„Der unterm Hals zugeknöpfte Smoking"

Ausstellung von Zbigniew Sałaj

„Der unterm Hals zugeknöpfte Smoking" © Zbigniew Sałaj

„Er war sechzehn, vielleicht siebzehn, als er vor dem Dilemma stand, ob er sich für einen Tanzkurs anmelden sollte oder nicht, der in bestimmten Gesellschaftsschichten als unabdingbar und daher ernst zu nehmen galt. Eine festliche Garderobe musste her, und so wurde zunächst der Schneider der Familie Kafka um Rat gefragt. Dieser nahm Maß und empfahl erwartungsgemäß die seit Generationen übliche Kleidung: einen Frack. Franz begann zu maulen und fragte, ob nicht etwas Einfacheres, etwa ein Smoking, genügen würde. Das sei absolut akzeptabel. Aber ein richtiger Smoking sei keineswegs bequem, genauso wie zum Frack müsse man dazu ein weißes, steif wie ein Brett gestärktes Hemd tragen. Dann machen Sie doch einen Smoking, der unterm Hals zugeknöpft wird, schlug Franz zum allgemeinen Erstaunen vor, denn bei keiner der bisherigen Anproben war aus seinem Munde eine eigenständige Meinung zu hören gewesen. Einen solchen Smoking, erwiderte der Schneider, gebe es nicht. Ganz im Gegenteil, widersprach Franz, erst neulich habe er einen solchen in einem Schaufenster am Altstädter Ring gesehen. Und da der Junge nicht locker ließ und seine Mutter auf eine Entscheidung drängte, musste der Schneider mit Franz zu dem gegenüberliegenden Marktplatz gehen, wo von dem angeblich am Hals geschlossenen Smoking allerdings keine Spur zu sehen war. Dem Jungen, der immer noch nicht nachgeben wollte, blieben nur die berechtigten Vorwürfe seiner Mutter und die scheinbar plötzlich aufkommende Fantasie, dass das wohl das Ende sei: Ich werde von Mädchen, eleganten Ansprachen und Tanzvergnügungen abgeschnitten sein. Vor lauter Heiterkeit, die ich dabei empfand, wurde ich zugleich irgendwie unglücklich im Herzen. Außerdem befürchtete ich, dass ich mich vor dem Schneider so lächerlich gemacht hatte wie noch keiner seiner Kunden“.

Reiner Stach „Kafka. Die frühen Jahre 1883-1911”, PIW 2021 Jede kulturelle Wirklichkeit bringt neben immateriellen auch utilitaristische Elemente hervor, die nicht nur durch ihre Visualität die Phantasie zu einem interaktiven Austausch anregen, sondern oft auch den Nährboden für sinnstiftende Überlegungen in Richtung eines Wandels bilden.
Schneiderpatronen, Schnittmuster und Schablonen sind seit meiner Kindheit immer wieder in meinem Wahrnehmungsbereich aufgetaucht, aber ich habe sie erst später, in der zweiten Hälfte der Achtzigerjahre, näher betrachtet, wenn meine Frau ihrem Schneiderhobby nachging. Oft glich die Fläche des Bodens unserer kleinen Wohnung, dicht bedeckt mit bunten, abwechselnd aus Papier und Stoff gestanzten Formen, abstrakten Kompositionen. Die äußerst reizvolle Visualität der Formen verleitete uns dazu, sie direkt auf die Bildflächen zu übertragen. Schließlich wurden die auf den ersten Blick absurd anmutenden, aus Tausenden von verschiedenen Linien, Strichen, Bezeichnungen gewebten Papierpatronen selbst zu den Zielobjekten meiner visuellen Untersuchungen, den Zitaten meiner malerischen Auseinandersetzungen. Die ersten Realisierungen präsentierte ich 1989 in einer Ausstellung mit dem Titel „Verpackbarkeit, Bekleidbarkeit'“.

© Zbigniew Sałaj


Nach mehr als drei Jahrzehnten kehre ich noch einmal zum Schnittmuster zurück, aber im veränderten Kontext der kafkaesken Absurdität, einer Vorstellungskraft, die weit über das Schneiderhandwerk hinausreicht.

Die Titelepisode von Franz Kafka, zitiert aus dem biografischen Buch von Reiner Stach, zeigt die zeitlose Universalität des jugendlichen Aufbegehrens gegen den etablierten Kulturcode. Die stattfindenden Transformationsprozesse, von der aus der mütterlichen Wiege gehobenen Matrix bis hin zu den unbeholfenen Versuchen, sich in die eigene Zeit zu fügen, führen zu sukzessive freigesetzten Bildern von personalisierten Geflechten von zunehmend permanenter Innervation.

Zbigniew Sałaj

 

Das Projekt wird mit finanzieller Unterstützung der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit organisiert.

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