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Heimlicher Genuss
Der Eurovision Song Contest als schwule Lebenshilfe

Vorbereitungen für den Eurovision Song Contest in Kiew 2017: Arbeiter malen das sowjetische Denkmal „Bogen der Freundschaft“ in Regenbogenfarben an
Vorbereitungen für den Eurovision Song Contest in Kiew 2017: Arbeiter malen das sowjetische Denkmal „Bogen der Freundschaft“ in Regenbogenfarben an | Foto (Detail): STR © picture alliance/NurPhoto

Große Gesten, seltsame Mode und unwahrscheinliche Dramen: Jede Generation schwuler Männer entdeckt ihr Glück beim ESC für sich aufs Neue. Peter Rehberg erzählt von seiner Kindheit.

Von Peter Rehberg

Für ein schwules Kind, das in den 1970ern in Westdeutschland aufwuchs, gab es nichts Aufregenderes als vor dem Fernseher zu sitzen und den Eurovision Song Contest (ESC) zu gucken. Mit instinktiver Gewissheit verstand ich damals, dass sich vor meinen Augen gerade etwas ereignete, was meine Zukunft betraf und das eigene Leben für immer veränderte. Die nüchterne Umgebung der Reihenaussiedlung in einem der Außenbezirke Hamburgs, in der ich aufwuchs, hatte nichts Vergleichbares zu bieten (außer meine Sammlung von Barbie-Puppen).
 
Ich staunte, fieberte mit und war einmal im Jahr am Samstagabend für drei Stunden vollkommen glücklich. Noch wochenlang summte ich die drei, vier großartigen Lieder mit, die jedes Jahr mindestens dabei waren: A-ba-ni-bi, Save Your Kisses For Me, Ding-A-Dong.
Die holländische Band Teach-In nach ihrem Sieg mit „Ding-A-Dong“ 1975 Die holländische Band Teach-In nach ihrem Sieg mit „Ding-A-Dong“ 1975 | Foto: Rob MieremetAnefo (National Archief) YouTube gab es noch nicht, um sich die Auftritte hinterher – nachts vorm Schlafengehen –allein anzugucken, wie ich es heute noch manchmal mache. Es würde wieder zwölf Monate dauern, bis ich etwas ähnlich Bewegendes erleben konnte. Für mich war der Eurovision Song Contest das schwule Weihnachten.
 

Für drei Stunden vollkommen glücklich

Hier waren große Gesten, seltsame Mode und unwahrscheinliche Dramen nicht Teil eines ausgedachten Spiels mit Puppen oder Momente beim Verkleiden zusammen mit meiner Cousine, wenn wir in die abgelegten Abendkleider meiner Mutter schlüpften, um uns hinterher in diesem Aufzug einer amüsierten Familienrunde bei Kaffee und Kuchen zu präsentieren. Der ESC zeigte keine Jungs oder Männer in Frauenkleidern und war trotzdem eine Art Drag Show. Dass er später sogar eine der wichtigsten Feiern queerer Menschenrechte in Europa werden sollte, davon ließ sich in den 1970ern noch nicht einmal träumen.
 
Musical-Theater, so schreibt der Queer-Theoretiker D. A. Miller, bietet einen emotionalen Exzess, der die Gefühlslage schwuler Männer widerspiegelt. Das heißt vor allem zweierlei: Verkörperungen von Männlichkeit und Weiblichkeit, die ihre Künstlichkeit ausstellen, und Gefühle, die zu groß waren, um in der realen Welt Fuß zu fassen. Sehnsuchtsvoll ließ sich während der Bühnenshow eine Intensität miterleben, die in der sozialen Wirklichkeit einer homophoben Gesellschaft kein Zuhause hatten. Für Generationen von schwulen Männern war das kein Eskapismus, den sie sich am Wochenende mal leisteten, sondern eine Überlebensstrategie.

Wessen Gefühle spielten hier eigentlich eine Rolle?

