Die Familien der Rosenstraße
„So viele Frauen – das war eine richtige Demonstration!“
Die Protagonist*innen des Rosenstraßeprotests sind die Familien, die von der Gestapo zerrissen wurden – sowie die Ehefrauen und Mütter, die ihre Männer verteidigt haben. Hier einige ihrer Geschichten.
Von Kathrin Engler
Die Familie Abraham
Der Protest wuchs, die Frauen protestierten Tag und Nacht unter unglaublichen Gefahren. Goebbels sah sich nun mit etwas Unerhörtem konfrontiert, einer Anti-Nazi-Straßendemonstration. [...] Da standen sie, meine tapfere Mutter in ihrer Mitte, unbewaffnete Frauen, auf die Gewehre gerichtet, und niemand rührte sich.
Katrin Balaban
Anni Abraham | Foto: mit freundlicher Genehmigung von Katrin Balaban Das Leben der Familie Abraham verschlechterte sich massiv, als die Nazis an die Macht kamen. Jaques verlor seine Arbeit, und Anni musste mehrere Jobs annehmen, um die Familie über Wasser zu halten.
Anni Abraham geriet zunehmend unter Druck, sich von Jaques scheiden zu lassen, wie die meisten Frauen in „gemischten“ Ehen. Manche Frauen hatten diesem Druck nicht standhalten können. Anni hielt jedoch zu ihrem Mann. Die Ehe von Jaques und Anni fiel unter die nationalsozialistische Kategorie der „privilegierten Mischehe“. Deshalb wurde Jaques nicht sofort in ein Konzentrationslager deportiert, sondern musste Zwangsarbeit leisten. Dieser „privilegierte“ Status endete im Februar 1943, als Reichspropagandaleiter Joseph Goebbels beschloss, die restlichen in Berlin lebenden Juden – einschließlich derjenigen aus „Mischehen“ – festzunehmen.
Jaques Abraham wurde verhaftet und in dem ehemaligen jüdischen Gemeindezentrum in der Rosenstraße festgehalten. Anni war eine der ersten Frauen, die vor dem Gebäude die Freilassung ihres Mannes forderte. Die Demonstration wuchs, die protestierenden Frauen blieben trotz der unglaublichen Gefahr Tag und Nacht vor dem Gebäude. Goebbels befahl zunächst, die Demonstranten zu entfernen, aber selbst als die SS ihre Gewehre auf sie richtete, rührten sich die friedlichen Demonstranten nicht. Aus Angst, dies könnte weitere Unruhen auslösen, holte Goebbels Hitlers Zustimmung zur Freilassung der Männer ein.
Jaques Abraham auf seinem Motorrad | Foto: mit freundlicher Genehmigung von Katrin Balaban Jaques Abraham überlebte das Naziregime und gründete nach Kriegsende einen Sanitätsdienst. 1949 verließen die Abrahams Deutschland und emigrierten in die USA, wo sie sich in Brooklyn, New York, niederließen. Katrin heiratete später Larry Balaban, einen jüdischen Amerikaner.
Die Familie Gottschalk
Meta und Michael sind schon eingeschlafen.
Joachim Gottschalk
Joachim Gottschalk mit seinem Sohn Michael | Foto: mit freundlicher Genehmigung der Rosenstrasse Foundation Der Schauspieler Joachim Gottschalk (geb. 1904) war in den 1920er und 1930er Jahren einer der bekanntesten und beliebtesten Schauspieler in Deutschland.
Im Jahr 1930 heiratete er die Schauspielerin Meta Wolff, die als Jüdin geboren worden war und nach der Hochzeit zum Protestantismus übertrat. 1933, im selben Jahr, in dem Hitler an die Macht kam, bekamen die beiden ihren Sohn Michael. Meta Wolff galt trotz ihrer Konvertierung zum Christentum nach dem NS-Gesetz als Jüdin und durfte daher nicht mehr als Schauspielerin arbeiten. Im Mai 1936 versuchten die Nazis, auch Joachim Gottschalks Arbeit am Theater zu verhindern. Er sollte sich von seiner Frau scheiden lassen.
