Digitale Bildung
Wir alle sind Kinder der Digitalisierung, also Digital Kids
Aber was, wenn ein Kind nach einer konkreten Funktion in einem digitalen Spiel fragt? Wie konstruiert man mit Hilfe von Calliope einen Lichtsensor? Wie schaltet man den Servomechanismus in Lego ein? Wie dekoriert man in The Sims ein Zimmer?
Oppelner Land, ringsum dichte Wälder, Landschaftsschutzpark. Die Gemeinde Murów hat etwas mehr als 5.000 Einwohner, 1.000 davon sind in der örtlichen Bücherei als Nutzer registriert. Es finden selbstverständlich klassische Buchveranstaltungen statt, wie Autorenabende oder Treffen des Buchclubs im nahegelegenen Botanischen Garten. Aber es gibt auch Kajakfahrten für Senioren, Operette, einen Stöckelschuhtag, Ausflüge zu Thermen, Vorträge zur Alternativmedizin, Programmierkurse und Informationsveranstaltungen zur Volkszählung. Auf ihre Wunschliste angesprochen, nennt die Bibliotheksleiterin in einem Atemzug eine Lesung mit Olga Tokarczuk und einen professionellen Brafitting-Workshop. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Bibliothek berät, erzieht, formt, Wertschätzung in geistigen Angelegenheiten, lokalen Belangen und allen Lebensfragen genießt. „Wir kennen hier jeden bis zur zehnten Generation zurück“, scherzt sie, doch das gesellschaftliche Kapital, das auf Zusammenarbeit und Vertrauen gründet, ist in der Tat enorm. Auch im Bereich Digitalisierung: Die Jugendlichen können frei über Tablets und Laptops verfügen, gleichzeitig helfen sie, die notwendigen Apps zu installieren, „schließlich können sie das hundertmal besser als wir Erwachsene“.
Halina organisiert, lädt ein und nimmt auch deshalb selbst an den Projekten teil, weil sie mit der Entwicklung Schritt halten will, zumal sie, wie sie sagt, süchtig nach persönlicher Weiterbildung ist. Und das Ergebnis ihrer Therapie kann sich sehen lassen: Obwohl sie in vollkommen analogen Zeiten am Fuße des Eulengebirges aufwuchs, nutzt sie heute mit größter Selbstverständlichkeit Onlinekonten, digitale Dokumente, Chats, selbst ihre Tageskleidung wählt sie entsprechend der Wettervorhersage auf www.accuwheater.com aus. Digitale Ausgrenzung in der tiefsten Provinz, wo es „außer Wäldern nichts gibt“? Die Not wird zum Motor der Entwicklung: „Orte wie Murów zwingen einen, im Netz aktiv zu werden. Einkäufe bestelle ich über das Internet, auch Lebensmittel, ich schaue mir online Konzerte, Ausstellungen und Theateraufführungen an. Mit unseren Nutzern kommuniziere ich über Messenger-Dienste, auf WhatsApp bin ich in Kontakt mit dem Gemeindevorsteher, dem Gemeindesekretär, den Schuldirektoren, der Kindergartenleiterin sowie mit Schriftstellern. Am Wochenende Computerabstinenz. Dann verschwinde ich in die Berge“.
„Ha! Schau, was wir gerade bekommen haben!“, Ewelina macht ein Bild von den Büchern über YouTuber und über Programmieren und sendet es per MMS an ihre 13-jährige Tochter; sie weiß, dass Oliwia so etwas gefällt, aber sie selbst freut sich auch. Seit kurzem erobert sich die 38-jährige Kulturmanagerin aus Słupsk die ihr bis vor kurzem völlig fremde Welt der Sozialen Medien, der Computerspiele und des Codierens – daher greift sie bei Büchern aus diesem Themenkreis gerne zu. Doch das Wichtigste ist die Praxis: Zusammen mit ihrer Tochter installiert sie Apps, lernt deren Bedienung kennen, und gemeinsam probieren sie dann die Spiele aus. Sie haben sich ein Webinar über das Programmieren der Mikrocontroller Calliope mini angesehen – Oliwia möchte am liebsten selbst einen Calliope-Bausatz besitzen. „Wir haben ein gemeinsames Projekt, ein gemeinsames Thema“, man hört, wie Ewelina sich darüber freut. Sie verbringt nicht nur Quality Time mit ihrer Tochter, sie profiliert sich auch als Expertin.
Die „Landebahn Kultur“ in Redzikowo, eine Zweigstelle des Kulturzentrums und der Öffentlichen Bibliothek in Słupsk, nimmt, wie die Gemeindebibliothek in Murów, am Projekt „Digital Kids“ des Goethe-Instituts Warschau teil.
Aus den insgesamt 114 Bewerbungen wurden nur sechs Einrichtungen für das Projekt ausgewählt: außer Murów und Słupsk sind dies die Mediathek in Kozienice (eine Zweigstelle der Öffentlichen Bibliothek), die Zweigstelle Nr. 2 der Öffentlichen Bibliothek in Gniezno, Öffentliche Woiwodschaftsibliothek in Allenstein und Pommersche Stanisław-Staszic-Bibliothek in Stettin. Obwohl das Goethe-Institut vor der Qual der Wahl stand, scheint es dennoch gelungen zu sein, den Fokus auf Büchereien mit einem besonderen Potential zu legen.
