Hans Otte * 3.12.1926 in Plauen -
† 25.12.2007 in Bremen
Der deutsche Komponist, Pianist, Multimedia-Künstler und Rundfunkredakteur Hans Otte (1926–2007) ist in Portugal noch immer kaum bekannt. Als Leiter der Musikabteilung von Radio Bremen hatte er jedoch maßgeblichen Einfluss auf Verbreitung und Produktion zeitgenössischer Musik im Westeuropa der Nachkriegszeit (1959–1984). Sein Klavierzyklus Das Buch der Klänge gilt als Schlüsselwerk der Klavierliteratur des 20. Jahrhunderts.
von Ingo Ahmels
Hans Günther Franz Otte, geboren am 3. Dezember 1926 im vogtländischen Plauen, entstammt einer Apothekerfamilie und wuchs bei Wrozlaw [Breslau] auf. Schon mit fünf Jahren war er fasziniert von den Künsten, ersann Dramen und inszenierte sie auf selbstgebauten Miniaturbühnen. Die pianistische Grundausbildung erhielt er seit Mitte der 30er Jahre bei Bronislaw von Pozniak. Seither komponierte er Klavier und Instrumentalstücke, mit neun ein Klavierkonzert, mit 14 eine 1. Symphonie. Mit 16 wurde er zum Reichsarbeitsdienst in die Tschechoslowakei, und ein Jahr später als Funker zur Kriegsmarine nach Kiel eingezogen, von wo aus er bis 1945 unter bedrückenden Bedingungen Militärdienst auf der Ostsee leistete. Ab 1946 konnte Otte in Weimar parallel an der Musikhochschule Komposition bei Kurt Rasch, Dirigieren bei Hermann Abendroth, am Bauhaus bildende Kunst, und noch dazu an der Stanislawski Schauspielschule Theater studieren. Im selben Jahr gewann er den Weimarer Staatspreis für Improvisation.
1948-50 setzte er seine Studien in Stuttgart fort (Klavier bei Armin Erfurth, Komposition bei Johann Nepomuk David). 1950-51 ging er an die Yale University in New Haven und studierte Komposition bei Paul Hindemith, darauf Orgel bei Fernando Germani in Siena, verließ jedoch Italien bald wieder, um sich in Stuttgart als Pianist weiterzuentwickeln. Von dort aus nahm er 1954-56 an Walter Giesekings Saarbrückener Meisterkursen teil. Er arbeitete als Klavierbegleiter, Komponist und Konzertpianist; eine erste Schallplattenaufnahme entstand 1955 mit den Berliner Philharmonikern unter Hindemith.
Aus einem Studienaufenthalt in der Villa Massimo in Rom (1959) heraus engagierte Radio Bremen Otte als mit 32 Jahren jüngsten Musikchef der ARD. Hier entfaltete er parallel zur eigenen Künstlerkarriere, besonders im Rahmen der von ihm begründeten Festivalbiennalen “pro musica antiqua” und “pro musica nova” bis 1984, eine epochemachende Tätigkeit als weltoffener Vermittler von Musik und Klangkunst. Mit undogmatischer, auf sinnlich-direkte Vermittlung setzender Präsentation neuer, alter und kulturell differenter Musikkunst machte Otte Bremen über viele Jahre zu einer ersten Adresse der Musikwelt. Oft gegen massiven Widerstand der Gremien vergab Otte, der stets im internationalen Austausch mit der heutigen Spitze anfangs noch kaum bekannter Komponisten, Interpreten, Theaterleute, visueller Künstler und Philosophen stand, folgenreiche Arbeitsaufträge: an die neuen Aufführungspraktiker alter Musik von Stefford Cape bis Nikolaus Harnoncourt, beförderte so die Enstehung von mehr als 100 neuen Werken von Cage bis Stockhausen und die europäische Einführung der jungen amerikanischen Musik von LaMonte Young bis Terry Riley, organisierte Live-Aufführungen und Klaviermusikproduktionen von David Tudor bis Herbert Henck, philosophische Vorträge von Theodor W. Adorno bis Ernst Bloch und initiierte nicht zuletzt eine Vielzahl multimedialer Arbeiten visueller Künstler von Wolf Vostell bis Nam June Paik. Hans Otte lebte von 1959 bis 2007 als Musiker und Intermediakünstler in Bremen (Rundfunkveranstalter bis 1984, Organist und Pianist bis 1998, Text- und Musiktheaterautor, Klanginstallateur, bildender Künstler, Komponist).