Was in den USA der Broadway war, übernahm in Europa der Eurovision Song Contest. Hier gab es die erhabenen Diven mit ihren 3-Minuten-Dramen, meistens gesungen auf Französisch: Vicky Leandros Après toi, Séverine Un banc, un abre, une rue und vor allem Marie Miriams L’oiseau et l’enfant, Frankreichs Siegertitel von 1977 – bis heute mein Lieblingslied beim Eurovision Song Contest. Wessen Gefühle hier eigentlich eine Rolle spielten, war nicht so einfach zu sagen. War es meine eigene Sehnsucht nach einem Leben, für das mir die Worte noch fehlten und das nur vorstellbar wurde durch die Identifikation des schwulen Jungen mit einer nicht selten übergewichtigen erwachsenen Frau auf der Bühne, die von ihrem Liebesleid sang?
  Die Französin Severine gewinnt 1971 in Dublin mit dem Titel "A Bench, a Tree and a Street" den Grand Prix Eurovision de la Chanson Die Französin Severine gewinnt 1971 in Dublin mit dem Titel "A Bench, a Tree and a Street" den Grand Prix Eurovision de la Chanson | Foto: UPI © dpa-Bildarchiv
War das meine Geschichte, die Geschichte eines schwulen Kindes, das schon anfing zu begreifen, dass es mit seinem Begehren in dieser Welt nicht ohne Weiteres zurückgeliebt werden wird? Oder war es nicht auch die Geschichte meiner Mutter, deren Glück und Unglück mir in der Intimität, die wir hatten, die ich als Auszeichnung und als Last erlebte, vertrauter erschienen als alles andere auf der Welt? In der schwulen Divenverehrung treten Mutter und Sohn immer zusammen auf.

Heimlicher Genuss im Kreis der Familie

Ins Format des ESC gebracht wurde diese Familienangelegenheit jedenfalls zum Ankerpunkt meiner eigenen Entwicklung. Das schwule Kind sitzt im Kreis der Familie vor dem Fernseher und erlebt heimlich einen Genuss, von dem die Eltern und älteren Geschwister nichts ahnen. Es erfindet sich gerade neu und weiß jetzt, dass es eine Welt gibt, in der es mit seinen Gefühlen nicht allein bleiben muss. Auch wenn ich als Achtjähriger oder Zehnjähriger noch keine Ahnung hatte, wie man da hinkommt, in dieses queere Universum, wie der Weg von der Faszination für den ESC vor dem Fernseher zu einem schwulen Leben in der Wirklichkeit führen kann.
 
Bemerkenswert war auch, dass die queere Eurovisionswelt kein US-Import war. Zwar machten sich seit den 1960ern zunehmend auch dort Musikstile bemerkbar, die von einem globalen US-Stil geprägt waren. Aber der ESC hatte doch seine ganz eigene, europäische Atmosphäre – französische Chansons, holländischer Pop, Italo-Disco. Als Kind träumte ich von Paris, Amsterdam und Rom, nicht von New York. Europa war die weite Welt. Mit dem Eurovision Song Contest lernte ich Französisch und Englisch, bevor ich Jean Genet und Virginia Woolf las. Mit dem Interrail-Ticket vier Wochen im Sommer den Kontinent zu durchkreuzen, als ich 17 war, oder vor dem Studium mit 20 ein halbes Jahr in Italien zu leben: Diese Ideen wurden geboren, während ich als Kind vor dem Fernseher saß und den „Grand Prix“ guckte, wie er damals noch etwas romantisch genannt wurde, bevor das Anglisieren hegemonial wurde.
 
Reiselust und sexuelle Identität gehörten für schwule Männer zusammen. Ein offenes Leben ist an einem anderen Ort, jenseits der sozialen Zwänge zu Hause, immer leichter. Um so zu leben, wie ich es wollte, musste ich Deutschland verlassen. Das ahnte ich schon als Kind. Der Grand Prix hat mich auf die richtige Spur gebracht und meine schwule Sehnsucht geweckt. Meine ersten Liebhaber und Freunde waren Franzosen, Spanier und Italiener. Erst viel später konnte ich mir vorstellen, auch einen deutschen Freund zu haben. Beim Grand Prix habe ich gelernt, schwul zu werden. Dafür halte ich dem ESC, trotz einiger Krisen, bis heute die Treue.

