Job in Berlin, und ich konnte vom Homeoffice aus für eine polnische Firma arbeiten. Das war 2012 – ein Jahr nach der Öffnung des deutschen Arbeitsmarkts für polnische Arbeitskräfte. Wir hatten uns vorgenommen, nur fünf Jahre in Deutschland zu bleiben, alles auszukosten und anschließend nach Polen zurückzukehren. Doch im Grunde fing unser Leben hier erst nach fünf Jahren so richtig an“, fügt sie hinzu.

Iga und ihr Mann leben jetzt bereits zwölf Jahre in derselben Wohnung in Berlin und haben keine Pläne, nach Polen zurückzukehren. Der Anfang war jedoch nicht leicht. Ihr Sprachzertifikat B2 erwarben sie noch vor ihrer Abfahrt aus Posen. „Wir dachten, wir würden prima zurechtkommen, doch vor Ort erwies sich, dass wir uns zwar einigermaßen verständigen konnten, aber längst nicht alles verstanden und oft ins Stammeln gerieten“, erinnert sie sich. Außerdem nahm der Papierkram einfach kein Ende, und Iga und ihr Mann mussten ständig bei irgendwelchen Ämtern vorsprechen. Iga benötigte dringend eine deutsche Krankenversicherung, denn der Geburtstermin rückte immer näher. Zum Glück fand sich jedoch eine hilfreiche Mitarbeiterin, die persönlich bei der Krankenkasse anrief und das Verfahren aufgrund der fortgeschrittenen Schwangerschaft beschleunigte. „Ich habe mein erstes Kind in Posen und mein zweites in Berlin zur Welt gebracht, ich kann also vergleichen. Im Grunde war ich mit beiden Geburten zufrieden. Es gab jedoch einige kleine, aber entscheidende Unterschiede. In Deutschland kam jeden Morgen die Stationshilfe ins Zimmer und summte leise »Guuuten Mooorgen«. Sie schaltete ein kleines Licht an, um niemanden zu stören, und begann, leise den Boden zu wischen. Die polnische Stationshilfe rauschte jeden Morgen um sechs Uhr ins Zimmer, schaltete die Neonbeleuchtung ein und verkündete das Ende der Nachtruhe. Ich weiß auch noch, wie ich mich in Deutschland darüber wunderte, dass jeder Arzt und jede Krankenpflegerin sich mir persönlich vorstellte und mich darüber informierte, was als Nächstes passieren sollte. In Polen kam einfach irgendjemand im weißen Kittel und tat, was er für richtig hielt. Es kann natürlich sein, dass sich in den vergangenen zwölf Jahren auch in Polen vieles verändert hat“, räumt Iga ein.

Ich habe mein erstes Kind in Posen und mein zweites in Berlin zur Welt gebracht, ich kann also vergleichen. Im Grunde war ich mit beiden Geburten zufrieden.

Nach der Geburt erhielt sie von der Krankenschwester eine Checkliste für Eltern und Kinder. „Ich besuchte auch eine Krabbelgruppe. Wir wohnten jedoch in einem Stadtteil, in dem nur wenige Ausländer lebten, also versuchte ich, mit den jungen deutschen Müttern ins Gespräch zu kommen. Sie sprachen jedoch kaum Englisch und hatten auch – wofür ich volles Verständnis habe – keine große Lust, mir Deutsch beizubringen. Sie wollten sich unbeschwert unterhalten, und das war mit mir nicht ganz einfach“, erklärt Iga. Sie erzählt, dass ihre ersten sozialen Misserfolge sie sehr deprimierten. Sie lebte erst wieder auf, als sie Bekanntschaften mit Polinnen, Tschechinnen und schließlich, dank ihrer Arbeit, auch mit Menschen anderer Nationalitäten schloss. „Ich bin studierte Anglistin. Die Möglichkeit, mich auf Englisch zu unterhalten, gab mir mein Selbstvertrauen zurück – und den Glauben daran, dass es auch mit dem Deutschlernen irgendwann klappen würde“, erklärt sie.

