Portofrei
Heimat, Identität und neue Vielfalt

Portofrei: Nora Bossong und Igor Levit im Gespräch
Grafik: Bernd Struckmeyer

Ist Herkunft gleich Heimat gleich Identität? Oder kappt die Globalisierung alle Wurzeln? Darüber debattierten an dieser Stelle Nora Bossong, Schriftstellerin, und Igor Levit, Pianist. Ihr digitaler Briefwechsel war portofrei – und ist immer noch offen auch für Ihre Meinung, Ihren Widerspruch und Ihre Frage, im Kommentarfeld auf dieser Seite oder auf Twitter und Facebook unter dem Hashtag #portofrei. Geraldine de Bastion, die die Debatte moderierte, brachte die Kommentare in den Austausch mit ein.
 

Geraldine de Bastion
Foto: Roger von Heereman / Konnektiv
Geraldine de Bastion: Zuhause ist, wo das WLAN sich automatisch verbindet? Heimat in der digitalen Welt. Heimat. Klingt wie ein Kreuzstichbild, das langsam verblasst. Dabei ist der Begriff in vielerlei Hinsicht relevanter als jemals zuvor: Viele Menschen, vom Krieg aus ihrem Land vertrieben, finden bei uns eine neue Heimat. Andere fühlen sich durch Veränderungen, egal ob durch moderne Architektur, digitale Innovation oder anders aussehende Menschen, verunsichert und hängen an einem nostalgischen Konzept von Heimat.

Ich gehöre zu den Menschen, die sich in der digitalen und analogen Welt frei bewegen. Mein Fenster zur Welt sind soziale Medien und ein Video-Chat-Fenster, das mich mit meinen Liebsten verbindet. Die wichtigsten Erinnerungen, Lieblingslieder, Bücher und Fotos – immer dabei – in der Cloud. Der Spruch „Home is where the WIFI connects“ ist kein Witz, sondern Wirklichkeit.

Viele in meinem Umfeld leben das privilegierte Leben des digitalen Nomaden: Der persönliche Identifikationsrahmen erstreckt sich weiter als der geographische Raum, in dem man lebt. Und doch empfinde auch ich zu der Stadt, in der ich lebe eine emotionale Verbundenheit, die über die Bindung zu den Menschen, die in ihr leben, hinausgeht. Berlin ist Heimat. Das Internet auch.

Welche unterschiedliche Bedeutung nimmt der Begriff Heimat heute ein? Bedeutet er etwas anderes, wenn man einer dieser privilegierten digitalen Nomaden ist? Oder doch noch auf das Sofakissen gestützt vom ersten Stock auf die Straße schaut? Was bedeutet Heimat für Sie?
 
Nora Bossong
Foto: Peter-Andreas Hassiepen
Nora Bossong: Heimat ist das, wohin man sich sein Leben lang sehnt und wo man nach fünf Minuten wieder weg will, denke ich jedes Mal, wenn ich in meiner Kindheitsstadt ankomme, mich umsehe: Dort die tiefgrünen Rhododendren, hier die Wallanlage, da drüben die barbusige Sphinx vor dem Museum. Alte Erinnerungen werden wach, die tiefer und bedeutsamer erscheinen als alle, die ich in meinen späteren Jahren gesammelt habe. Heimat ist ein diffuses Gefühl, eine Art Verbindlichkeit stiften zu wollen, eine Verbindlichkeit zu uns selbst. Wem dies misslingt, der benutzt diesen Begriff mitunter und scheinbar leicht dafür, auszuschließen, als könnte die Abgrenzung schaffen, was doch von innen heraus geschehen muss: etwas hervor zu bringen.

Ich gehe eine Straße weiter, die Schönheit geborgener Kindheit wird überlagert von Gefühlen ersten Verlustes. Dann wieder Sehnsuchtsmomente. Zugleich das Empfinden, dieser Stadt, dieser Zeit entwachsen zu sein, weil ich nicht mehr das damalige Ich bin, weil diese Stadt nicht mehr die Stadt von damals ist, mit ihren Menschen, ihren Beziehungen, ihren Wegen, ihren Gebäuden.

Und das, obwohl meine Heimatstadt in den letzten dreißig Jahren all dies nicht erschüttert hat: Sie lag nicht in einem Staat, der aufhörte zu existieren. Sie wurden nicht durch Krieg zerstört. Sie unterliegt keinem Regime, das die Rückkehr zu ihr gefährlich, wenn nicht unmöglich macht. Wie ungleich größer müsste das Gefühl von Verlust sonst sein?

