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Hausarztmedizin in Deutschland und Polen
Landärzte gesucht

leeres Ärztehaus
© Colourbox

Bis zum Jahr 2035 werden in Deutschland 11.000 Hausärztinnen und Hausärzte fehlen – rund 40 Prozent aller Landkreise werden demnach unterversorgt oder von Unterversorgung bedroht sein. Währenddessen beträgt das Durchschnittsalter der Ärztinnen und Ärzte in Polen 55 Jahre, und diese Tatsache wird sich in den kommenden Jahren zunehmend bemerkbar machen.

Von Magda Roszkowska

„Die meisten meiner Studienkollegen träumen von einer Anstellung in einem Krankenhaus oder einem Ärztezentrum in einer größeren deutschen Stadt. Ich habe andere Pläne: Ich würde gerne Hausarzt auf dem Land werden“, erklärt Jan, der im fünften Jahr Medizin an der Universität Erlangen studiert.

Mitte April forderte der deutsche Gesundheitsminister Karl Lauterbach, 5.000 zusätzliche Medizinstudienplätze einzurichten. „Wir haben 50.000 Ärztinnen und Ärzte in den letzten zehn Jahren nicht ausgebildet. Daher werden uns in den nächsten Jahren flächendeckend die Hausärztinnen und Hausärzte fehlen“, warnte der SPD-Politiker im ARD-„Bericht aus Berlin“. Und eine 2023 veröffentlichte Studie der Robert Bosch Stiftung prognostizierte, dass bis zum Jahr 2035 in Deutschland 11.000 Hausärztinnen und Hausärzte fehlen und rund 40 Prozent aller Landkreise unterversorgt oder von Unterversorgung bedroht sein werden.

Dabei stieg die Zahl der berufstätigen Ärztinnen und Ärzte in Deutschland nach Angaben des Statistischen Bundesamts in den letzten 35 Jahren um 65 Prozent an: von 238.000 im Jahr 1990 auf 428.000 im Jahr 2023. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung unterstreicht jedoch, dass der Bedarf an medizinischer Versorgung trotz der steigenden Ärztezahlen dramatisch zunimmt. Die deutsche Gesellschaft wird immer älter. Auch die Ärzte: 2009 waren 22 Prozent der Hausärztinnen und Hausärzte in Deutschland über 60 Jahre alt, inzwischen sind es über 35 Prozent.
 

Wir haben 50.000 Ärztinnen und Ärzte in den letzten zehn Jahren nicht ausgebildet.

Der deutsche Gesundheitsminister Karl Lauterbach



In den ländlichen Gegenden ist die Versorgungslücke am größten. In Baden-Württemberg fehlen derzeit 960 Hausärzte. In 92 der 103 Planungsbereiche, in die das Land unterteilt ist, bleiben Hausarztstellen unbesetzt. Im benachbarten Bayern sind aktuell 443 Hausarztsitze offen – und schon in fünf Jahren soll sich diese Zahl verdreifachen.

Im letzten Sommer zog Jan für vier Wochen nach Dietramszell, eine 50 Kilometer südlich von München gelegene 6.000-Einwohner-Gemeinde im Bayerischen Oberland. „In Deutschland muss jeder Medizinstudent nach dem vierten Semester vier einmonatige Praktika in unterschiedlichen medizinischen Bereichen absolvieren, davon auch eines in einer Hausarztpraxis“, erklärt Jan. Er erzählt mir, dass er sich vor allem aufgrund der interessanten Umgebung für Dietramszell entschieden hatte. „Viel Zeit für Bergwanderungen hatte ich allerdings nicht, nur an den Wochenenden“, erinnert er sich. Jan hatte einfach eine E-Mail an die niedergelassene Ärztin geschrieben, und die hatte ihm sofort geantwortet, er könne gerne kommen. „Früher hatte es zwei Hausärzte in der Praxis gegeben. Doch das eine Sprechzimmer stand schon seit Jahren leer. Nach dem ersten Tag erklärte mir die Ärztin, ich solle darin Patienten empfangen“, erzählt er weiter. Vier Wochen lang empfing Jan Patienten, untersuchte sie und stellte vorläufige Diagnosen. Anschließend konsultierte er die Ärztin und wählte gemeinsam mit ihr eine geeignete Behandlung aus.

Außer Jan waren in der Praxis noch vier weitere Personen beschäftigt: eine Empfangskraft und vier Arzthelferinnen, von denen eine speziell für die Behandlung älterer Patientinnen und Patienten ausgebildet war. „Die Sprechzeiten waren Montag bis Freitag von 8 bis 12 Uhr und zweimal in der Woche nachmittags von 17 bis 18 Uhr. Wir blieben fast immer länger in der Praxis. Dazu kamen die Hausbesuche, mindestens drei pro Tag. Einige Patienten besuchten wir mit dem Fahrrad“, erinnert sich Jan. Pro Quartal behandelte die niedergelassene Ärztin rund 1.300 Patienten aus Dietramszell und der näheren Umgebung. Sie selbst war schon über fünfzig und stammte eigentlich aus Norddeutschland. „Sie hatte davon geträumt, Patienten zu empfangen und dabei aus dem Fenster auf die Berge zu schauen“, erzählt Jan.

