Christoph Bartmann empfiehlt
Nachtleuchten

Maria Cecilia Barbetta - Nachtleuchten © S. Fischer Verlag Viele Jahre muss Maria Cecilia Barbetta an diesem Roman laboriert haben, ihrem zweiten nach der viel gelobten „Änderungsschneiderei Los Milagros“ von 2008. Die vielen Stipendien- und Residenzgeber, denen die Autorin eingangs dankt, bezeugen die Länge und vielleicht auch Mühe der Strecke, an deren Ende nun „Nachtleuchten“ steht, das fertige Werk und zugleich das Protokoll seiner Probleme. Noch einmal hat sich Barbetta thematisch in ihren Herkunftsort Buenos Aires vertieft, genauer in den nördlichen Vorort Ballester, in dem sie selbst aufwuchs. Und wieder ist ihr Schreiben befeuert von einer großen Begeisterung, einerseits für die deutsche Sprache, andererseits für die literarischen Traditionen Südamerikas, die mit dem Schlagwort „Magischer Realismus“ unzureichend beschrieben wären. Mit den Schrumpfformen dieser Schule, man denke an Isabel Allende, hat Barbetta jedenfalls nichts im Sinn; eher dann schon mit Julio Cortázar und einem Hang zum Imaginativen und Übersinnlichen, der ohne Verankerung im Katholizismus nicht zu denken ist. Aber der Spuren, Fährten und Verweise sind so viele in diesem Roman, dass man sie in einer Lektüre sowieso nicht alle verarbeiten kann.

Eigentlich hat Barbetta drei kürzere Romane geschrieben, die von Leuten im Ballester der Jahre 1974/75 erzählen. Wir befinden uns im Todesjahr des eben erst aus dem Exil zurück gekehrten Diktators Perón. Seine Witwe Isabel, bar jeder Eignung, aber ausgestattet mit spiritistischen Neigungen, wird ihm ohne Wahlen nachfolgen. Ein Schauspiel, das dann zwei Jahre später die Militärs brüsk beenden werden. Davon erzählt der Roman nicht, er bleibt in Ballester und bei den so genannten kleinen Leuten, ihren „Sorgen und Nöten“, vor allem aber bei ihren Wünschen und Hoffnungen. Es gärt in Ballester und anderswo, wir sehen uns versetzt in ein Laboratorium der gesellschaftlichen Umwälzung, in dem sich vielerlei Impulse mischen, realistische ebenso wie fantastische. Der Reihe nach geht es um eine katholische Mädchenschule, in der ein paar Schülerinnen das Zweite Vatikanum auf eigene Faust verwirklichen wollen, etwa in Gestalt einer nachts von Haus zu Haus wandernden fluoreszierenden Madonnengestalt, die das titelgebende „Nachtleuchten“ erzeugt. Dann beobachten wir einige Kleingewerbetreibende, Automechaniker, Friseure bei ihren Verrichtungen und mehr noch ihren Unterhaltungen. „Autopia“ heißt bezeichnenderweise die Autowerkstatt, nebenbei oder hauptsächlich eine Brutstätte dissidenter politischer Ideen. Im dritten und letzten Teil schließlich macht sich eine Gruppe von Schulkollegen daran, die Geheimnisse des Spiritismus zu lüften, auch das eine politische Angelegenheit, wenn schon die Präsidentin selbst ihre Inspiration aus Séancen erfährt.

Man stellt bald fest, dass die einzelnen Teile nur lose zusammenhängen. Keine aufregende Handlung verbindet sie, kein Rätsel drängt nach Auflösung. So dicht das Motivnetz des Romans auch geflochten ist, so sehr das ganze Geschehen auch um Fragen des Wunders und seiner Realisation im Alltag kreist: es kreist eben statt sich zu entwickeln. Dass Barbetta am Ende einen Roman in drei Büchern verfasst hat, mag damit zu tun haben, dass keine der drei Geschichten wirklich das Zeug zum „großen“ Roman hat: es passiert ja auf den 522 Seiten vor allem auf der Mikroebene Aufregendes. Und zwar auf jeder Seite, die Barbetta mit ihrer tatsächlich wunderschönen deutschen Prosa füllt. Die Autorin bekennt in Gesprächen gerne, dass sie die deutsche Sprache, die nicht ihre Muttersprache ist, liebt und in keiner anderen Sprache, auch nicht in Spanisch, schreiben möchte. Die deutsche Sprache liebt jedenfalls Maria Cecilia Barbetta in gleicher Weise zurück. Es gibt nicht viele Gegenwartsautorinnen, die so erfinderisch, farbig und kühn schreiben können wie sie. Unweigerlich drängt sich bei ihr das Sprachliche vor jeden Inhalt, einfach weil es so reich und dicht ist. Der Roman lebt eigentlich von diesem Überschuss in der Artikulation, der sich in typographischen Experimenten, Illustrationen, Löschungen oder der aparten Einteilung in 3 mal 33 plus einem finalen Kapitel niederschlägt. Man kann das für manieriert halten und dem Text das Überproduzierte vorhalten. Aber hier begrüßen wir das Manierierte als Stil, als Manierismus, Ausdruck eines überbordenden Gestaltungswillens, hinter dem das Gestaltete ein bisschen verblassen muss.

Man braucht Geduld, um sich durch diesen langen Roman zu arbeiten, der einen Seite für Seite mit seiner unermüdlichen Erzähl- und (hier passt das Wort vielleicht einmal) Fabulierlust erfreut und der gleichzeitig die Durchsicht auf die erzählte Welt vielleicht unnötig erschwert.
 

Maria Cecilia Barbetta
Nachtleuchten
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2018
ISBN 978-3-10-397289-4
522 Seiten