Worlds of Homelessness
Kunst für alle
Prekäre Arbeitsbedingungen im Kulturbetrieb inspirierten den Künstler Paul Sochaki und die Kuratorin Maria Ines Plaza Lazo 2018 zu ihrer Zeitung „Arts of the Working Class“. Mittlerweile in neunter Ausgabe und zusammen mit der Kuratorin Alina Ana Kolar produzieren sie die Publikation heute für ein internationales Publikum. Zweimonatlich erscheint das Blatt mit Beiträgen von Künstler*innen, Intellektuellen und Wegbegleiter*innen, die in ihren jeweiligen Sprachen das Thema Kunst aus unterschiedlichsten Perspektiven betrachten. Auch durch das Verteiler*innen-Netzwerk aus Obdachlosen und Student*innen in verschiedenen Ländern sollen die Themen möglichst eine breite Leser*innenschaft erreichen: Menschen, die auf der Straße leben, ebenso, wie die Akteur*innen eines internationalen Kulturbetriebs.
Von Elisabeth Wellershaus
Wie ist die Idee zu „Arts of the Working Class“ entstanden? Was steckt hinter dem Konzept einer internationalen Obdachlosenzeitung?
Maria: Am Anfang stand die Überlegung, dass wir die prekären Bedingungen innerhalb der Kunstwelt thematisieren wollten. Die Bedingungen, unter denen viele Kulturschaffende heute arbeiten, aber auch die Exklusionsmechanismen, durch die Kunst heute vielen Leuten vorenthalten wird. Es gibt beispielsweise etliche Magazine für Kunst und Kultur, die extrem überteuert sind. Publikationen wie das „Art Forum“ landen bestenfalls auf den Coffee Tables der Privilegierten. Daher unser Gedanke: eine Zeitung, für die jeder zahlt, was er kann, damit alle sich geistig von ihr ernähren können. Nach der Gründung kam Alina dann zum Team dazu. Zusammen publizieren wir heute eine Zeitung, in der die „Funktionäre“ der Kunstszene auf Menschen treffen, die sich außerhalb dieser Welt bewegen und die ihre Perspektiven gemeinsam neu definieren. Bei uns kann im Prinzip jeder die Zeitung mitgestalten.
Alina: Weil wir ein möglichst breites Publikum erreichen und auch migrantische Perspektiven mitdenken wollen, war schnell klar, dass die Zeitung in mehreren Sprachen erscheinen soll. Und zwar nicht nur in den vermeintlich dominanten wie Englisch, Spanisch oder Französisch. Unsere Autor*innen sollen die Möglichkeit haben, selbst über die Beitragssprachen zu entscheiden, egal, welche es sind. Das führt zwar dazu, dass Leser*innen nie den gesamten Inhalt verstehen werden. Aber uns geht es eben auch darum, auszuhalten, dass das gar nicht möglich ist. Dass sich nicht jede Erfahrung übersetzen lässt. Und es darüber hinaus ohnehin so vieles gibt, das sich mit Sprache kaum vermitteln lässt. Sondern vielleicht eher mal durch den Anblick einer Partitur oder einer mathematischen Formel.
Alina: Wir versuchen uns an einer Neudefinition des Begriffs Working Class, weil sich Klassenverhältnisse aufgrund von Berufsbedingungen und Gesellschaftsstrukturen seit der Einführung des Terminus verändert haben und noch immer verändern. Außerdem nehmen wir uns selbst als Teil des Kunstprekariats wahr, weil auch wir in unserer Arbeit unter finanziell instabilen Strukturen leiden. Wir wollen mit anspruchsvollen Inhalten Zugänge zur Kunst für Menschen schaffen, die sich nicht selbstverständlich in Kulturkontexten bewegen. Ich selbst komme beispielsweise aus Verhältnissen, in denen Kunst nicht stattfand und bin erst über gesellschaftliche Angebote dazu gekommen. Einerseits ist unsere Arbeit also eine bewusste Entscheidung für diese Gemeinschaft und gegen den Anpassungsdruck innerhalb eines ansonsten brutalen Wirtschaftssystems. Andererseits ist es gerade innerhalb der Kunst nicht leicht, zu überleben. Menschen, die in kreativen Strukturen arbeiten, müssen sich heute mit ökonomischer Unsicherheit bis hin zur Wohnungslosigkeit auseinandersetzen. Genau das sind die paradoxen Gegebenheiten, unter denen wir drei agieren und die wir thematisieren wollen.