1937 wandte sich der Gaupropagandaleiter von Hessen-Nassau in einem Brief an den Intendanten des Frankfurter Theaters, um seine Empörung darüber zum Ausdruck zu bringen, dass Joachim Gottschalk in der ersten „Gau-Kulturwoche“ mitspielte. Er forderte Gottschalks Entfernung aufgrund seiner „jüdischen Beziehungen“. Im Januar 1938 wurde Joachim Gottschalk vom Frankfurter Theater entlassen, spielte aber an einem Berliner Theater weiter und baute zudem bis Mai 1941 eine beeindruckende Filmkarriere auf, die ihn zu einem der erfolgreichsten Schauspieler des Landes machte. Joseph Goebbels, Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, erfuhr 1941 davon, dass Joachim Gottschalk die Hauptrolle in dem Film Die Goldene Stadt spielen sollte. Er zeigte sich schockiert darüber, dass der berühmte Schauspieler weiterhin mit einer Jüdin verheiratet war. Göbbels forderte, dass Gottschalk sich von seiner jüdischen Frau trennen sollte. Als dieser sich weigerte, ordnete Goebbels an, dass der Schauspieler auf eine „schwarze Liste“ gesetzt werden sollte bis er sie scheiden lassen würde.
Joachim Gottschalk und Meta Wolff mit ihrem Sohn Michael | Foto: mit freundlicher Genehmigung der Rosenstrasse Foundation Am 6. November 1941 beendeten Joachim und Meta ihr Leben und das ihres Sohnes, indem sie Schlafmittel einnahmen und den Gashahn in der Wohnung öffneten. Die Nazi-Zensur versuchte, den Tod der Familie geheim zu halten, doch trotz ausdrücklicher Verbote nahmen Gottschalks Kollegen an seiner Beerdigung teil. Zwei Wochen später wies Hitler Goebbels an, eine „energische Politik gegen die Juden“ zu betreiben. In Bezug auf „Mischehen“ sollte Goebbels „etwas zurückhaltend vorgehen“, insbesondere „in Künstlerkreisen“. Goebbels und Hitler bemühten sich um eine Taktik, die Unruhen in der Bevölkerung verhindern und dem Ansehen Hitlers nicht schaden sollte.
Die Familie Holzer
Die Menschen strömten hin und her. Die Straße war voll. Diese kurze kleine Straße war schwarz von Menschen. Sie waren wie eine Welle, und sie bewegten sich wie ein Körper, ein schwankender Körper.
Elsa Holzer
Rudi Holzer stammte aus einer Familie säkularer Juden, die ihre Kinder katholisch taufen ließen. Rudi war als Kind in der katholischen Kirche aktiv, unter anderem als Chorknabe und Messdiener. Mit zwölf Jahren wollte er Mönch werden. Als er älter wurde, änderte sich das jedoch, da er „ein Auge auf die Damenwelt“ geworfen hatte und heiraten wollte.
Zu Beginn des Ersten Weltkriegs war Rudi 17 Jahre alt und meldete sich freiwillig zur österreichischen Armee, um seinen „patriotischen Wert“ zu beweisen. Nach dem Krieg absolvierte er eine Ausbildung als Drucker und Schriftsetzer. Da er sich mit seinem Vater nicht einigen konnte, wie er das wachsende Familienunternehmen führen sollte, zog er nach Berlin.
Als der Ehemann vpn Elsa Holzer (Rudi) in der Rosenstrasse festgehalten wird fragte sie einen Offizier, ob er ihm ein Sandwich geben könnte. In dem Inneren des Sandwich versteckte sie eine Nachricht: “Lieber Rudi, ich wünsche dir alles Gute. Ich werde dich immer lieben. Deine Elsa.” | Foto: mit freundlicher Genehmigung der Rosenstrasse Foundation Rudi und Elsa heirateten 1929. Das junge Paar schenkte der Politik und dem sich entwickelnden gefährlichen politischen Klima in Deutschland wenig Beachtung. 1938 annektierte Deutschland Österreich. Die Stimmung in Rudis Heimatdorf wurde zunehmend antisemitisch, zwei Schwester von Rudi wurden von ihren „arischen“ Ehemännern verlassen.
In Berlin war Rudis jüdische Herkunft zunächst unentdeckt geblieben. Das änderte sich, als 1939 eine Postkarte eintraf, auf der er gefragt wurde: „Ist Annegret Schwarz aus Sankt Johann Ihre Schwester?“ Rudi wurde daraufhin offiziell als Jude identifiziert und als Verbrecher bestraft, weil er sich nicht als Jude gemeldet hatte. „Ich habe nicht gewusst, dass ich Jude bin“, sagte er der Polizei. „Alle meine Dokumente sind katholisch.“
Rudi verlor seine Arbeit, und die Mieter ihres Hauses weigerten sich, die Holzers in den Luftschutzkeller zu lassen – mit der Begründung, dass sie die Luft, die die Holzers ausatmeten, nicht einatmen wollten. Elsas Familie mied das Paar und bedrängte Elsa, sich von „ihrem Juden“ scheiden zu lassen. Rudi wurde zur Zwangsarbeit gezwungen. Elsa wurde in das düstere SS-Hauptquartier in der Prinz-Albrecht-Straße einbestellt, wo sie wegen ihrer Ehe bedroht und gedemütigt wurde. Zwischen den Verhören eilte sie mit klopfendem Herzen nach Hause, weil sie dachte, dass die Gestapo vielleicht ihren Mann mitnehmen würde, während sie weg war.