Schließlich erwarb Iga ihr Sprachzertifikat C1, doch einen festen Job nahm sie erst an, als ihre Kinder bereits zur Schule gingen. Sie war gezwungen, die Branche zu wechseln, denn als Übersetzerin englischsprachiger Literatur ins Polnische hätte sie in Berlin keine Arbeit gefunden. Also begann sie, als Spezialistin für Online-Kommunikation für verschiedene Berliner Start-up-Unternehmen zu arbeiten. „Es gibt jede Menge Start-ups in Berlin. Sie stellen Mitarbeiter ein, wenn sie Erfolg haben, und entlassen sie hinterher genauso schnell wieder. Als ich das erste Mal entlassen wurde, war ich völlig geschockt. Beim zweiten Mal war ich bereits ganz entspannt, weil ich wusste, dass man in Berlin leicht einen Job findet, wenn man Deutsch spricht und bereits Erfahrungen auf dem deutschen Arbeitsmarkt gesammelt hat“, erzählt Iga.

Inzwischen gehen ihre Kinder bereits auf das Gymnasium. Sie sagt, dass es in den drei öffentlichen Schulen, die ihre Kinder bisher besucht haben, keine Probleme mit Mobbing gab – jegliche Anzeichen von Diskriminierung wurden bereits im Keim erstickt. „Wenn ein Schüler einen Mitschüler beleidigte, warteten die Lehrer nicht ab, wie sich die Situation wohl entwickelte, sondern gingen sofort dazwischen “, sagt Iga. Durch die Schule haben Iga und ihr Mann auch endlich Freundschaften mit Deutschen geschlossen. Man besprach sich mit anderen Eltern wegen Schulausflügen, verabredete Treffen und Übernachtungen – und irgendwann ging alles wie von selbst. „Deutsch ist für uns längst kein Hindernis mehr“, betont Iga. Als ich sie frage, was ihr an Deutschland nicht so sehr gefällt, antwortet sie: „Die Deutschen wissen nur wenig über Polen. Nehmen wir nur einmal den Film »Fucking Berlin«, der auf Netflix verfügbar ist: Der Held des Films ist ein Pole, der Ladja (!) heißt und selbstverständlich obdachlos ist“, beschwert sich Iga – und räumt fairerweise ein, dass Polinnen und Polen vor dem Februar 2022 auch nicht viel mehr über die Ukraine wussten.

Krankenhaus © Colourbox

DIVERS, VERSTREUT UND WENIG INTEGRIERT

Mit insgesamt über 2,2 Millionen Migrantinnen und Migranten und ihren Nachkommen bilden Polinnen und Polen – nach Migrantinnen und Migranten aus der Türkei – die zweitgrößte Einwanderergruppe in Deutschland. Über 1,5 Millionen von ihnen haben die deutsche Staatsbürgerschaft, jedoch einen polnischen Migrationshintergrund. 890.000 von ihnen sind polnische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, von denen über die Hälfte nach dem Jahr 2011 einwanderte, als der deutsche Arbeitsmarkt für Arbeitskräfte aus Polen geöffnet wurde. Von den Einwanderinnen und Einwandern mit polnischer Staatsbürgerschaft bleiben 199.000 ein bis vier Jahre, 140.000 vier bis sechs Jahre und 128.000 zehn bis fünfzehn Jahre in Deutschland. Ein interessanter Unterschied zwischen den Einwanderinnen und Einwanderinnen mit deutscher und polnischer Staatsbürgerschaft betrifft ihr Alter: Die ersteren sind überwiegend 55 bis 60 Jahre, die letzteren 35 bis 40 Jahre alt. Die meisten (786.000) Einwanderinnen und Einwanderer aus Polen leben in Nordrhein-Westfalen. In Niedersachsen, Baden-Württemberg und Bayern leben jeweils zwischen 230.000 und 250.000. Dies verwundert nicht, wenn man bedenkt, dass die polnische Migration nach Deutschland vor 1989 ausschließlich die westlichen und südlichen Bundesländer betraf. Interessanterweise leben allein in Berlin, das ähnlich wie Hamburg und Bremen ein sogenannter Stadtstaat ist, ganze 131.000 polnische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger sowie deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger mit polnischem Migrationshintergrund.
Die polnische Minderheit unterscheidet sich von anderen Minderheiten durch ihre hohe berufliche Aktivität: Über die Hälfte von ihnen erklärt, dass ihre Haupteinnahmequelle eine berufliche Tätigkeit ist. Außerdem nehmen polnische Einwanderinnen und Einwanderer seltener als andere Einwanderergruppen Sozialleistungen in Anspruch. Und doch ist das mittlere Einkommen von Menschen mit polnischem Migrationshintergrund niedriger als das mittlere Einkommen von Nicht-Migrantinnen und -Migranten sowie Migrantinnen und Migranten aus anderen Ländern.

