Musik
„Der Traum dient auch als Legitimation“
Ob Stockhausen oder Wagner: Bedeutende Komponist*innen der letzten Jahrhunderte geben an, im Schlaf zu ihren Werken inspiriert worden zu sein. Ein Gespräch mit der Musikwissenschaftlerin Magdalena Zorn über Träume als Inspirationsquelle, künstlerische Selbstdarstellung und darüber, wie geträumte Musik eigentlich klingt.
Von Eleonore von Bothmer
Frau Zorn, Sie befassen sich wissenschaftlich mit dem Zusammenhang zwischen Musik und Traum. Womit genau?
Mich beschäftigt die Frage, woher die Idee zu einem Stück kommt. In der Musikwissenschaft befassen wir uns meist mehr mit dem Material, mit den Noten, und damit, wie sie klingen – aber nicht mit der Inspiration.
Und woher kommt die Inspiration?
Zieht man die Aussagen der Komponist*innen heran, in zunehmendem Maße aus dem Traum. Bis in die vorsäkularisierte Zeit hinein berichteten Künstler*innen häufig, ihre Ideen seien ihnen von einer göttlichen Macht diktiert worden oder stammten aus religiösen Erfahrungen. Seit dem 19. Jahrhundert hat sich das gewandelt, doch Künstler*innen stellen es immer noch häufig so dar, dass ihre Ideen von einer Autorität außerhalb ihrer selbst kämen – und so eben auch aus dem Traum. Wir kennen das Phänomen aus der Literatur: Valéry mit seinen Traumaufzeichnungen oder der Surrealismus, der den Traum als Parade-Inspirationsquelle heranzieht.
Wie erklärt sich diese Entwicklung?
Meine zentrale Erkenntnis ist: Der Traum dient oft als Legitimation dafür, bestimmte kompositorische – oft ungewöhnliche – Ideen realisieren zu können und diesen Kompositionen eine autobiographische Wahrhaftigkeit zu verleihen. Also wenn ein Komponist – diesbezüglich sind mir in der Kunstmusik nur Männer bekannt – belegen kann, dass sein Werk aus seinem Innersten kommt, es ihm im Traum sozusagen von höheren Mächten diktiert wurde, dann verleiht das seinen Ideen etwas Zwingendes, Notwendiges. Etwas, was über ihn selbst hinaus reicht.
Wird so nicht auch das eigene Werk erhöht?
Doch, durchaus. Da ist auch viel Selbststilisierung dabei. In der sehr differenzierten literaturwissenschaftlichen Autobiographieforschung wird das als zentrales Element erkannt: Dass Autor*innen sich auf Erlebnisse der Unmittelbarkeit beziehen, um ein Erweckungserlebnis zu inszenieren, das das Werk besonders macht. Dazu zählen etwa Goethes Kindheitserlebnisse oder Augustinus religiöse Erweckungserlebnisse. Träume fallen in dieselbe Kategorie.
Bei welchen Komponisten spielen Träume eine besondere Rolle?
Richard Wagner hat als einer der Ersten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer wieder Träume als Anlass zum Komponieren genommen. Er meint auch, dass Beethoven seine Art des kontinuierlichen Komponierens – die Wagner dann weiterentwickelte – nur in der „Hellsichtigkeit des tiefsten Welttraumes“ erschienen sein konnte. Im 20. Jahrhundert spielt Karlheinz Stockhausen eine wichtige Rolle. In seinem Stück Trans von 1970 komponiert er erstmals einen musikalischen Schleier aus: ein dichtes Gewebe aus Streicherklängen, hinter dem sich die Musik des Jenseits auftut. Das ist auch auf der Bühne so dargestellt.
Wenn ein*e Komponist*in sagt, sie werde vom Traum inspiriert – was passiert dann wirklich?
Das ist schwer zu sagen. Wenn jemand etwas im Traum gehört haben will, ist das autobiographisches Terrain. Ob das stimmt, weiß niemand. Auch ob jemand wochenlang über eine neue Komposition nachgedacht und deshalb davon geträumt hat – so wie man im Traum Dinge verarbeitet, die einen beschäftigen –, oder ob jemand etwas zuerst träumt und es dann in die Komposition einbringt, lässt sich nicht sagen. Eine Reihe von Komponist*innen sagt wirklich: „Ich habe im Traum gehört, was ich komponiert habe“. Ihre Herausforderung ist es dann, mit realen Mitteln das Irreale, das Traumhörbild nachzubilden.
Ist es denn überhaupt möglich, Inspirationen aus Träumen so direkt umzusetzen, und wie funktioniert das?
Das Interessante ist: Der Traum als visuelle Sphäre diktiert diesen Komponist*innen offensichtlich akustische Eindrücke. Ich selbst habe im Traum noch nie etwas gehört. Vielleicht findet im Traum eine synästhetische Kopplung auditiver und visueller Eindrücke statt, so dass die Musik fast visuell erscheint und dann in der Realität in Hörbares übersetzt wird. Neurologische Untersuchungen zeigen, dass musikalische und visuelle Wahrnehmung verbunden sind. Auge und Ohr laufen im Assoziationskortex zusammen, Musikverständnis ist also auditiv und visuell. Vielleicht bleibt bei musikalischen Menschen ein Traumeindruck in Form eines Klangs im Gedächtnis. Was sie dann aus dem Traum mitnehmen, ist eine Übersetzung in klangliche Realität. Für die synästhetische Lesart – also, dass Traumkompositionen Auge und Ohr miteinander verknüpfen – spricht, dass die betreffenden Stücke im 20. Jahrhundert, etwa Stockhausens Trans oder Mauricio Kagels Match, starke visuelle Komponenten haben: Es sind Bühnenkonzeptionen, die für das Auge gemacht sind.
Kann man das musikalisch nachvollziehen – also hört man einem Stück an, ob es aus einem Traum entstanden ist?
Stockhausens Trans beispielsweise hat eine sehr avancierte Kompositionstechnik, die man hören kann, und diese unglaubliche Avanciertheit zeichnet alle Traum-Kompositionen aus. Die Erlaubnis, musikalisches Neuland zu betreten, schafft der Traum. Wagners Tristan und Isolde etwa soll auch auf einen Traum zurückgehen. Da gibt es die unendliche Melodie, in der alles in einem Klangstrom mit allem verbunden ist, es also keine Aufteilung in einzelne Nummern mehr gibt.