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Leserinnen und Leser sehnen sich überraschend oft nach einer geheimnisvollen Insel, wenn sie ein Buch in die Hand nehmen. Ich kenne kaum Schriftstellerinnen oder Schriftsteller, die in ihrem Leben nicht wenigstens eine Erzählung über eine Insel geschrieben hätten. Doch so dankbar diese Aufgabe auch sein mag, so schwierig ist sie auch aus der Perspektive der Schriftstellerfantasie. Was könnte man denn noch Neues über das isolierte Inselleben sagen? Warum könnte die Welt einer von deutschen Touristen überlaufenen spanischen Insel, in diesem Fall Teneriffa, interessant sein? In Inger-Maria Mahlkes mittlerweile mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Roman fungiert das Touristenparadies nur als Kulisse. Die Probleme liegen in der Tiefe, an von schönen Frühlingsblumen überdeckten und vom türkisblauen Meerwasser überspülten, unsichtbaren Orten, in den dahintreibenden Leben der örtlichen Familien und in der Vergangenheit der Mitglieder dieser Familien. Hinter der fantastischen und attraktiven Landschaft verbergen sich winzige Momente und eine sorgsame, haarscharfe Illustration der menschlichen Beziehungen – aus alledem entfaltet sich ein großes Werk, und genau das ist für mich an diesem Buch so faszinierend.
Inger-Maria Mahlke wurde in Hamburg geboren und ist Juristin, als Kind verbrachte sie ihre Urlaube auf Teneriffa, woher ihre Mutter stammt. Mahlke kennt demnach den Ferienort des deutschen „geordneten” Bürgertums gut, welches hier auf die spanische koloniale Mentalität trifft. Archipel erzählt genau hundert Jahre aus dem Leben von drei Familien. Anhand dieser Familien bekommt man einen Einblick in das Alltagsleben und die engmaschige, von Tragödien durchzogene Vergangenheit dreier verschiedener gesellschaftlicher Schichten. Die Komposition ist wirklich bravourös! Die Handlung des Romans steckt voller spannender Wendungen. Schon am Beginn des Buches erfährt man, dass „Archipel” der Name einer nicht existierenden Insel ist, die einmal entstehen soll. Ein Ort ohne Vergangenheit und Wurzeln, wo jeder glücklich sein kann. Nur dass sich herausstellt, dass es eine solche ersehnte Insel nirgends gibt, so wie auch keine menschlichen Beziehungen ohne Vergangenheit und Wurzeln existieren. Dieser Roman ist ein Meisterwerk der Alltagssituationen, Dialoge und Beziehungen. Seine Kapitel erinnern an Filmetüden: Die einzelnen Teile bieten jeweils einen Einblick ins Leben einer (fehlbaren) Figur, dann folgt ein klarer Schnitt, und im nächsten Kapitel findet man sich in einer ganz anderen Situation wieder. Man weiß nie, was passieren wird, wer sich worin verstrickt, und auch die Dialoge zwischen den Figuren bringen, ähnlich wie im Nouveau Roman, stets neue Wendungen. Nicht immer kann ich mich so sehr für preisgekrönte Bücher begeistern, doch Inger-Maria Mahlke hat den Deutschen Buchpreis 2018 meines Erachtens zweifelsfrei verdient erhalten.
Inger-Maria Mahlke
Archipel
Rowohlt, Hamburg, 2018
ISBN: 978-3-498-04224-0
432 Seiten