Sich auf der Basis verinnerlichter Tradition gelassen und staunend ins unbekannte Neue fortzubewegen – diese Haltung charakterisiert nicht nur Ottes veranstalterisches Ethos, sondern auch seinen Werdegang als Komponist. In seinen von Zweiter Wiener Schule und Serialismus beeinflussten Werken der 1950er und 1960er-Jahre, wie seinen bei der Uraufführung in Donaueschingen ausgebuhten Passages für Klavier und Orchester (1966), verzichtete Otte nie auf die Verwendung konsonanter Klänge, die in den "absolutistischen Neue-Musik-Tempeln" als "politisch inkorrekte Gestaltungsmittel verfemt" waren.
Exemplarisch offenbart sich Ottes traditionsgeschulter Sinn für neuen Klang im zwölfteiligen Klavierzyklus DasBuch der Klänge (1979/82). Unter behutsamer Aufhebung der europäischen Klaviertradition kondensierte er hier (mit Spuren zu Schubert, Chopin, Debussy, Ravel, Satie und der amerikanischen Minimal Music) eine raffinierte, stets fließende Synthese alter und neuer Klang- und Formenwelten. Das Buch der Klänge, eine für Werke zeitgenössischer EMusik geradezu populäre Komposition, wurde bisher – in Ottes eigener Aufnahme von 1983 – weltweit über 20.000fach verbreitet. Dieses z. B. 1997 von Herbert Henck neu eingespielte Werk wird auch im internationalen Konzertleben von immer mehr Interpreten beachtet.
Mit seinem zweiten großen Klavierzyklus Stundenbuch (1991-98) setzt Otte den begonnenen Weg der integrativen Öffnung fort, diesmal das "Wesentliche, scheinbar Einfache" noch stärker fokussierend: Ottes gelebter Dialog mit japanischer ZenTradition, begonnen fast zeitgleich mit der jahrzehntelang währenden Freundschaft zu John Cage, fortgesetzt während mehrfacher Aufenthalte in Japan, führte den Komponisten zu seiner offenen, Hörer wie Interpreten (durchaus im Cage'schen Sinne) "frei lassenden" Klangarbeit, die aleatorischer Technik jedoch nicht bedarf. Gleichsam in der Luft verwurzelt evozieren die 48 beziehungsreichen Miniaturen des Stundenbuchs trotz fast durchgängig beibehaltener Zweistimmigkeit harmonisch komplexe "Klanggewächse". Den vollendeten Zyklus legte Otte 1998 wiederum in eigener Einspielung vor. Hörerfahrung mit den Mitmenschen unmittelbar zu teilen, die Schönheiten des auf sich selbst verweisenden Klangs freizulegen und damit Horizonte für philosophisches Denken und spirituelle Empfindungen zu öffnen – das sind die treibenden Sehnsüchte, die sich auch mit Ottes zahlreichen Multimediaarbeiten verbinden. Seit dem archetypischdirekten Klangobjekt Atem (1972) bis zur raffinierten, Sprachklang in chorische Raummusik transformierenden Arbeit Namenklang (1995) entwickelte Otte diese Werkgruppe ständig weiter. Formal präzis bedienen sich Ottes beinahe 50 Klanginstallationen, Skulpturen, Licht und Klangenvironments, Bildserien, Videos und nicht zuletzt bisher 17 Musiktheaterstücke eines für ein und dieselbe Person überaus weit gespannten Spektrums künstlerischer Gestaltungstechniken. Ottes Werkverzeichnis weist bereits über 100 Arbeiten aus.