Doch Heimat, wie fragil oder geschützt auch immer unsere Herkunftsorte sind, ist eben niemals ein sicherer Fixpunkt, sondern ein Fiktionspunkt, ein „Als ob“, nichts, an dem man für fünf Minuten ist, sondern das man sich ein Leben lang zu schaffen versucht. Sie ist nichts, was uns festschreibt, sondern was uns wünschen lässt, oder, wie Ernst Bloch schreibt, „was uns von der Kindheit her scheint und worin noch niemand war.“
 
Igor Levit
Foto: Robbie Lawrence
Igor Levit: Heimat, ein schwieriger Begriff. Schwierig, weil er, so habe ich es früher empfunden, immer eingegrenzt hat. Eingegrenzt auf einen Ort, einen relativ engen Raum. Mittlerweile habe ich meine Heimat für mich jedoch anders definiert. Heimat, das sind Menschen. Menschen, die ich liebe, Menschen die ich meide, Menschen, von denen ich lerne, Menschen, die mich um Rat fragen, Menschen, die mir helfen, Menschen, denen ich helfe. Wahrscheinlich war es immer schon so gewesen, aber das eine, was mich in meinem Leben inspiriert hat wie sonst nichts, das war immer der Mensch.

In und mit ihm fühle ich mich verstanden, mit ihm fühle ich mich geborgen und demnach zuhause. Ich wollte, seit ich ein kleiner Junge war, am liebsten nur verreisen, jedoch nicht, um mir die Natur, Landschaften oder architektonische Meisterwerke zu betrachten, nein, ich wollte Menschen kennenlernen. Und es wurde mir immer klarer, dass ich durch und mithilfe anderer zu mir selbst fand. Mithilfe meiner Familie, meiner Freunde. Das ist für mich Heimat geworden – die Begegnung, das Miteinander, der Mensch.
 
Geraldine de Bastion
Foto: Roger von Heereman / Konnektiv
Geraldine de Bastion: Heimat – ein Konstrukt, das uns eingrenzt, aber auch ausgrenzt. Was für den einen Geborgenheit bedeutet, wie zum Beispiel die Beständigkeit, die Unveränderlichkeit und die Verlässlichkeit des Vertrauten, löst bei dem anderen Gefühle der Beklommenheit aus.

Bedeutet Heimat etwas anderes, wenn man vom Land kommt oder aus Orten, an denen wenig Veränderungen stattfinden, als wenn man aus einer sich ständig wandelnden Großstadt kommt? Meine Heimat Berlin hat ständig ein neues Gesicht. Sie ist ein „Gesicht mit Sommersprossen“, wie Hildegard Knef einst sang. Meine Heimat ist eine imperfekte Heimat, die von Veränderung und nicht von Beständigkeit gezeichnet ist – ganz anders empfindet Daniela aus Oberbayern in unserem Twitterchat ihre Heimat:
Geographisch gesehen oder bezogen auf die Menschen: Wie groß ist Ihre Heimat? Und: Wie beständig ist sie?

 
Nora Bossong
Foto: Peter-Andreas Hassiepen
Nora Bossong: Eine Bekannte erzählt mir von der Heimat unserer steinzeitlichen Vorfahren. Das Gebiet, das bewohnt wurde, habe sich pro Generation im Radius eines Tagesmarsches wandeln können. Zog man weiter, aus Gründen des Schutzes oder der Nahrungssicherung, nahm man nicht nur Lastentiere und Nutzpflanzen mit, sondern auch Zierpflanzen und Haustiere. Heimat, wenn man in diesem Zusammenhang überhaupt davon sprechen will, scheint also nicht nur das Nützliche zu sein, der Ort, der uns das Überleben sichert, sondern das, was uns Vertrautheit suggeriert.

Heute lässt sich innerhalb eines Tages mit dem Auto die Bundesrepublik durchfahren, man käme sogar ein ganzes Stück noch durch die Nachbarländer und mit einem Direktflug erreichten wir binnen vierundzwanzig Stunden eigentlich fast jeden Ort auf der Welt. Von Radius zu sprechen wird absurd, wenn er eigentlich den gesamten Globus umspannt.

