Freiheit, Ideen und Körper
Ein slowenischer Frauenchor in Paris
Bewegungsfreiheit und freier körperlicher Ausdruck sind eine Bedingung für Meinungsfreiheit. Der slowenische Frauenchor Kombinat zeigte den Pariser Bürger*innen, warum Gesang im öffentlichen Raum eine echte Protestkultur ist.
Von Mériam Korichi
Der freie Austausch von Ideen hängt unmittelbar mit der Bewegungsfreiheit und dem ungehinderten körperlichen Ausdruck von Ideen zusammen. Wie Ideen ausgedrückt werden können, muss auch und gerade im Zeitalter der digitalen Überkommunikation gründlich untersucht werden.
Die Ausdrucksweisen von Ideen und ihre Vielfalt innerhalb Europas und einer pluralistischen Welt müssen der Erfahrung einer physischen Kopräsenz unterliegen.
Geht man der praktischen Frage des Erlebens von individueller Freiheit nach und dem Einfordern und Verteidigen von Freiheit im heutigen Europa, wird deutlich, wie hier Performances oder darstellende Darbietungen einen wesentlich Beitrag leisten: Sie zeigen das Potenzial individueller Körper im öffentlichen Raum und auch, wie sich die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit durch körperliche Ausdrucksformen wecken lässt. Mit Gesang kann beispielsweise die tatsächliche Macht von Individuen verdeutlicht werden. Der körperliche Ausdruck wird zur unablässig mobilisierbaren Ressource gegen Missbrauch durch insbesondere die politische und institutionelle Macht sowie gegen Einschränkungen des freien Zugangs zum öffentlichen Raum und seiner freien Nutzung in unseren Städten von heute.
Die Forderung nach Freiheit oder Freiraum
Der 50. Jahrestag zu den Ereignissen von 1968 bot eine ideale Gelegenheit, um die Forderung nach Freiheit oder Freiraum in einen hoch aktuellen europäischen Kontext zu stellen: Wie können wir frei leben in einem eingeschüchterten Europa, das zwischen wirtschaftlichem, sozialem, migratorischem und national(istisch)em Druck hin- und hergerissen ist? Den Rahmen dafür bildete das von den Goethe-Instituten Paris und Ljubljana initiierte Freiraum-Projekt im Juni 2018: In Zusammenarbeit mit der Begründerin der Nuits de la philosophie, Mériam Korichi, und der slowenischen Journalistin Maja Ziberna luden beide Goethe-Institute den slowenischen Frauenchor Kombinat nach Paris ein.Der 2008 in Slowenien gegründete Chor zeigt beispielhaft, wie vielfältig und durchsetzungsfähig die weibliche Zivilgesellschaft in ihren Forderungen ist. Die Sängerinnen stammen aus allen Ecken des Landes und gehen den verschiedensten Berufen nach – sie sind Lehrerinnen, Anwältinnen, Sozialarbeiterinnen, Archäologinnen, Biologinnen, Sekretärinnen, Buchhalterinnen, Studentinnen, Journalistinnen, Wirtschaftsexpertinnen oder auch Wissenschaftlerinnen. Ihr Chor interpretiert politische und revolutionäre Lieder, darunter insbesondere Lieder von Widerstandsbewegungen unterschiedlicher Länder in den jeweiligen Originalsprachen. Kombinat lässt durch seinen Gesang die Geschichte neu auferstehen und verbrüdert sich mit den Kampf- und Widerstandsbewegungen in aller Welt.
Diesen Frauenchor nach Paris einzuladen und in den Straßen der Stadt auftreten zu lassen, ermöglichte eine noch nie dagewesene und spontane Begegnung mit den Pariser*innen.
Der französische Philosoph Alain Badiou beschrieb den Mai 1968 metaphorisch als „einen vielstimmigen, häufig atonalen Chor, anstatt ein[es] stimmige[n] Ensemble[s] von Solisten“. Im Gegensatz dazu kam Kombinat nach Paris, um in wortwörtlich makelloser Einstimmigkeit in dieser noch immer geschützten und zudem stark auf ihr Kulturerbe bedachten Stadt aufzutreten, und zwar genau am Schnittpunkt der Erinnerungen an das 20. und den Umbrüchen und Forderungen des 21. Jahrhunderts.