Während der „letzten Razzia“ der verheirateten Juden in Berlin (nach dem Krieg „Fabrikaktion“ genannt) wurde Rudi in die Rosenstraße gebracht. Als Elsa erfuhr, wo ihr Mann inhaftiert war, machte sie sich auf den Weg. Angekommen in der Rosenstraße war sie überrascht, eine große Anzahl von Frauen zu sehen, die in der Kälte warteten: „Die Leute strömten hin und her. Die Straße war voll. Diese kurze, kleine Straße war schwarz vor Menschen. Sie waren wie eine Welle, und sie bewegten sich wie ein Körper, ein schwankender Körper.“ Einige Zeitzeuginnen sprachen rückblickend von bewaffneten Wachen, die riefen: „Räumt die Straße oder wir schießen!“ Elsa erinnerte sich an ein offenes, Jeep ähnliches Fahrzeug, das sich ihnen näherte und Geräusche wie Schüsse von sich gab.
Die Frauen wollten den jüdischen Familienmitgliedern zeigen, dass sie sie nicht im Stich lassen würden. Mit Hilfe eines Polizeibeamten gelang es Elsa, Rudi eine auf Papier geschriebene Botschaft in einem Sandwich zu übermitteln. Sie erinnerte sich an die „echte Freude“, die sie empfand, als sie merkte, dass er die Botschaft bei seiner Entlassung bei sich hatte. Am 8. März wurde Rudi freigelassen. „Wir haben aus dem Herzen heraus gehandelt und siehe da, es hat geklappt“, sagte Elsa.
Die Familie Kuhn
An den Wänden neben dem Laden [stand] ,Jude‘ und der Stern [...]. Was mir damals auffiel [...], war, dass sie in Rot geschrieben waren, und es tropfte noch, das Rot tropfte wie Blut [...].
Rita Kuhn
Die Familie Kuhn gehörte der jüdischen Gemeinde Berlins an. Sie blieben während der Kriegsjahre in Berlin. Fritz Kuhn verlor seinen Job als Bankangestellter und musste Zwangsarbeit leisten, oft 11 Stunden täglich. Die Tochter Rita Jenny Kuhn (geb. 1927) wurde als Zwangsarbeiterin zur Fabrikarbeit eingesetzt. Die gesamte Familie, zu der noch der jüngerer Sohn Hans gehörte, überlebten die Zeit des Nationalsozialismus, litt aber unter den Restriktionen.
Am Morgen des 27. Februar 1943 meldete sich Rita gerade zur Arbeit, als die SS auftauchte und schrie: „Juden raus!“. Rita und andere jüdische Arbeiter wurden in einen Lastwagen verladen und zu einer Sammelstelle gebracht. Dort verbrachte sie den Tag gemeinsam mit Tausenden von anderen Frauen in einem Gebäude. Glücklicherweise wurde Rita von einem SS-Offizier nach Hause geschickt.
Hans und Rita Kuhn | Foto: mit freundlicher Genehmigung von Ruth Wiseman Eine Woche später wurde Rita zusammen mit ihrem Vater Fritz und ihrem Bruder Hans von ihrer Mutter Frieda getrennt und verhaftet. Wie zuvor wartete Rita in einem verschlossenen Raum, der sich langsam mit anderen deutschen Juden füllte. Von dort aus wurden die Kuhns in die Rosenstraße gebracht.
Rita verbrachte eine Nacht mit ihrem Vater und ihrem Bruder in der Rosenstraße, bevor sie am nächsten Tag entlassen wurde. Sie wurde zur Arbeit auf einem Berliner Bahnhof abkommandiert, wo sie bis Kriegsende arbeitete. Auch Fritz wurde zur Zwangsarbeit eingeteilt. In dem Gebäude in der Rosenstraße hörte Rita die Protestierenden.
Rita wanderte 1948 in die Vereinigten Staaten aus. Ihre Familie sollte nachkommen, konnte aber wegen des schlechten Gesundheitszustands ihrer Mutter nicht reisen. Rita Kuhn starb im Jahr 2022.
