Literatur im DaF-Unterricht
Die Leiden des jungen Werthers – Zum Umgang mit einem Klassiker
Aktivierungspotential eines Klassikers | © adobe.stock
Goethes „Die Leiden des jungen Werthers“ ist ein Klassiker der Weltliteratur. Er steht aber auch exemplarisch für das Leiden der Lernenden an schulischer oder universitärer Pflichtlektüre.
Von Christine Magerski und Gerald Hühner
In Kroatien gehört der „Werther“ in übersetzter Fassung zum Kanon des muttersprachlichen Literatur-Unterrichts, in der Germanistik und Deutschlehrerausbildung ist er in der Originalfassung Pflichtlektüre. Die sprachlichen und kulturhistorischen Hürden, die dabei von den Lernenden und Studierenden überwunden werden müssen, liegen hoch.
Dabei bietet der Text eine Vielzahl von Möglichkeiten, an hoch aktuelle Themen anzuknüpfen und dazu ein enormes Aktivierungspotential mit interdisziplinären Synergien. Die folgenden Ideen, Fragen und Anregungen können dabei helfen, dieses Potential im Unterricht zu nutzen:Motivierende Zugänge zu Werthers Welt
Ein vorentlastendes Warmup bietet sich zum Beispiel im Sortiment von „Sommers Weltliteratur to go“ an, einer Video-Reihe mit Playmobil-Figuren, die mit zahlreichen Texten der Weltliteratur spielt. Darin eröffnet auch „Werther to go!“ einen gewitzten Zugang zur Beschäftigung mit dem Original.
Die Reihe „Musstewissen Deutsch“ bezieht sich in Videos auch auf den „Sturm und Drang“ als „Pubertät der deutschen Literatur“, auf ihr politisches und kulturelles Umfeld. Auf der Basis dieser Kenntnisse können zahlreiche CLIL-Aktivitäten folgen, und dies auch als bilinguales Team-Teaching. Die praktische Beschäftigung etwa mit Montgolfièren, optischen Flügeltelegraphen, galvanischen Experimenten, Lithografien und Dampfmaschinen kann „Highlights“ der „Werther-Zeit“ anschaulich und nachhaltig vergegenwärtigen.
Die Lernenden empfinden vor allem die Sprache des Werthers als sperrig. Zur Erleichterung des Verständnisses lässt sich – auch als Komplexitätsreduktion - mit Visualisierungen arbeiten. So zum Beispiel im Kontext von spezifischen Naturerfahrungen Werthers als Spiegel seiner Seelenzustände (Frühling – Herbst). Die Suche nach passenden Aufnahmen (besonders geeignet mit regionalem Bezug), die Nutzung eigener Fotografien und Videos, die Produktion eigener Bilder oder etwa auch von Collagen kann die Lektüre vorbereiten und unterstützen.
Dabei sollte die Auswahl von Bildmotiven immer begründet werden, - zur Erweiterung und Festigung des Wortschatzes, als Training der Argumentation.
Ähnlich bietet sich auch eine musikalische Interpretation von Werthers Gefühlen und Stimmungen an, am besten im interdisziplinären Diskurs von Lehrkräften. YouTube-Videos sind dabei eine unerschöpfliche Quelle.
Durch lautes, interpretierendes LESEN, kann ein Zugang auch zu Stil und Funktion der Werther-Sprache gefunden werden.
Werther in aktuellen Themenkreisen
Ausgewählte Briefe (Passagen) könnten Impulse für zahlreiche Aktivitäten liefern, die das Verständnis vorbereiten, erleichtern und vertiefen. Um nur einige Themenkomplexe zu nennen:- Themenkomplex „Authentizität“: Schon das „VORWORT“ verbindet die Frage nach der Bedeutung von Informationen mit der Frage nach der Authentizität – oder der Fiktion der Authentizität –des Textes. Dient Fiktion hier der Produktion erhöhter Aufmerksamkeit („Werther“ und „Ossian“ sind fiktional)? Was meint überhaupt authentisch? Warum sollte etwas vor allem aufgrund seiner Authentizität interessant sein? Aktualisiert: Was ist Sinn der Produktion und Wirkung von „Fake news“?
- Themenkomplex „Reise“: Nach dem Motto: „Ich bin dann mal weg!“, sind heute viele unterwegs. Warum reiste Werther? Woher kommt heute das Fernweh, die Sehnsucht nach dem Fremden – und dann im Gegenzug auch wieder das Heimweh und die Sehnsucht nach dem Nahen und Bekannten?
- Themenkomplex „Leiden an und in der Gesellschaft“: Werther konstatiert, er habe einen Verdruss gehabt, der ihn wegtreiben werde. Es geht um eine Exklusionserfahrung. Kann man auch heute noch in „falsche Kreise“ geraten, von „richtigen“ ausgeschlossen sein? Wie funktionieren soziale Exklusion und Inklusion heute? Stichwort: Die „Krankheit zum Tode“ – Gerade in Zeiten einer enorm beschleunigten Verbreitung von Informationen in sozialen Netzwerken, Blogs, Foren, stellt sich die Frage: Wie reagieren, wenn man von einem jungen Menschen liest, dass er sich „eine Kugel vor den Kopf schießen möchte!“ Beispiele aus Alltag und Pop-Kultur sind bekannt, machen geradezu Karriere („Club 27“). Amy Winehouse: They tried to make me go to rehab but I said ´No, no, no!`“ Ein unter Jugendlichen breit rezipierter Roman, insbesondere als Fernsehserie, ist: „Tote Mädchen lügen nicht“ („13 Reasons Why“). Text und Serie haben großes Lob, aber auch Ablehnung erfahren. Weitgehend herrscht Übereinstimmung, dass Themen wie Mobbing, Gewalt, sexuelle Belästigung, Vergewaltigung und letztlich Suizid zwar sehr sensibel behandelt werden müssen (Stichwort: Werther-Effekt), aber nicht tabuisiert werden dürfen. Kann man sich der Beschäftigung mit dem Thema verschließen, wenn es allgegenwärtig und, im Falle des „Werther“, curricular als schulische Aufgabe vorgegeben ist?
Quellen und Literatur
Goethe (Kommentare zu Christoph Friedrich Nicolai: Freuden des jungen Werthers; 1775):
- Nicolai auf Werthers Grabe (1775)
- „Die Leiden des jungen Werther“ an Nicolai (1775)
- Kapitel in „Dichtung und Wahrheit“ (1808 – 1831):
http://gutenberg.spiegel.de/buch/freuden-des-jungen-werthers-3826/7
Franziska Walther & J. W. v. Goethe: Werther Reloaded. Klassiker neu erzählt, Verlag Kunstanstifter Mannheim 2016