Vielleicht spielt das mit hinein, wenn ich Heimat für mich nicht geographisch festlegen kann. Zwar gibt es Erinnerungen an Orte, die ich mit Heimat verbinde, doch setzen diese eher ein widersprüchliches Mosaik als ein eindeutiges Bild zusammen. Meine Heimat wandelt sich ununterbrochen, vielleicht ist das einzig Beständige, dass es Orte und Begegnungen sind, die mir nicht allein nützen, sondern in denen immer wieder von Neuem Vertrauen und Vertrautheit möglich wird.
 
Igor Levit
Foto: Robbie Lawrence
Igor Levit: Schon immer war meine Heimat grenzenlos gewesen, geographisch und vor allem emotional. Sie war und ist ein innerer Zustand. Eine Emotion, ein Gedanke. Als ich etwa siebzehn Jahre alt war, war mir das Klavier plötzlich fremd geworden. Die Musik nicht, aber das Instrument, mein Ausdrucksmittel, meine „Heimat“. Ich hatte einfach nicht mehr das Gefühl, mit meinem Instrument das ausdrücken zu können, was mir wichtig war. Ich war in einer Sackgasse. Bach klang falsch, Beethoven klang falsch, alles war „falsch“. Wenn man so will, war meine künstlerische, innere Heimat einfach dabei, zu verschwinden.

Durch einen Zufall lernte ich in dieser Zeit zwei außergewöhnliche Musiker kennen. Lajos Rovatkay und Frederic Rzewski. Der eine ein Genie der alten Musik, ein Universalgelehrter par excellence, der für mich zu einer Art Spiritus Rector wurde, der andere ein Maverick, ein Komponist zeitgenössischer Musik, ein Kommunist, ein politischer Kopf, ein ungeheuer wacher, ja auch anstrengender Geist, ein Amerikaner, ein großer Komponist. Beide so gegensätzlich und doch so nah.

Und plötzlich veränderte sich meine „Heimat“. Diese beiden wurden mir zur Heimat. Sie gaben mir, unabhängig voneinander, neue Luft zum Atmen. Sie gaben mir Inspiration. Das en détail zu beschreiben, würde jeden Rahmen sprengen, aber diese zwei Menschen definierten meine Heimat von Grund auf neu.

Das meinte ich im ersten Text. Meine Heimat war nie Ort. Sie war nie Nation. Nie Stadt oder Wohnung. Sie war immer … Mensch. Sie war und ist immer Verbindung, Austausch, Miteinander, Füreinander. Sie definiert sich täglich neu. Gottseidank. Meine Heimat ist so groß, wie sie es nur sein kann. Sie ist so frei, wie ich frei sein kann.

Meine Familie ist Heimat, meine engsten Freunde Georg, Julia, Sonja, Frederic, Annette, Simon, Maren, Kristin, Martin, Thorsten, Thomas, Oliver, Sam, sie sind Heimat, mein letzter Lehrer Matti Raekallio, der zu einem so wundervollen Freund wurde, ist Heimat. Die Erinnerung an den verstorbenen Hannes Mahler, der mir wie ein Bruder war und im Herzen noch immer ist, ist Heimat. Der Schmerz, den ich empfinde, seit er nicht mehr da ist, der Schmerz, der mich manchmal zerreißt, er ist Teil meiner Heimat. Er wird mich Zeit meines Lebens begleiten. Musik ist natürlich Heimat.

An dieser Stelle fällt es mir schwer, weiterzuschreiben.
 
Geraldine de Bastion
Foto: Roger von Heereman / Konnektiv
Geraldine de Bastion: Eine Zwischenbilanz: Heimat ist nicht gleich Herkunft. Heimat ist Vertrautheit, Geborgenheit, Selbstverständlichkeit. Menschen, Sprache, Musik – all das, was einem ein emotionales Zuhause sein kann.

Das Billighotel an der Ecke meiner Straße ist seit zwei Jahren eine Flüchtlingsunterkunft. Vor dem Haus spielen die Kinder der Familien, die hier untergebracht sind. Letzte Woche habe ich bemerkt, dass sie vor allem Deutsch miteinander sprechen, nicht mehr Arabisch. „Ich bin dran, lass mich mit dem Fahrrad fahren.“ Diese Kinder haben alles, was ihnen vertraut war, auf einmal verloren. Was wohl ihre ersten Eindrücke waren von der Fremde, die für sie nun Heimat ist? Von diesem Land, von dem sie nichts wussten, bevor sie herkamen? Ein Land, dessen Sprache sie jetzt sprechen, in dem sie jetzt zu Hause sind – wenn auch in einem Hotelzimmer.