Maria: Unsere Zeitung wird mit einer Auflage von 10.000 Exemplaren verteilt. In Berlin beträgt die empfohlen Spende 2,50 Euro. Dieser Betrag geht komplett an die Obdachlosen und Student*innen, mit denen wir zusammen arbeiten. Über dieses Netzwerk und die Art der Distribution in verschiedenen Ländern, hoffen wir, ein möglichst diverses Publikum zu erreichen. Unter anderem wollen wir den Gedanken aufbrechen, dass Obdachlosigkeit zwangsläufig Ignoranz bedeutet. Nur weil jemand seit 25 Jahren auf der Straße lebt, heißt das nicht, dass er oder sie nicht am intellektuellen Leben teilnehmen will oder kann. Insgesamt geht es uns um die Realisierung, dass die Grenzen zwischen vermeintlich gescheiterten Biografien und dem Leben von Menschen, die in gefühlter Sicherheit leben, äußerst brüchig sind. Man sieht es schon allein daran, dass immer mehr promovierte Akademiker*innen heute im Café arbeiten oder als volontärische Hilfskräfte von kulturellen Institutionen ausgebeutet werden.
Die ersten Ausgaben Eurer Zeitung waren mit bestimmten Projekten verbunden. Wie richtet Ihr Euch seither inhaltlich aus?
Alina: Stimmt, die erste Ausgabe ist im Zusammenhang mit Pauls Ausstellung Self-reflection in der EXILE Galerie entstanden. Die zweite im Rahmen der Manifesta, die dritte als begleitende Publikation zu einer Ausstellung in London. Seit der vierten Nummer aber erscheinen wir unabhängig von Galerien und Institutionen und setzen uns mit jeder Ausgabe ein Schwerpunkthema. In der Vergangenheit beispielsweise mit regionalen Inhalten in einer Ausgabe über Nord- und Südamerika, einem sozialen Schwerpunkt zur so genannten „Care-Economy“ oder einer Ausgabe über die Hierarchien im Kunstbetrieb.
Maria: Die Zeitung ist zu einer Zeit entstanden, in der die Grenzen zwischen Kulturproduktion und Policymaking komplett verwaschen sind. Wir müssen gar nicht groß auf Themensuche gehen, wenn wir eine Überschneidung zwischen Kunst und Politik aufzeigen wollen. Künstler*innen protestieren, gründen Vereine, engagieren sich, weltweit. Auf der anderen Seite gibt es in Ländern wie Deutschland neue politische Strömungen, die gesellschaftlich derart provozieren, dass die Themen im Wortsinn auf der Straße liegen. Ein übergeordnetes Thema ist allerdings sicher die Hinterfragung neokolonialer Strukturen innerhalb westlicher Kulturbetriebe. Denn es gibt nun mal einen Kanon, der durch stark etablierte Hierarchien bestimmt wird. Insgesamt erleben wir, dass Gesellschaft in vielen europäischen Ländern nicht wirklich divers gelebt wird, weil noch immer Unterdrückungsmechanismen greifen. Als Blattmacher*innen könnten wir relativ leicht gegen die Diskriminierung wettern und einfache Lösungsvorschläge anbieten. Aber es geht uns vielmehr um eine Einladung an alle, gesellschaftliche Themen mitzudiskutieren.
Alina: Ein Beitrag aus unserer aktuellen Ausgabe ist beispielsweise von Michele Lanzione, den wir in LA bei der Goethe-Konferenz Worlds of Homelessness kennengelernt haben. Er hat einen wunderbaren Text mit dem Titel „Otherwise Caring from the Underground“ beigesteuert. Darin geht es genau um das Thema, das uns generell umtreibt: dass Partizipation, Teilhabe und Gemeinschaft kein Privileg einer bestimmten Gesellschaftsklasse sind.
Arts of the Working Class wird von Paul Sochacki, María Inés Plaza Lazo und Alina Kolar entwickelt und erscheint für die Straßen der Welt.
Diese Zeitung wird entweder einzeln über ihren Webshop oder als Bündel von 50 Exemplaren an Buchhandlungen verkauft (175 € pro Bündel, 125 € pro Bündel in Berlin).