Wissenschaftler wie Michał Nowosielski vom Zentrum für Migrationsforschung der Universität Warschau vertreten die Ansicht, dass die Mitglieder der polnischen Minderheit in Deutschland keine einheitliche Gruppe bilden: „Die einzelnen Migrationswellen unterscheiden sich nicht nur deutlich voneinander, sondern haben untereinander auch wenig Kontakt und gründen bevorzugt eigene Institutionen und Organisationen. Es fällt somit schwer, die polnische Minderheit in Deutschland als eine Gruppe oder eine Gemeinschaft im soziologischen Sinne zu bezeichnen. Es erscheint vielmehr angemessener, den Begriff einer „Gesamtheit“ zu verwenden, der dem schwachen sozialen Zusammenhalt zwischen den polnischen Migrantinnen und Migranten eher gerecht wird.“

Gesellschaft © Colourbox

MIKOŁAJ: ICH MÖCHTE DIE DEUTSCHE STAATSBÜRGERSCHAFT ERLANGEN, WEIL ICH MEHR EINFLUSS HABEN MÖCHTE

Mikołaj hat gerade erfahren, dass die rechtsradikale AfD die Landtagswahl in Thüringen gewonnen hat und bei der Landtagswahl in Sachsen nur 0,4 Prozentpunkte hinter der CDU gelandet ist. Auch in Bayern, dem Bundesland, in dem Mikołaj lebt, liegt die AfD nach Umfragen auf dem zweiten Platz. Mikołajs Nachbarn scheinen erschrockener über diese Tatsache als er selbst. „Ich habe das gleiche bereits vor acht Jahren in Polen erlebt. Jetzt haben die deutschen Wähler gesagt »So nicht!« und warten auf die Antwort der Politiker“, erklärt Mikołaj. Er kam vor zehn Jahren im Rahmen seines Master-of-Laws Studiums nach München, um am Max-Planck-Institut Rechtsfragen im Kontext neuer Technologien zu erforschen. Heute ist er Rechtsanwalt mit Spezialisierung in den Bereichen Datenschutz und Urheberrecht. Nach dem Abschluss seines Studiums absolvierte er ein Praktikum bei einem amerikanischen Konzern und wurde anschließend fest eingestellt. Seit diesem Jahr arbeitet er als Direktor der Rechtsabteilung für ein niederländisches Unternehmen. „Ich fühle mich nicht vollständig integriert, aber es stört mich nicht, denn ich habe als Schlesier ähnliche Erfahrungen in Polen gemacht“, erzählt Mikołaj. Er sagt, dass München eine Stadt voller Widersprüche ist: Einerseits ist es ein Ort für progressive Kunstprojekte und gesellschaftliche Initiativen, andererseits gibt es viele Menschen, die äußerst konservative und manchmal geradezu radikale Ansichten vertreten. Bei einem Firmentreffen sagte eine bayerische Mitarbeiterin offen, dass sie es besser fände, wenn Bayern sich von Deutschland abspalten und mit Österreich zusammenschließen würde“, erzählt Mikołaj. Er sagt, dass Bayern ihn in dieser Hinsicht ein wenig an Krakau erinnert, wo er gelegentlich mit ähnlich absurden Aussagen konfrontiert wurde.

Das Mieten einer Wohnung ist in München, ebenso wie in vielen anderen deutschen Großstädten, ein echter Leidensweg. Man muss darauf achten, sich bei Wohnungsbesichtigungen entsprechend zu präsentieren und den Erwartungen der Vermieter und Mitbewohner entgegenkommen. In seiner ersten Wohnung wohnte Mikołaj mit einem Deutschen mit chinesischen Wurzeln zusammen. Die beiden freundeten sich miteinander an und gingen von da an gemeinsam auf die Suche, wenn es Zeit wurde, eine neue Wohnung zu finden. „Es kam schon mal vor, dass mein polnisch klingender Name für die Vermieter ein Problem darstellte“, erklärt Mikołaj und fügt hinzu: „Mein Freund lernte vor ein paar Jahren eine Deutsche mit afghanischem Migrationshintergrund kennen. Es dauerte über ein Jahr, bis die beiden eine Wohnung gefunden hatten.“ Mikołaj ist überzeugt davon, dass nicht nur ihr Beruf ein mögliches Hindernis darstellte – beide sind im Filmgeschäft tätig und haben kein festes Einkommen –, sondern auch ihre Hautfarbe. „In Polen hätten sie es wahrscheinlich genauso schwer, wenn nicht sogar noch schwerer“, erklärt Mikołaj. Er mag an München, dass die Stadt sehr grün ist und nah an den Bergen liegt – auch wenn es nach wie vor die teuerste Metropole Deutschlands ist.