Eine Route durch das 16. Pariser Arrondissement
Die Wahl des Streckenverlaufs für den Auftritt von Kombinat fiel auf das 16. Arrondissement. Warum? Dank dieser Entscheidung war es möglich, dem 50. Jahrestag der Ereignisse vom Mai 1968 zu gedenken, ohne sich auf die traditionell bekannten Spuren der damaligen Revolte (Rive Gauch, Quartier Latin) zu begeben. Dadurch wurde eine unmittelbarere Auseinandersetzung mit der sozialen und politischen Situation unserer Gegenwart erleichtert. Tatsächlich spielte das 16. Arrondissement im Mai ‘68 eine sehr untergeordnete, ja vernachlässigbare Rolle. Zwar zog am 7. Mai 1968 eine beeindruckende Studentenmenge von der Place Denfert-Rochereau kommend über das rechte Seine-Ufer, ließ das Palais Bourbon links liegen („Die Macht geht von der Straße aus!“) und schob sich zur Verwunderung der Anwohner weiter die Champs-Elysées hinauf, rote und schwarze Flaggen schwenkend und unter hochgestreckten Fäusten die Internationale singend auf ihrem Weg zur Dalle du Soldat Inconnu am Triumphbogen. Doch kam das Geschehen in Wirklichkeit nie über die Place de l'Etoile hinaus. Das 16. blieb erstaunlicherweise äußerst ruhig, glich viel mehr einem Provinzstädtchen im August, wie in den Zeitzeugenberichten nachzulesen ist. Das einzige Gebäude, das im Mai ‘68 im 16. Arrondissement besetzt wurde, befand sich in der Avenue d’Iéna Nr. 60bis und beherbergte damals den nationalen Fußballverband Fédération Française de Football. Seine vorübergehenden Besetzer waren jedoch Amateurfußballer, die zweifelsfrei weniger forsch auftraten als ihre studentischen Mitdemonstranten.Und wie sieht es heute aus? Welche symbolträchtigen Orte machen heute in diesem Stadtviertel auf Debatten um das Thema Freiheit aufmerksam? Das Pariser Goethe-Institut als Hauptverantwortlicher des Projekts Freiraum befindet sich ausgerechnet in der Avenue d’Iéna Nr. 17 im 16. Arrondissement und bildet den Endpunkt der vorgesehenen Strecke, die der Chor zurücklegte.
Kombinat, vom Trocadéro in die Avenue d’Iéna
Am 16. Juni 2018 führte Kombinat an drei Stationen im 16. Arrondissement ein gutes Dutzend Lieder auf. Die erste Station bildete die Esplanade du Trocadéro bzw. der Vorplatz der Freiheiten und Menschenrechte, wie diese noch genannt wird. Um 16 Uhr kam der Chor am Trocadéro an und tat sich spontan mit Menschenrechtlern aus Togo und Gabun zusammen, die dort in großer Zahl erschienen waren und die ihre Mikros für ein spontanes gemeinsames Konzert zur Verfügung stellten. Es wurden vier Revolutionslieder dargeboten, darunter Power to the people sowie Noi vogliamo l’uguaglianza. Umringt von den Demonstranten und mit dem Eiffel-Turm im Rücken zog Kombinat die Aufmerksamkeit der Passanten und Touristengruppen auf sich.Palais Galliera : Konfrontation von revolutionärer Mode und Politik
Danach setzte sich der Chor wieder in Bewegung und machte in den Gärten des Palais Galliera zum zweiten Mal Halt, wo er von den Pariser Stadtbeamten bereits enthusiastisch erwartet und von den anwesenden bzw. hinzukommenden Personen erstaunt und herzlich empfangen wurde, die schließlich sogar in die drei dargebotenen Lieder miteinstimmten, darunter Bella ciao. Die Gärten des Palais Galliera waren ausgewählt worden, weil sie einerseits öffentlich zugänglich sind und andererseits dem Palais Galliera gegenüberliegen, das heute das Museum für Mode beherbergt. Hier wurde zeitgleich Martin Margiela, der als Revolutionär der Mode der letzten 20 Jahre gilt, mit einer Ausstellung gewürdigt.Die Gelegenheit, diese Themen mithilfe eines Frauenchors anzusprechen, der politisch-revolutionäres Liedgut zum Besten gibt, erschien stimmig und vielversprechend.