Einer unserer Leser schrieb diese Woche auf Facebook: „Ich habe festgestellt: Erst, wenn man mal weg war, schärft sich der Blick für den Begriff Heimat.“ Diese Erfahrung habe ich auch gemacht. Man lernt beim Reisen mindestens so viel über die eigene Kultur wie über die Fremde. Man lernt, die kleinen Dinge zu schätzen – etwa, das Wasser aus der Leitung trinken zu können –, und man lernt, Eigenheiten zu differenzieren – etwa, dass wir uns in öffentlichen Räumen anders verhalten als andere Kulturen. Man merkt, was man am meisten vermisst – zum Beispiel Käsestullen –, und man merkt, was man nicht vermisst: zum Beispiel schlecht gelaunte Kommentare von Mitreisenden im Nahverkehr anstatt des Lächelns, das man in vielen Ländern bekommt.

Was haben Sie das letzte Mal über sich und Ihre Heimat gelernt, als Sie in der Ferne waren?
 
Nora Bossong
Foto: Peter-Andreas Hassiepen
Nora Bossong: Bin ich für längere Zeit im Ausland, beginne ich mit den Wochen und Monaten all das wieder in meine Nähe zu bringen, was ich für gewöhnlich von mir weise, vor dem ich in gewissem Sinne jedes Mal geflohen bin, etwa jene Nuance des Norddeutschen, die ich, wann immer ich an Bremen denke, als Zwangskorsett vor mir sehe, gebastelt aus protestantischer Ethik, schlechtem Wetter und kaufmännischer Ablehnung von allem Verschwenderischen, den Schönheiten und Kapriolen im Geist und in der Lust, die sich nicht gleich monetarisieren und berechnen lassen. Als ich für einige Zeit in Rom lebte, vertiefte ich mich jeden Abend in die Buddenbrooks, gar nicht so sehr, um das Buch ein für alle Mal zu durchdringen, eher, um mir die Gestalten und die Stimmung jeden Tag wieder herbeizuholen, eine norddeutsche Exklave in meiner römischen WG aufzubauen, wohl, weil ich eben doch auch ein wenig verloren gegangen wäre allein in dem, was ich mir selbst gewählt hatte, die italienische Sprache, den Katholizismus, die Straßen Roms, weil ich dort spürte, wie sehr wir eben auch das sind, womit wir aufwachsen, ob wir es im Nachhinein zu lieben meinen oder nicht, ob wir es uns, wenn wir die Wahl gehabt hätten, selbst ausgesucht oder uns nie und nimmer für norddeutsche Kargheit entschieden hätten.
 
Igor Levit
Foto: Robbie Lawrence
Igor Levit: Was ist Identität? Vor Kurzem sprach ich mit einer iranischen Komponistin. Sie war eine ungeheuer kluge, neugierige, aufgeweckte, aufmerksame Person und dementsprechend eine ganz wunderbare Musikerin. Ich fragte sie, welche Rolle sie ihrer Meinung nach spielen würde in der Gesellschaft, deren Teil sie ist. Ihre Antwort war so klar wie schmerzlich. „Keine.“ Ich fragte sie, wie sie ihre Identität sucht, und da war ihre Antwort eine überaus schöne: über das Reisen, mithilfe von Menschen. Sie erzählte von Reisen in die USA, nach Europa, und wie diese Reisen sie bereicherten, veränderten, erfüllten. Und dann erzählte sie von dem Drama, das so viele von uns tagtäglich in den Nachrichten verfolgen: Als iranische Staatsbürgerin war es ihr quasi von einem Tag auf den anderen nicht mehr möglich, in die USA zu reisen. Man entriss dieser Frau quasi einen Großteil ihrer inneren Heimat. Man hat ihr die wichtigste aller Türen vor der Nase zugehauen.

Warum erzähle ich das?

Ich verreise sehr häufig und manchmal ist die Sehnsucht nach meinen Freunden, nach dem Zuhause bestialisch. Viele Reisen verbringe ich faktisch allein, und Anrufe, Skypetelefonate oder Ähnliches sind am Ende des Tages mit einem lebendigen Zusammensein nicht zu vergleichen. Aber ich nehme das hin, akzeptiere es. Ich werfe meinem Leben selten etwas vor und meine Freunde tun es mit mir auch nicht. Nein, mein Blick auf meine Heimat verändert sich nicht beim Reisen. Mein Bewusstsein für jeden Moment, jeden Ort, jeden Menschen – es wird schärfer, wacher, neugieriger, Tag für Tag.

