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Deutschland virtuell erleben

Vive Berlin
© Vive Berlin Tours

Als die Coronapandemie die Welt lahm legte, mussten Kultureinrichtungen neue Formate entwickeln, um nicht an Relevanz zu verlieren. Und auch private Firmen formten sich, um über das Internet Menschen zu erreichen, die nicht vor Ort an den Angeboten teilnehmen konnten. Sofa Tourismus – jede Stadt der Welt von zu Hause erleben können, das war die Devise. Heute, wo die Pandemie Maßnahmen größtenteils gefallen sind, bleibt das Online Angebot für viele trotzdem interessant.

Von Magda Roszkowska

Der Schnee bedeckt nur spärlich die Grünflächen. Die Temperatur beträgt zwei Grad unter Null. Der Berliner Ortsteil Friedrichshain wirkt grau und verlassen. Es ist der elfte Monat der Pandemie, der Lockdown dauert weiterhin an. Ich gehe die Grünberger Straße entlang. Ein paar vereinzelte Menschen führen ihre Hunde spazieren. Ein Mann trägt mit seinem Fahrrad Zeitungen aus. Ich passiere die Green Hill Gallery und die Coworking Spaces des Kulturschöpfer e.V., die bis auf Weiteres geschlossen sind. Ebenso wie der Asia Imbiss und die benachbarte Kneipe mit ihren rubinroten, geschlossenen Rollläden. Das Ladenlokal im nächsten Gebäude steht leer. Auf der Warschauer Straße sind schon mehr Spaziergänger unterwegs. Ich gehe den Gehweg zwischen den Fahrbahnen und den Straßenbahnschienen entlang. Ein Kind baut einen Schneemann. Auf den beiden Seiten der dicht befahrenen Straße erstrecken sich Spaliere aus bunten Häusern. Eines von ihnen wirkt mit seiner rot-orangenen Fassade, den Fensterfresken und den schachbrettartig gemusterten Balkons besonders kitschig. An der Kreuzung Revaler Straße gehe ich über den Zebrastreifen und steige eine Treppe hinab auf das RAW-Gelände, das ehemalige Reichseisenbahnausbesserungswerk, dessen Gebäude seit Beginn des 21. Jahrhunderts von Künstlern, lokalen Unternehmern und der kreativen Szene genutzt werden. Die Wände der Gebäude sind von oben bis unten mit Graffiti bedeckt. Ich gehe an einer Telefonzelle mit der Aufschrift Teledisko vorbei, in deren Innerem sich die kleinste Disco der Welt befindet. Vor der Pandemie konnte man hier noch eine Münze in den Schlitz neben der Tür einwerfen und mit maximal zwei Personen eine Party mit lauter Musik und bunten Lichten feiern. Jetzt hängt ein Schild an der Glasscheibe: Wegen der Pandemie geschlossen. Als ich das RAW-Gelände verlasse, erregt ein an einem Zaun befestigtes Banner meine Aufmerksamkeit. Es wirkt wie eine Flaschenpost aus einer anderen Zeit: Hallo Berlin! Book Your Tour Now! Mein gemächlicher, halbstündiger Spaziergang endet auf der Dirschauer Straße. Dann wird mein Bildschirm plötzlich schwarz, um mir kurz darauf einen virtuellen Spaziergang durch Bonn vorzuschlagen. Dieser dauert sogar über eine Stunde! Stattdessen mache ich lieber noch schnell einen zwanzigminütigen Spaziergang entlang der Berliner Mauer. Jetzt ist es Sommer 2020, das Thermometer zeigt 32 Grad. Es ist der sechste Monat der Pandemie. Ich spaziere entlang der East Side Gallery und bewundere die zahlreichen Graffitis, die von Künstlern aus aller Welt geschaffen wurden.