Ihm selbst geht es ähnlich: Auch er möchte nach dem Medizinstudium und der Weiterbildung zum Facharzt eine eigene Praxis auf dem Land eröffnen. „Ich denke schon seit Beginn meines Studiums darüber nach, irgendwann als Landarzt zu arbeiten. Was mir an dieser Arbeit besonders gefällt, ist, dass man sein eigener Chef ist. Außerdem ist der wirtschaftliche Druck nicht so groß wie in einem städtischen Krankenhaus, wo Patienten möglichst schnell entlassen und durch neue ersetzt werden müssen, um Gewinne zu generieren. Im Gegensatz dazu begleitet ein Landarzt seine Patienten ein halbes Leben lang und entwickelt ein enges, vertrauensvolles Verhältnis zu ihnen“, erklärt er. Jans Traum wird sich frühestens in sechs Jahren erfüllen. Bis dahin wartet noch sein letztes Studienjahr auf ihn und anschließend die fünfjährige Weiterbildung zum Facharzt. Er hat zwei Ausbildungswege zur Auswahl: Entweder er arbeitet fünf Jahre in einem Krankenhaus und lässt sich dort zum Internisten ausbilden oder er arbeitet zwei Jahre stationär in der inneren Medizin, zwei Jahre in der ambulanten hausärztlichen Versorgung und ein weiteres Jahr in einem anderem Gebiet der unmittelbaren Patientenversorgung und erwirbt auf diese Weise den Titel eines Facharztes für Allgemeinmedizin.

Schlange beim Arzt, Patienten © Colourbox


„Die jungen Ärztinnen und Ärzte haben heute andere Erwartungen an ihren Beruf. Sie wollen feste Arbeitszeiten und mehr Zeit für ihr Privatleben. Außerdem scheuen sie das Risiko und die Kosten einer selbstständigen Tätigkeit. Doch in ländlichen Gegenden ist eben dies noch immer das vorherrschende Modell der ärztlichen Versorgung“, erklärt Jan und fügt hinzu, dass einige Kommunen den Bedürfnissen der jungen Ärztinnen und Ärzte bereits entgegenkommen, zum Beispiel indem sie die Praxen ausscheidender Ärzte aufkaufen und sie kostenlos potenziellen Nachfolgern zur Verfügung stellen. Andere, wie zum Beispiel der Landkreis Calw in Baden-Württemberg, bieten Festanstellungen für Ärztinnen und Ärzte in sogenannten Medizinischen Versorgungszentren.

Viele Bundesländer versuchen, medizinische Fachkräfte mit finanziellen Anreizen auf das Land zu locken und schreiben spezielle Stipendien für Medizinstudenten aus. Seit 2020 wurde in elf Bundesländern die sogenannte Landarztquote eingeführt: Ein bestimmter Anteil von Studienplätzen wird jedes Jahr für Medizinstudenten reserviert, die sich dazu verpflichten, nach dem Abschluss ihres Studiums als Allgemeinmediziner oder Facharzt im ländlichen Raum des betreffenden Bundeslandes zu arbeiten. In Niedersachsen liegt die Landarztquote bei 10 Prozent, in Bayern bei fast 6 Prozent und in Nordrhein-Westfalen bei 7,6 Prozent. Ärzte, die den Vertrag nach dem Medizinstudium und der Weiterbildung zum Facharzt nicht erfüllen, müssen mit Strafzahlungen von bis zu 250.000 Euro rechnen. Daneben gibt es auch spezielle Stipendien für Medizinstudenten im Ausland. Gegenwärtig absolvieren rund 7.500 Deutsche ein Medizinstudium an ausländischen Universitäten, zum Beispiel in Österreich, Großbritannien, Polen, Litauen und Ungarn. Einige Kommunen erklären sich bereit, die Studiengebühren ganz oder teilweise zu übernehmen, wenn sich die Medizinstudenten dazu verpflichten, sich anschließend bei ihnen als Hausarzt niederzulassen.
Doch der deutsche Gesundheitsminister Karl Lauterbach ist der Ansicht, dass all diese Maßnahmen nicht ausreichen, und fordert rund 5.000 zusätzliche Medizinstudienplätze in Deutschland. „Es mangelt tatsächlich an Ärzten, vor allem in bestimmten Fachbereichen“, stimmt Jan ihm zu.
 

Ärzt mit einem Patienten © Colourbox


„Was das größte Problem bei meiner Arbeit ist?“, überlegt Joanna, die Fachärztin für Allgemeinmedizin und Leiterin eines Ärztehauses in der Landgemeinde Przerośl in der Woiwodschaft Podlachien ist. „Eine Vertretung zu finden, wenn ich meine eigene Hochzeit feiern oder in Urlaub fahren will“, erzählt sie.