Aber die Heimat, meine Heimat, sie ist immer bei und in mir.
 
Geraldine de Bastion
Foto: Roger von Heereman / Konnektiv
Geraldine de Bastion: Erst dieses Wochenende erzählte mir eine Freundin, dass sie, als sie im Ausland lebte, anfing, Tatort zu schauen, sowie eine Reihe von Fernsehserien, die sie sich zuhause niemals angeschaut hätte, nur um sich der Heimat verbunden zu fühlen. „Einfach nur, um die Sprache zu hören“, meinte sie. Sprache: sich verstanden fühlen, Witze machen und verstehen. Fluchen und Streiten geht nur, wenn man eine Sprache beherrscht. Nicht über Sprache nachdenken zu müssen bedeutet, sich zuhause zu fühlen.

In unserer Reihe Portofrei hat die Übersetzung des Begriffs Heimat zur Diskussion geführt – Homeland ist nicht gleich Heimat. Die Begriffe sind unterschiedlich konnotiert und bringen unterschiedliche Assoziationen hervor. Nach der Theorie der Linguistischen Relativität, auch Sapir-Whorf-Hypothese genannt, beeinflusst die Struktur einer Sprache die Weltanschauung des Sprechers.

Fassen wir den Begriff Sprache weit und beziehen ihn auch auf Musik, Schach oder Programmiersprachen – wie sehr beeinflusst Ihre Sprache Ihre Sicht auf die Welt?
 
Nora Bossong
Foto: Peter-Andreas Hassiepen
Nora Bossong: In meinen ersten Wochen in Rom, als ich der italienischen Sprache noch alles andere als mächtig war, meinte ich beim Busfahren, die Menschen um mich herum würden ganz sicher unablässig über Dante und Da Vinci reden, so als spiegele sich die für mich noch unvertraute Schönheit des vokalreichen Italienischen, der Kunst- und Geschichtsreichtum vor dem Fenster unmittelbar in den Unterhaltungen der Menschen. Je besser ich Italienisch verstand, desto klarer wurde mir, dass die Unterhaltungen ebenso oft banal waren wie in Deutschland. Irgendjemand hatte den Abwasch nicht gemacht, ein anderer war verspätet, eine Dritte hatte sich mit Lucca zerstritten, weil der ein Idiot war.

Natürlich, es wäre ja seltsam anzunehmen, wir könnten unsere Welt jenseits von Sprache sehen. „Unsere Welt“ zeigt sich in einem seltsamen Jetzt, das die Leerstelle zwischen Vergangenheit und Zukunft ist. Dies beides, das Davor und das Danach, können wir nicht wahrnehmen, wir können es uns nur denken, erinnern, sprachlich formulieren. „Unsere Welt“ zeigt sich aber natürlich insbesondere auch in unserer Muttersprache – und damit sowohl in ihrer Weite, denn in keiner anderen Sprache stehen uns Nebenbedeutungen, Untertöne, Sprachspiele so leicht zur Verfügung, aber eben auch in ihrer Enge, jener Vertrautheit, die ewig eingespielte Perspektiven wiederholt, die sich abgestumpft hat durch die profanen, nicht weiter beachteten Alltagssprachhandlungen, „eine Kurzstrecke, bitte“, „Warten Sie, sechzig Cent habe ich klein“ ...

Immer wieder ziehe oder vielmehr fliehe ich deshalb ins fremdsprachige Ausland, für einige Monate, oft im Kopf mit der Idee: für immer. Natürlich ist dies ein frei gewähltes, ein luxuriöses Exil, von keiner offensichtlichen existentiellen Notlage erzwungen und mit einem Flugzeug in wenigen Stunden wieder rückgängig zu machen. Meist aber revidiert sich das Exil, das vor allem ein Sprachexil ist, vorab schon selbst: Wenn ich der fremden Sprache so vertraut werde, dass ich in ihr träume, in ihr denke, sie mir beiläufig wird und auch Dante immer seltener in ihr vorkommt.
 