Spaziergänge im Sitzen

Der YouTuber Japan Potato bietet auf seinem Kanal fast 500 solcher virtuellen Spaziergänge an. Unter jedem der Videos finden sich zahlreiche Kommentare, Japan Potato hat über 38 000 Abonnenten. Sämtliche Videos folgen einem ähnlichen Schema: Zu Beginn wird der Verlauf des Spaziergangs auf einem virtuellen Stadtplan angezeigt. Anschließend zeichnet die Kamera ihre Umgebung aus der Ich-Perspektive auf und vermittelt dem Zuschauer so das Gefühl, sich inmitten des Geschehens zu befinden. Die Kamera wiegt sich im Rhythmus eines gemächlichen Spaziergangs. Manchmal bleibt sie für einen Moment stehen, dann wieder dreht sie sich um die eigene Achse, um das gesamte Panorama zu erfassen. Ganz so, als würden wir selbst den Kopf drehen, um uns einen Überblick über unsere Umgebung zu verschaffen. Im Hintergrund hört man Gesprächsfetzen, Straßenbahnen, Busse und die Geräusche der Stadt.
Japan Potato begann seine virtuellen Spaziergänge bereits vor Beginn der Pandemie, im Jahr 2019, aufzuzeichnen und ins Netz zu stellen. Die ersten zehn verliefen durch Tokio. Dann folgten Spaziergänge durch Düsseldorf, Berlin, Köln, Bonn, Essen, Dortmund, Hamburg, Wuppertal und andere Städte. Bei einigen von ihnen bewegen wir uns entlang der bekannten Touristenpfade. Bei anderen entdecken wir Orte, die ausschließlich Einheimischen bekannt sind. Dabei haben wir ständig das Gefühl, als würden wir alles mit eigenen Augen erleben. Japan Potato schreibt über sich selbst, dass er versucht, den Geist einer Stadt zu erfassen, zusammen mit ihren Geräuschen, dem Wetter, der Architektur und der Natur. Er sieht seine virtuellen Spaziergänge als eine neue Form der Straßenfotografie. In einem der Kommentare bedankt sich eine Nutzerin für einen virtuellen Spaziergang durch Münster, weil er sie an die Zeit erinnerte, in der sie ihren Freund kennenlernte und mit ihm gemeinsam durch die Stadt spazierte.

Berliner Mauer © Pexels


Internet-Touristen

Japan Potato ist nicht der Einzige: Im Netz wimmelt es geradezu von virtuellen Spaziergängen durch Deutschland. Kein Wunder, denn in Eigenregie erstellte Stadttouren liegen bereits seit über einem Jahrzehnt im Trend. Manche stellen ihr Reisetagebuch aus Norddeutschland online, andere betätigen sich als Fremdenführer und geben ihre Erfahrungen weiter, die sie auf einer Rundreise durch Bayern gemacht haben. Bei manchen Videos sind nur die Umgebungsgeräusche zu hören, andere werden von einem Off-Kommentar begleitet. Einige sind aus der Ich-Perspektive gefilmt, während andere das Geschehen ganz unpersönlich aus der Vogelperspektive aufzeichnen. Daneben finden sich auch Videos, die zu Werbezwecken von Fremdenverkehrsämtern, von Reiseagenturen oder sogar vom Auswärtigen Amt erstellt wurden. Mal besichtigen wir in nur einer halben Stunde die zehn schönsten deutschen Städte. Dann wieder schlendern wir eine Stunde lang gemeinsam mit einer in Deutschland lebenden amerikanischen Familie, der Black Forest Family, über einen Street Food Markt in der Berliner Kulturbrauerei.

Das Wichtigste bei all diesen virtuellen Besichtigungstouren ist die individuelle Perspektive. Hinsichtlich der Gestaltung herrscht hingegen künstlerische Freiheit – eben dadurch findet jeder etwas, das seinen Interessen und Vorlieben entspricht.
Japan Potato beschreibt seinen Videospaziergang über das RAW-Gelände als entspannend und beruhigend. Als die Welt vor wenigen Jahren auf die eigenen vier Wände zusammenschrumpfte und Reisen nicht mehr ohne Weiteres möglich waren, konnten solche virtuellen Spaziergänge tatsächlich einen gewissen Trost spenden und Eindrücke bieten, die für die meisten Menschen unerreichbar geworden waren. Heute wirken sie wie Tagebücher, die die Atmosphäre der Pandemie wiedergeben, doch gleichzeitig bieten sie auch, wie Japan Potato selbst betont, einen Ausblick auf die Zukunft. Wahrscheinlich wird es schon bald entsprechende virtuelle Spaziergänge im Internet geben, bei denen wir selbst entscheiden können, wohin wir unsere Schritte lenken.