Joanna übernahm das Ärztehaus im Januar 2023 von einer ausscheidenden Ärztin. Die Praxisräume, bestehend aus einem Sprechzimmer, einem Raum für die Mitarbeiterinnen, einem Gemeinschaftsraum und einem Wartezimmer, mietet sie von der Gemeinde. Joanna beschäftigt drei Arzthelferinnen (darunter eine Hebamme), eine Bürokraft und seit einigen Monaten einen zweiten Arzt. „Wenn ich vorher krank war oder Urlaub genommen habe, vertrat mich ein Arzt im Ruhestand. Im Augenblick ist es etwas entspannter, vor allem, weil ich ein drei Monate altes Kind habe und nur zweimal in der Woche Patienten empfange“, berichtet Joanna. Als Ärztin ist sie dazu verpflichtet, die Einwohner medizinisch zu versorgen – sie kann nicht einfach ein „Vorübergehend geschlossen“-Schild an die Tür ihrer Praxis hängen. Ihre jüngsten Patienten sind nur wenige Tage alt, der älteste 98 Jahre. Insgesamt betreut sie 2.300 Patienten aus Przerośl und der näheren Umgebung und sogar aus Suwałki. „Ein Arzt darf maximal 2.500 Patienten betreuen, wir haben also nur noch 200 freie Plätze“, erklärt sie. „Während der Erkältungssaison behandele ich täglich zwischen 50 und 60 Patienten. Dazu kommen noch die Hausbesuche bei Patienten, die unsere Praxis aus gesundheitlichen Gründen nicht aufsuchen können. Auch der Papierkram nimmt viel Zeit in Anspruch, ich führe schließlich ein eigenes Unternehmen“, erklärt sie.

Joanna lebt in Suwałki und fährt jeden Tag 30 Kilometer zur Arbeit. Ihr Medizinstudium hat sie in Warschau abgeschlossen. Sie sagt, dass sie schon immer in ihre Heimat zurückkehren und dort eine eigene Praxis betreiben wollte. Sie hatte jedoch nicht erwartet, dass sie auf dem Land arbeiten würde. „Es hat sich eben so ergeben, und ich bin zufrieden. In unserer Praxis herrscht eine freundschaftliche, fast schon familiäre Atmosphäre. Das Verhältnis zu den Patienten ist ein anderes als einer Großstadt“, erklärt sie. Joanna hatte Glück, denn sie musste nur wenige Monate nach einem zweiten Arzt für ihre Praxis suchen – in der Nachbargemeinde Dubeninki ist die Stelle eines Allgemeinmediziners schon seit längerer Zeit unbesetzt, obwohl die Gemeinde potenziellen Bewerbern die entsprechenden Praxisräume und sogar eine gemeindeeigene Wohnung in Aussicht stellt.
 

Es mangelt tatsächlich an Ärzten, vor allem in bestimmten Fachbereichen

Jan, Medizinstudent an der Universität Erlangen



Nach Daten des polnischen Gesundheitsministeriums lag die Zahl der Patienten, die 2023 mindestens eine Gesundheitsleistung in Anspruch genommen haben, auf dem Land 17 Prozent niedriger als in der Stadt. Das Problem ist der schlechtere Zugang zu medizinischer Versorgung, insbesondere zu Fachärzten, bei denen Patienten oft über ein Jahr auf einen Termin warten müssen. Außerdem beträgt das Durchschnittsalter der Ärztinnen und Ärzte in Polen 55 Jahre, und diese Tatsache wird sich in den kommenden Jahren zunehmend bemerkbar machen. Das polnische Gesundheitsministerium begegnet diesem Problem zumindest teilweise, indem es versucht, die Versorgungsleistungen in den sogenannten Gesundheitszentren für medizinische Grundversorgung besser zu koordinieren, also die Zusammenarbeit zwischen Hausärzten und Fachärzten, wie zum Beispiel Kardiologen, Nephrologen und Pulmologen, zu erleichtern. Außerdem müssen dringend mehr junge Ärztinnen und Ärzte ausgebildet werden. In der vergangenen Legislaturperiode wurden 15 neue Medizinstudiengänge geschaffen. Die polnische Ärztekammer warnt jedoch, dass die meisten von ihnen nicht den notwendigen Standards entsprechen. Das Problem des Ärztemangels kann nicht mithilfe von unqualifizierten Ärzten gelöst werden.
 

Epilog


30 Kilometer östlich von Przerośl liegt die Gemeinde Rutka-Tartak. Die dortige Arztpraxis wird seit vielen Jahren von einem Ärzteehepaar geführt. Der Mann ist Psychiater und arbeitet in einer nahegelegenen Großstadt. Seine Frau arbeitet zusätzlich in der einige Kilometer entfernten Gemeinde Wiżajny. Als ich in ihrer Praxis anrufe, um mich mit der Ärztin über ihre Arbeit zu unterhalten, hat sie gerade Urlaub. Ihr Mann vertritt sie.
„Seit heute Morgen ist bei uns so viel los, dass ich gerade erst Zeit gefunden habe, um zu frühstücken“, erklärt er mir. Ich schaue auf die Uhr. Es ist ein Uhr mittags.
 

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