Mikołaj ist der Meinung, dass die deutsche Liebe zur Ordnung und das starre Festhalten an Regeln zum Teil aus der Struktur der Sprache und der Art und Weise, wie sie an den Schulen gelehrt wird, resultiert. „Wenn du keine deutsche Ausbildung hast – egal, ob du Pole, Italiener oder Inder bist –, beeinflusst dieser Umstand dein ganzes Leben. Ich will aber nicht zu negativ klingen, denn Deutschland ist zu meiner zweiten Heimat geworden. Im kommenden Jahr möchte ich die deutsche Staatsangehörigkeit beantragen, denn ich möchte Verantwortung für das, was ich sage, übernehmen und Einfluss auf meine Umwelt ausüben“, erklärt er.

München © Colourbox

WER AUS POLEN AUSWANDERT, UND WER IN DEUTSCHLAND BENÖTIGT WIRD

Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes wanderten 2023 nur 6935 Polinnen und Polen nach Deutschland ein. Die meisten von ihnen arbeiten nach wie vor als Lagerarbeiter, Bauarbeiter, Schweißer, Klempner, Elektriker und Pflegekräfte für Senioren, doch auch hochspezialisierte Arbeitskräfte, wie Ingenieure, Softwareentwickler, Cyber-Security-Spezialisten, Wissenschaftler, Kreativkräfte und Mitarbeiter aus dem Gesundheitssektor finden in Deutschland Anstellung. 2023 waren in Deutschland circa 2100 polnische Ärzte tätig. Auf der Website einer der führenden polnischen Personalvermittlungsagenturen für medizinische Fachkräfte sind derzeit 62 Stellenangebote für polnische Ärzte aufgelistet. Besonders gesucht sind Anästhesisten, Psychiater und Neurologen.

Während früher das höhere Einkommen der Hauptgrund für die Migration nach Deutschland war, ist es heute zunehmend die Work-Life-Balance, die polnische Arbeitskräfte dazu bewegt, ihre Heimat in Richtung Deutschland zu verlassen.

Ärzt:innen © Fot. (Ausschnitt) Colourbox

HANNA: IN POLEN HÄTTE ICH MICH WAHRSCHEINLICH NIE GETRAUT

„Ich hatte nicht vor, auszuwandern, doch mein Mann wollte gerne seine Karriere vorantreiben. Wir kamen vor zwölf Jahren zum ersten Mal nach Berlin. Als ich klein war, hatte ich hier meine Tante besucht, die einen Deutschen geheiratet und sich später von ihm geschieden hatte. Sie hatte auch eine Tochter. Es war Anfang der 90er-Jahre, und ich schlenderte zum ersten Mal in meinem Leben durch ein Einkaufszentrum. Wenn ich daran zurückdenke, fällt es schwer, nicht sentimental zu werden“, lacht Hanna. Als sie und ihr Mann für ein Jahr nach Berlin kamen, war ihr Sohn gerade einmal zwei Jahre alt. „Den größten Schock erlebten wir, als wir mit unserem Kind durch die Straßen spazierten: Alle lächelten und sprachen uns an. Aber nicht, wie ich es aus Polen kannte: »Warum hat ihr Sohn keine Mütze auf?«, oder »Kann ihr Kind nicht mal ruhig sein?«“, erzählt Hanna. Als sie nach Polen zurückkehrten, war sie fest entschlossen, irgendwann einmal für längere Zeit in Deutschland zu leben. Dann fuhren zweimal sie in die USA. In der Zwischenzeit kam ihre Tochter zur Welt. Als Hannas Mann eine langfristige Anstellung im Ausland suchte, bat Hanna ihn, sich in Berlin zu bewerben. Er erhielt einen Vertrag für sechs Jahre. Als sie dieses Mal nach Berlin zogen, war ihr Sohn acht und ihre Tochter dreieinhalb Jahre alt. Hanna war 32.