Ziel des Projekts ist es, in den Büchereien „Digitale Spielplätze“ einzurichten. Die teilnehmenden Bibliotheken werden zu diesem Zweck vom Goethe-Institut finanziell und vor allem inhaltlich unterstützt. Den „Digitalen Spielplätzen“ gemein ist eine visuelle Identität (eigens entworfene Elemente, mit denen der Raum ausgestaltet werden kann) und eine gemeinsame Themenpalette. Dagegen gibt es keine festen Instrumente oder Programme, die die Bibliothek von A bis Z durchführen muss. Der Initiator des Projekts Markus Kedziora und der Projektkoordinator Piotr Szyposzyński betonen unisono, dass sie eine deutsche medienpädagogische Perspektive anbieten, Anreize geben, wie man die Entwicklung und Bildung der Kinder in diesem Bereich fördern kann, ohne jedoch bei der Umsetzung des Projekts ein starres Schema vorzugeben. Denn schließlich gehe es in der Kindererziehung nicht darum, dass alle die gleichen Buntstifte und Aufgaben bekommen, sondern vielmehr darum, in einem bestimmten Bereich den Bedürfnissen und Möglichkeiten des Einzelnen gerecht zu werden. Das Goethe-Institut schlug eine bestimmte Ausstattung vor (Laptops, iPads, Nintendo-Konsolen mit Zubehör, Mikrocontroller-Bausätze Calliope mini, programmierbare Legosteine Mindstorm, Ozobot-Roboter, GraviTrax-XXL-Bausteine) sowie eine Liste von Apps, Spielen und Programmen, die von der Jury des renommierten Deutschen Kindersoftwarepreises TOMMI empfohlen werden. Kuratorin des Projekts „Digital Kids“ im Bereich digitale Inhalte ist die erfahrene Medienpädagogin Astrid Meckl. Die Ausstattung und Inhalte sollen wie Bibliotheksbücher frei zugänglich sein, aber auch bei Veranstaltungen wie Workshops oder Webinaren genutzt werden können.
Dieses Projekt richtet sich nicht nur an Kinder und Jugendliche, sondern auch an deren Eltern, Betreuer und Lehrer – mit den titelgebenden „Kids“ sind alle gemeint, da wir alle Kinder der digitalen Revolution sind, und einen Leitfaden durch die digitale Welt brauchen wir alle gleichermaßen. Die Jugend kennt sich häufig hervorragend damit aus, wie man Tablets oder Smartphones benutzt, wie man mit ihrer Hilfe kommuniziert, spielt, Videos anschaut, aber sie assoziieren diese Geräte eher nicht mit Büchern oder Kultur. Eben dies ist eines der Ziele der teilnehmenden Bibliotheken: das natürliche Interesse an digitalen Medien mit der Lese- und Kulturförderung zu kombinieren, zum Beispiel mittels interaktiver Bücher. Die Eltern von heute, die als Kinder selbst zu schnell mit der Digitalisierung konfrontiert wurden, haben ihr Wissen häufig im Eiltempo erworben, ad hoc, unsystematisch, ohne eine breitere Perspektive, was oftmals zu Stereotypen und Vorurteilen führte. Deshalb bietet das Projekt, außer dem Zugang zu den Geräten und digitalen Inhalten, auch eine Reihe medienpädagogischer Veranstaltungen für Erwachsene an.
Wie Markus Kedziora betont, liegt ihm daran, dass Eltern und Kinder die digitalen Medien gemeinsam entdecken und mit der Mär vom „bösen Bildschirm“ und dem „guten Buch“ aufräumen. Die Existenz eines „Digitalen Spielplatzes“ ausgerechnet in den Räumen der Bibliotheken hat einerseits auch eine pragmatische Dimension: Die Bibliothek ist oft eine der wichtigsten lokalen Vergnügungsstätten, ein Treffpunkt. Die Bücherei kann deshalb leicht als Sprachrohr für wichtige Inhalte genutzt werden. Das Angebot in der Bibliothek soll andererseits der digitalen Unterhaltung Legitimation verleihen, den Eltern zeigen, dass sie keine Angst haben müssen, dass es besser ist, statt das Digitale zu negieren und zu verbieten, den „Feind“ kennenzulernen, ihn in die Arme zu schließen, ihm seinen Schrecken zu nehmen.
Bisher waren Bibliothekarinnen eher nur in ihrer Kernkompetenz ein Wissensschatz. Man beschrieb vage die eigenen Leseerwartungen und erhielt konkrete Buchempfehlungen. Aber was, wenn ein Kind nach einer konkreten Funktion in einem digitalen Spiel fragt? Wie konstruiert man mit Hilfe von Calliope einen Lichtsensor? Wie schaltet man den Servomechanismus in Lego ein? Wie dekoriert man in The Sims ein Zimmer? „Ich werde es abends ausprobieren müssen, bis ich weiß, wie es geht“, erklärt Ewelina, und vor meinem inneren Auge sehe ich bereits den Respekt in den Gesichtern der jungen Bibliotheksnutzer. Respekt, der womöglich auch dafür sorgt, dass das Kind, das eigentlich nur zum Spielen gekommen ist, die Bücherei mit einem Buch zum Thema Web 2.0 verlässt, das ihm von der Bibliothekarin empfohlen wurde. Mit der neuen Ausstattung lassen sich auch Workshops organisieren, um gemeinsam deren Funktionen kennenzulernen – vielleicht geben die Kinder uns dabei ja ein paar Tipps.
Wie auch immer, „mit der Jugend muss man sich gut stellen“, rät Halina Lubacz. Auch mit der digitalen Jugend, schließlich sind wir alle „Digital Kids“.