Nur was für Kinder oder verklemmte Erwachsene

Queere Forscher stellen die Frage, ob die schwule Anhänglichkeit an Broadway – oder eben den Eurovision Song Contest – nicht eigentlich ein Zeichen der Unterdrückung sei. Eine nostalgische Fixierung auf das eigne Unglück. Eine Kunstwelt, in die man sich autistisch zurückzieht. Ein emanzipiertes schwules Selbstverständnis hätte nach dieser Logik die Heimlichkeit einer cross-gender-Identifizierung, wie sie Broadway oder Eurovision anbieten, anscheinend nicht länger nötig. Musical oder Eurovision sind nur was für Kinder – oder verklemmte Erwachsene.
 
Dagegen spricht die anhaltende Beliebtheit dieser Genres. Auch nach Stonewall gibt es schwule Fanscharen des Musical-Theaters oder des Song Contests, wie der ESC 2019 in Tel Aviv zuletzt zeigte. Jede Generation schwuler Männer entdeckt ihr Glück beim ESC für sich aufs Neue. Denn queere Kindheit findet immer wieder statt. Lesbische, schwule und trans Kinder hören nicht auf, in eine heteronormative Welt hineingeboren zu werden. So erfüllt der ESC auch weiterhin seine Funktion als queere Lebenshilfe.

Das jähe Ende mit „Ein bisschen Frieden“

Und trotzdem: Der ESC begleitete mich nicht durch alle Phasen des Coming-out. Während meiner Pubertät in den 1980ern wurde der Song Contest auf einmal peinlich. So wie einem die eigenen Eltern peinlich werden. Die manchmal absurde Mischung aus steifer Fernsehpräsentation und formelhafter Musik, die schon bei der Veröffentlichung veraltet klang, hatte für mich nichts mehr zu bieten. Immerhin gab es in der Popwelt außerhalb des ESC inzwischen Boy George von Culture Club, George Michael von Wham! und Madonna. In den 1980ern war Queerness mitten im Popmainstream angekommen.
 
Beim ESC sang währenddessen Nicole Ein bisschen Frieden. Das war 1982 und der erste Sieg für Deutschland. Der ESC klang nun nicht mehr nach Aufbruch in eine Welt, die mit ihren Abenteuern auf mich wartete, sondern nach Rückkehr in den Schoß der Familie. Ein bisschen Frieden war eigentlich ein Weihnachtslied. Zurück unter den Tannenbaum wollte man als schwuler Teenager aber bestimmt nicht.

Der Song Contest war sentimental, nicht sexy

Der ESC hatte für die schwule Gefühlslage einiges zu bieten. Aber mit der sexuellen Entdeckungsreise eines jungen Erwachsenen hatte er dann doch nicht viel zu tun. Der Song Contest war sentimental, nicht sexy. Eine queere Sexualität war hier zwar oft konnotiert, wurde aber nie offen gezeigt. Das kam erst später, in den 2000ern, als sich die Acts dort Mühe gaben, die Bühnenshows von Janet Jackson (Ruslana 2004 für die Ukraine) oder Ricky Martin (Sakis Rouvas 2004 für Griechenland) zu kopieren. Immerhin hatte sich der ESC ja auch 1998 mit dem Sieg der israelischen Transgender-Sängerin Dana International schon als queere Veranstaltung geoutet.
 
Bevor es so weit war, verabschiedete ich mich erstmal vom Fernseh-Glück meiner Kindheit. Es gab jetzt ein schwules Leben in der Wirklichkeit, für das ich die Träume eines unerfüllten Begehrens nicht länger brauchte. Aber nachts vorm Einschlafen hörte ich mir immer noch gerne A-ba-ni-bi oder L’oiseau et l’enfant an.
Die israelische Musikgruppe Alpha Beta mit ihrem Sänger Izhar Cohen (Mitte) gewinnt 1978 in Paris mit ihrem Lied„A-Ba-Ni-Bi“ den Grand Prix d' Eurovision de la Chanson Die israelische Musikgruppe Alpha Beta mit ihrem Sänger Izhar Cohen (Mitte) gewinnt 1978 in Paris mit ihrem Lied„A-Ba-Ni-Bi“ den Grand Prix d' Eurovision de la Chanson | Foto: UPI Stephane Tavoularis © picture alliance/dpa

 

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