Nachdem sie ein Jahr in Berlin gelebt hatte, brachte sie endlich den Mut auf, jenen Teil ihrer Persönlichkeit auszuleben, den sie zuvor unterdrückt hatte. Sie lernte eine Frau kennen, traf sich mit ihr und verliebte sich schließlich. Ihr Mann wusste von Anfang an über alles Bescheid. Er hatte Verständnis für sie. Heute leben sie in derselben Wohnung und erziehen ihre Kinder gemeinsam. Hannas Freundin hat ebenfalls ein Kind. Sie geben sich große Mühe, ihre Patchwork-Familie zusammenzuhalten. „In Polen hätte ich mich wahrscheinlich nie getraut, diesen Schritt zu gehen. Manchmal denke ich, dass ich Polen verlassen habe, weil ich unterbewusst Angst vor Homophobie hatte“, überlegt Hanna und sagt, dass sie in Berlin ähnliche Geschichten von anderen Frauen gehört hat. Sie selbst erhielt einen Arbeitsvertrag für fünf Jahre. „Der Arbeitsvertrag meines Mannes läuft in einem Jahr aus. Wahrscheinlich muss er anschließend nach Polen zurückkehren. In seiner Branche ist es für einen Ausländer praktisch unmöglich, eine Stelle zu finden, die seinen Qualifikationen entspricht“, erklärt Hanna. Sie selbst denkt bereits seit fünf Jahren darüber nach, sich beruflich umzuorientieren. „Für mich ist es am wichtigsten, in Berlin zu bleiben, für meinen Mann ist es wichtiger, in seinem Beruf zu arbeiten“, fügt sie hinzu. Sie haben noch nicht darüber gesprochen, wie ihr Leben in einem Jahr genau aussehen soll. Beide wünschen sich, dass ihre Kinder ihre Ausbildung in Deutschland abschließen. „Sie haben ein wunderbares Leben. Die Schule direkt gegenüber. Freunde. Einen Stadtteil mit Parkanlagen, einem Wald und zwei Seen“, schwärmt Hanna. Als ich sie frage, wie sie mit den Deutschen zurechtkommt, antwortet sie irritiert: „Die Polen beschweren sich immer über die Deutschen, dass sie zu wenig auf uns zugehen. Dabei sind eher wir diejenigen, die sich abgrenzen. Ich habe andere Erfahrungen gemacht: Unsere deutschen Nachbarn vergessen nie die Geburtstage unserer Kinder. Sie geben ihnen Glückwunschkarten und kleine Geschenke. Wir helfen einander im Alltag. Zu Weihnachten veranstalten wir alle ein Konzert und singen gemeinsam“, erzählt Hanna.

In Polen hätte ich mich wahrscheinlich nie getraut, diesen Schritt zu gehen. Manchmal denke ich, dass ich Polen verlassen habe, weil ich unterbewusst Angst vor Homophobie hatte.

Hanna


Sie sagt, dass sie erst in Deutschland verstanden hat, was Gemeinschaftssinn wirklich bedeutet. „Für mich ist die deutsche Vorliebe für Ordnung und Regeln in erster Linie ein Ausdruck der Rücksichtnahme auf andere Menschen“, erklärt sie. Ihrer Ansicht nach treffen sich Deutsche wesentlich häufiger als Polen miteinander, um gemeinsam ihren Hobbys nachzugehen. Und viele Deutsche betätigen sich in Vereinen und Verbänden. „Neulich brachten meine Kinder ein Schimpfwort aus der Schule mit: »Du Hobbyloser!«, weil hier jeder ein Hobby hat. Ich habe in Berlin begonnen, im Chor zu singen und Gitarre zu spielen“, erzählt Hanna. Auch die deutschen Volkshochschulen hält sie für eine tolle Idee. „Du kannst hier alle Sprachen der Welt lernen! Ich besuche zum Beispiel gerade einen Hebräisch-Kurs. Du kannst malen, ein Instrument spielen oder Sport machen. Meine Freundin und ich haben bereits an Volkshochschulkursen zu den Themen Imkern und essbare Wildpflanzen teilgenommen. Das ist für uns auch eine gute Gelegenheit, um Deutsch zu lernen. In diesem Jahr besuchen wir einen Töpferkurs und einen Stickkurs. Und mein Mann hat sich für einen Japanisch-Kurs angemeldet. Zum Beweis dafür, wie wichtig das Thema Gemeinschaft für die Deutschen ist, erzählt Hanna mir noch von einem Friedhof, der in der Nähe ihrer Wohnung liegt. Dort gibt es eine Wiese, auf der man die Asche seiner Angehörigen verstreuen kann. „Weißt du, wie diese Wiese heißt?“, fragt sie mich.
„Ruhegemeinschaft“.

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