Igor Levit
Foto: Robbie Lawrence
Igor Levit: Es war der 4. Dezember 1995, als wir Düsseldorf erreichten. Flughafen, Landebahn, Tag eins in Deutschland. Neue Welt, neue Geräusche, großes Abenteuer. Eine Art Neugeburt. Ich empfand mein Leben in diesem Land seitdem als ein nicht endendes Glück, jedoch eines, was ich immer hinterfragt und kritisch betrachtet habe.

Ich fand alles großartig, die Farben, die Geschwindigkeit, das Unbekannte, die Erwartungen – aber das, was mich am allermeisten berührte, in das ich mich sofort nach der Ankunft verliebt hatte und was ich bis heute von ganzem Herzen liebe, war die Sprache. Ich war vernarrt in die deutsche Sprache. Als ich in die Schule kam, noch in Dortmund, wollte ich ab dem allerersten Tag besser Deutsch sprechen als alle meine Klassenkameraden. Ich wollte so schnell wie möglich Deutsch lernen, verstehen, lesen, mich auf Deutsch unterhalten.

Einige Monate später war es dann soweit. Mein erstes Buch in deutscher Sprache. Meine Mutter schenkte mir Joachim Kaisers Buch Große Pianisten unserer Zeit. Diese Sprache wurde zu meinem Schlüssel für alles. Zum Türöffner für Freundschaften, für Beziehungen, für musikalische Erlebnisse, für meine Selbstfindung, für Ärger, Frust, Glück, Liebe, Verwirrung, Entwirrung ... – einfach für alles. Und sie definierte einen essentiellen Teil vielleicht nicht von Heimat, jedoch aber von „Rückkehr“, eine Rückkehr zu mir selbst. Noch heute empfinde ich die Rückkehr in die deutsche Sprache nach langen Tourneen als etwas ungeheuer Wohltuendes, etwas Ortsunabhängiges, etwas Zeitloses.

Ich war meinen Eltern (und bin es noch immer) dankbar, dass sie die Entscheidung trafen, meine Schwester und mich nach Europa zu bringen, um uns hier ein neues Leben zu ermöglichen. Es war die Sprache, die zum allerschönsten „Tool“ wurde. Sie wurde und blieb ein essentieller Teil meines Heimatbegriffes.
 
Geraldine de Bastion
Foto: Roger von Heereman / Konnektiv
Geraldine de Bastion: Heimat – doch nicht so eingestaubt und bedeutungslos in der heutigen Zeit, im Gegenteil: Heimat ist ein Begriff, der für die meisten Menschen positiv besetzt und bedeutungsreich ist, reich an Erinnerungen und Assoziationen.

Wir haben uns in den letzten Wochen gefragt, wie sich Digitalisierung auf unsere Heimatgefühle auswirkt, welche Rolle die Sprache dabei spielt, wie sich Heimweh und Fernweh gegenseitig bedingen und wie ein Lebensraum zur Heimat wird für Menschen, die an einen neuen Ort ziehen.

Wir haben festgestellt: Heimat bedeutet nicht immer Herkunft, sondern vielmehr den Ort, an dem man sich wohlfühlt, der einem vertraut ist. Physische Orte sind weniger wichtig als Sprache, Essen, und vor allem die Menschen, die man liebt. „Home is where the heart is“ oder, wie es Herbert Grönemeyer in seinem Song Heimat schon 1999 beschrieb: „Heimat ist kein Ort, Heimat ist ein Gefühl“. So habe ich auch Igor Levit verstanden, die Liebe zu den Menschen, die ihm nahe sind, ist seine Heimat. In Nora Bossongs Texten habe ich vor allem den spielerischen, liebevollen Umgang mit der leicht spießigen Heimat, mit der man sich nur bedingt assoziiert fühlt, bewundert.

Während ich diesen Abschlusstext für unsere erste Folge von Portofrei schreibe, sitze ich im Flugzeug und Europa zieht unter mir vorbei. Und wieder einmal muss ich denken, wie glücklich man sich schätzen kann, an dem Zeitpunkt an dem Ort geboren zu sein, von dem ich komme. Nicht nur habe ich das Glück, aus einer der tollsten Städte der Welt zu kommen, außerdem besitze ich einen Pass, der es mir erlaubt, einen ganzen Kontinent als Zuhause zu betrachten und mir die Türen der Welt öffnet – sodass ich zu den wenigen Privilegierten gehöre, die sich ihre Heimat mehr oder weniger selbst auswählen können.

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