Auf den Spuren des gelben Männchens

Fürs Erste sind solche virtuellen Spaziergänge auf die von Google Street View bereitgestellten Panoramabilder beschränkt. Auf den virtuellen Flaneur warten dabei alle möglichen Überraschungen: Während wir uns durch den Berliner Ortsteil Kreuzberg klicken, wird uns schnell bewusst, dass auf der Lindenstraße noch Frühling herrscht, während es auf der Brückenstraße bereits Spätherbst ist. Der kanadische Künstler Jon Rafman beschäftigt sich schon seit über 15 Jahren im Rahmen seines Projekts Nine Eyes mit solchen Street-View-Kuriositäten. Über einen Mangel an Material kann er sich dabei nicht beklagen: Die Autos mit den Rundum-Kameras auf dem Dach haben bereits über 220 Milliarden Bilder aufgenommen. Rafman fischt aus diesem überwältigenden Katalog die Perlen heraus – wie zum Beispiel einen frei laufenden Tiger vor einem Supermarkt in Boulder, Colorado, oder ein kleines Kind, das vor einem Gucci-Shop in Taipeh herumkrabbelt – und stellt sie anschließend als großformatige Ausdrucke in den bekanntesten internationalen Galerien aus.
Inzwischen können wir dank Virtual Mapping nicht nur Spaziergänge „an der frischen Luft“ unternehmen, sondern auch die Innenräume mancher Museen besichtigen: zum Beispiel den Pergamon-Altar, das Ischtar-Tor und die anderen Säle des Berliner Pergamonmuseums. Auch viele andere Museen sind bereits ziemlich genau im Internet nachgebildet. In Warschau können wir auf diese Weise zum Beispiel das Nationalmuseum oder das Wissenschaftszentrum Kopernikus besichtigen.

PERGAMON. Meisterwerke der antiken Metropole und 360°-Panorama von Yadegar Asisi © asisi


Die Museen gewinnen die Kontrolle zurück

Man fragt sich, warum. Schließlich haben die entsprechenden Institutionen doch bereits wesentlich intelligentere Lösungen entwickelt, um ihre Sammlungen im virtuellen Raum zu präsentieren: Anstatt die Besucher unkoordiniert durch ihre Ausstellungsräume irren zu lassen, bieten sie virtuelle Museumsführungen an. In kurzen Filmen beschreiben die Kuratoren die einzelnen Exponate. Sie gehen auf ihren historischen Kontext ein und erklären die verwendeten Techniken und Materialien. Offensichtlich haben die großen Museen und Galerien längst ihre Angst davor überwunden, ein Zuviel an Online-Inhalten könne zu sinkenden Besucherzahlen führen. Im Gegenteil: Viele der online verfügbaren Materialien, wie Anmeldungen zu Diskussionen, Konferenzen, Workshops und Führungen sollen zu einem persönlichen Museumsbesuch anregen und den Kontext der real erlebbaren Ausstellung sinnvoll erweitern. Auch die Corona-Pandemie hatte ihren Anteil an diesem Umdenken über die Rolle des Internets: Während des Lockdowns mussten die Museen und Galerien ihre Tätigkeit entweder aussetzen oder sie ins Internet verlagern. Die auf diese Weise entstandenen Materialien stehen den Nutzern auch heute noch zur Verfügung. Auf der Website des Pergamonmuseums erschließt ein Klick auf den Reiter Online-Angebote zum Beispiel eine wahre Fundgrube an Multimedia-Inhalten zu den einzelnen Exponaten der Sammlung.


Virtuelle Touristen

Auch in der Tourismusbranche hat die Pandemie ihre Spuren hinterlassen – in Form von virtuellen Reiseangeboten. In der Zeit des Lockdowns verloren auch die lokalen Reisebüros ihre Daseinsberechtigung. Manche stellten ihre Tätigkeit ganz ein, andere verlegten sich auf das Internet. Virtuelle Erlebnisreisen verlaufen ähnlich wie Ausflüge vor Ort: Die Reiseführenden bewegen sich entlang der gebuchten Routen und beschreiben live vor Ort die einzelnen Stationen. Die Nutzer begleiten sie dabei an ihrem Bildschirm, sie können Fragen stellen oder um genauere Erklärungen bitten. Auch die Genossenschaft von Stadtführenden Vive Berlin Tours bot während der Pandemie, virtuelle Führungen durch die deutsche Hauptstadt an. Diese virtuellen Angebote bestehen bis heute, auch wenn sie inzwischen eher von Schulen als von Touristen genutzt werden. Es gibt zum Beispiel Live-Touren entlang der Berliner Mauer, bei denen die Stadtführenden zeigen, wie die Wachtürme aussahen, und erzählen, wie es einigen DDR-Bürgern dennoch gelang, in den Westen zu fliehen. Ist es nicht interessanter, den Verlauf der ehemaligen Berliner Mauer persönlich vor Ort zu erkunden? Zweifellos. Doch virtuelle Touristen haben nicht den Anspruch, die Wirklichkeit zu ersetzen. Sie leben vielmehr parallel zu ihr.
 

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