Paweł Zarychta empfiehlt
Stern 111

Lutz Seiler, Stern 111 © 2020, Suhrkamp Verlag, Berlin Man möchte denken, dass 30 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung schon alles über diese Zeit des großen Umbruchs gesagt und das Thema in der Literatur längst verhallt ist. Dass dies alles andere als wahr ist, beweist Stern 111, der neueste Roman von Lutz Seiler. Auf über 500 Seiten entspinnt er eine vielgliedrige Erzählung über die Geschicke der aus dem ostdeutschen Gera stammenden Familie Bischoff. Wir begegnen ihr zur Zeit des Mauerfalls und der Öffnung der innerdeutschen Grenze, als Carl, die Hauptfigur, seine Eltern an einen der Grenzübergange zur Bundesrepublik bringt, während er selbst für den Fall eines möglichen Scheiterns ihrer Pläne im heimatlichen Thüringen bleiben soll. Die Eltern – Inge und Walter – versuchen in der neuen kapitalistischen Wirklichkeit zurechtzukommen, nehmen verschiedene Gelegenheitsjobs an, um schließlich, geleitet von einem Jugendtraum und -geheimnis, in die USA auszuwandern.

Währenddessen bricht Carl, anstatt wie versprochen nach Gera zurückzukehren und sich dort um das Elternhaus zu kümmern, mit dem alten Shiguli des Vaters nach Berlin auf, das sich gerade zur Welt öffnet. Ohne einen Pfennig in der Tasche taucht er ein in die bunte Halbwelt der Hausbesetzer und der Künstlerszene um die Kultkneipe „Assel“, um nach schweren Anfängen immer fester in dieser besonderen Stadt mit ihrem ganz eigenen Klima Fuß zu fassen. Carls Geschichte wird damit gewissermaßen zu einer persönlichen Chronik der ersten Jahre des sich nach 1989 vereinigenden Berlin, einer Randnotiz zum großen historischen Wandel.

Lutz Seilers neuestes Buch ist hervorragende, reife Prosa, die sich ganz wie bei Fontane durch langsame epische Abbildung, ironische Distanz, aber auch eine deutlich wahrnehmbare Sympathie für seine Figuren auszeichnet. Dazu kommt die Kenntnis der Verhältnisse, Orte und Menschen im damaligen Berlin, die auf überaus sinnliche Weise heraufbeschworen werden. Trotz der Situierung in einem konkreten geschichtlichen Kontext kommen Aktualität und Überzeitlichkeit dieses Werks gerade heute besonders zum Tragen – angesichts der uns von überall her umgebenden Krise und der immer fließender werdenden Wirklichkeit.

Suhrkamp Verlag

Lutz Seiler
Stern 111
Suhrkamp Verlag, Berlin, 2020
ISBN 978-3-518-42925-9
528 Seiten

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Rezensionen in den deutschen Medien:
Perlentaucher
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Zeit Online