Die Familie Lewin
Die ständige Präsenz von so vielen Frauen – das war eine richtige Demonstration! Sie haben sogar den nahe gelegenen Bahnhof Börse geschlossen. Aber aus irgendeinem unerklärlichen Grund wurden die Frauen nicht einfach mit Gewalt auseinandergetrieben.
Erika Lewin
In Berlin war die Familie Lewin ein Teil der deutschen Gesellschaft, Gerson wurde trat dem Zentralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens bei. Seine Söhne meldeten sich während des Ersten Weltkriegs freiwillig zur deutschen Armee. Im Jahr 1917 gaben Gerson, Rosalin und ihre fünf älteren Kinder, die alle die amerikanische Staatsbürgerschaft besaßen, diese auf und ließen sich als Deutsche einbürgern. Josef Lewin, der vierte Sohn von Gerson und Rosalin, heiratete 1922 Else Krüger, eine Protestantin aus Oranienburg. Die Eheleute bekamen vier Töchter. Josef arbeitete bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten als Bühnenarbeiter an der Oper Unter den Linden. Er wurde 1933 entlassen, weil er Jude war, und konnte keine neue feste Anstellung finden. Else war bald die Hauptversorgerin ihrer Familie und arbeitete oft von morgens bis abends. 1935 wurden die Nürnberger Gesetze verkündet, die Else sofort unter Druck setzten, ihren Mann und ihre Kinder zu verlassen. Als die Behörden sie aufforderten, sich von Josef scheiden zu lassen, antwortete Else: „Ich habe vier Kinder mit meinem Mann, und ich werde ihn nicht verlassen. Rasse ist Schwachsinn!“
Josef wandte sich an das amerikanische Konsulat, um seine zuvor aufgegebene amerikanische Staatsbürgerschaft wiederzuerlangen. Aufgrund seines Eids auf die deutsche Fahne während des Ersten Weltkriegs im Jahr 1916 wurde ihm die Wiedererlangung der amerikanischen Staatsbürgerschaft jedoch verweigert.
Rosalin Lewin starb 1938 im Alter von 77 Jahren eines natürlichen Todes. Nach und nach gerieten die Mitglieder der großen Lewin-Familie ins Visier der Nazis. Mathilde Lewin und ihr Mann wurden ins Durchgangslager in der Levetzowstraße und von dort in das Konzentrationslager Trawniki in Polen deportiert und im März 1942 ermordet. Emilie Lewin wurde in das Konzentrationslager Ravensbrück gebracht und kam dort im Mai 1942 ums Leben. Gerson Lewin wurde im September 1942 in das Lager Theresienstadt deportiert und kam dort im Alter von 85 Jahren ums Leben. Julie Lewin und ihr Mann wurden im Dezember 1942 in Riga, Lettland, ermordet. Max Lewin und seine beiden Söhne wurden nach Auschwitz deportiert und 1943 ermordet.
Josef und Else Lewins Tochter Erika, die im Gebäude Rosenstraße inhaftiert war, erinnerte sich an die Geschehnisse dort wie folgt: „Die Verzweiflung war ebenso groß wie die Angst, dass die SS uns erschießen würde. [...]. Wir wurden in das Gemeindehaus in der Rosenstraße gebracht. [...]. Fünfzig Frauen und Mädchen in einem großen, leeren Raum im zweiten Stock, wo wir in mehreren Reihen auf dem Boden lagen, zusammengekauert nebeneinander, nur unsere Mäntel als Unterlage. Es gab einen Eimer für den Urin. Ein Eimer für fünfzig Personen und die Fenster waren verschlossen! Wir haben weder gesehen noch gehört, was im oder vor dem Haus geschah. Nur einmal habe ich ein Signal von draußen erhalten. Ein Verwalter fragte mich nach dem Hausschlüssel, sonst würde meine Mutter nicht ins Haus kommen können. Das war natürlich ein Trick von ihr. Auf diese Weise konnte sie sicher sein, dass ich tatsächlich hier war. [...] Die ständige Anwesenheit von so vielen Frauen – das war eine echte Demonstration! Sie haben sogar den nahe gelegenen Bahnhof Börse geschlossen. Aber aus irgendeinem unerklärlichen Grund wurden die Frauen nicht einfach mit Gewalt auseinandergetrieben.“
Nach ihrer Entlassung blieb Erika als Zwangsarbeiterin. Später wurde sie bis zum Kriegsende in versteckt. Josef Lewin starb im Juli 1945, nur zwei Monate nach der Niederlage Nazideutschlands, an einer schweren Krankheit.