Inklusion
„Gutes WLAN reicht nicht aus“
Bildung findet immer mehr auch im digitalen Raum statt. Doch was ist mit Schüler*innen, die eine Behinderung haben? Anja Bensinger-Stolze ist die Leiterin des Organisationsbereichs Schule der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft. Sie erklärt, wie es um die Inklusion in der digitalen Bildung an deutschen Schulen steht.
Frau Bensinger-Stolze, was bedeutet für Sie digital-inklusive Bildung?
Für mich bedeutet es, dass kein Kind bei digitalem Unterricht zurückstecken muss. Egal, welchen sozialen oder kulturellen Hintergrund es hat, welches Geschlecht, welches Elternhaus oder ob es eine Behinderung hat.
Wie steht es um die Inklusion an deutschen Schulen im Zeitalter von Videocalls und Distanzunterricht?
Die Umsetzung der Inklusion insgesamt erfolgt in allen Bundesländern unterschiedlich und auch die entwickelten Konzepte in den einzelnen Schulen unterscheiden sich. Es gibt gute Konzepte, die sicherstellen, dass Schüler*innen mit einer Behinderung bei digitalem Unterricht nicht auf der Strecke bleiben. Aber diese Konzepte können nicht überall umgesetzt werden. Was auffällt: Es funktioniert nur, wenn alle Faktoren stimmen. Ein gutes medienpädagogisches Konzept, die Technik im Schulgebäude, geschulte Pädagog*innen, Technik für die Schüler*innen, stabiles Internet für die Lehrkraft und im Elternhaus, ein unterstützendes Umfeld zu Hause und viel Zeit und Geduld.
Wie sieht digital-inklusive Bildung denn konkret aus?
Das kann man nur individuell betrachten. Es kommt darauf an, ob das Kind eine Lernschwäche oder eine körperliche Behinderung hat. Ich gebe mal ein Beispiel: Eine Schülerin, die ihre Arme nicht bewegen kann, diktiert normalerweise im Präsenzunterricht einer Assistenz ihre Klausuren. Im Heimunterricht geht das nicht. Da kann die Technik Abhilfe schaffen, zum Beispiel mit einer Diktier-App. Aber diese Technik muss einem erstmal zur Verfügung stehen. Oder zumindest gutes Internet, um diese Technik zu nutzen.
Lässt sich das Problem der Inklusion im digitalen Bildungsraum also mit neuer Technik lösen?
Nein, nicht nur. Gutes WLAN reicht nicht aus, auch wenn das ein großes Problem ist. Laut einer unserer Studien haben 50 Prozent der Schulen in Deutschland immer noch kein WLAN für ihre Schüler*innen. Und wenn wir über Technik sprechen, ist es so, dass die meisten Geräte, die den Lehrer*innen zur Verfügung gestellt werden, nicht die nötige Ausstattung haben, um tatsächlich alle Aufgaben damit zu erledigen. Beispielsweise wurden in den Bundesländern und Kommunen häufig günstige Laptops angeschafft, die wenig Speicherkapazität, nicht ausreichend Programme und einen zu kleinen Bildschirm haben. Deshalb greifen sie lieber auf ihre privaten Geräte zurück. Was aber noch wichtiger ist: professionelle IT-Unterstützung. Es reicht nicht, wenn man eine Kollegin zwei Stunden die Woche freistellt, dass sie sich um die PCs der Schule kümmert. Wir brauchen dafür neue Stellen, gut geschultes Personal. Sonst haben vor allem Kinder mit Behinderung keine Chance im digitalen Bildungsraum.
Ist digitale Bildung denn erst seit der Coronapandemie wirklich ein Thema?
Nein, sicher nicht. Aber der Distanzunterricht hat den Druck für jede Schule erhöht, sich medienpädagogisch und technisch weiterzuentwickeln. Es hat an den Schulen während der Coronapandemie einen Ad-hoc-Digitalisierungsschub gegeben. Jetzt müssen die Schulen unterstützt werden, ihre Erfahrungen auszuwerten und gute Elemente in ein Medienkonzept einfließen zu lassen. Sei es durch individuelle Betreuung oder durch passende Nachhilfeangebote. Ich finde es zum Beispiel Quatsch, wenn man sagt, wir holen mit sozial benachteiligten Kindern den Stoff, den sie verpasst haben, im Sommer nach. Wenn ein Kind schon unter dem Jahr in der Schule nicht mitkommt, wie soll es das denn dann in den Ferien nachholen? Deshalb brauchen wir ausreichend und gut geschultes Personal, das die Zeit und die Kompetenz hat, solche Kinder aufzufangen.
Kennen Sie Schulen in Deutschland, die das gut machen?
In Hamburg ist die Stadtteilschule „Alter Teichweg“ aus meiner Sicht ein gutes Beispiel für inklusives Arbeiten. Sie ist im Stadtteil vernetzt. Sie ist Schulpreisträgerin und Olympia-Stützpunkt. Hier kommt viel von dem zusammen, was ich mir für eine inklusive Schule wünsche. Die Schule hat ein umfassendes Medienkonzept, ist digital top ausgestattet und legt einen Schwerpunkt darauf, dass niemand aufgrund seines sozialen Umfelds oder einer Behinderung zurückgelassen wird.
Kreative Konzepte in der Corona-Pandemie und Inklusion auch im digitalen Raum – in diesen Bereichen hat sich besonders die Grund- und Stadtteilschule „Alter Teichweg“ in Hamburg hervorgetan: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (r) verleiht zusammen mit der Moderatorin Clarissa Correa da Silva (l) den Deutschen Schulpreis 20|21 Spezial in der Kategorie „Beziehungen wirksam gestalten“.
| Foto (Detail): © picture alliance/dpa/Bernd von Jutrczenka
Was müsste sich ändern, damit wir sagen können: Kein Kind mit Behinderung in Deutschland hat beim digitalen Lernen einen Nachteil?
Ich glaube, das können wir nur gesamtgesellschaftlich angehen, Schulen allein können das nicht lösen. Die Politik muss dafür sorgen, dass wir gut ausgestattete Schulen haben, dass die Kolleg*innen mehr Zeit haben und dass die Schüler*innen individuell zugeschnittene Hilfe bekommen, Dinge nachzuholen, die auf der Strecke geblieben sind. Wir müssen eine Kampagne starten, um den Lehrkräftemangel zu bekämpfen. Ohne gut ausgebildete Pädagog*innen haben noch so gute inklusive und medienpädagogische Konzepte wenig Wert. Dafür muss Zeit und mehr Geld in Bildung investiert werden.