Übersetzungsprozess von Irene und Franz Faber
Zum Übersetzungsprozess von Irene und Franz Faber in der deutschen Nachdichtung „Das Mädchen Kiều“ am Beispiel des Prologes des Versepos.
Bekannterweise bildete die bilinguale vietnamesisch-französische KIÊU-Ausgabe von Nguyễn Văn Vĩnh (Les Éditions VINHBAO - HOANHSON, 1951), ein persönliches Geschenk von Präsident Ho Chi Minh an Franz Faber während seines ersten Vietnam-Aufenthaltes Ende 1954 Anfang 1955, die wichtigste ausgangssprachliche Textgrundlage für Irene und Franz Faber in ihrer Arbeit an der deutschen Nachdichtung „Das Mädchen Kiều”.
Anhand der oben abgebildeten Seite 8 aus dem Buch kann man die Struktur dieses Werkes wie folgt skizzieren: Im ersten, obersten Teil befinden sich die jeweiligen Textausschnitte des Originales, in diesem Falle die beiden Verse „Trải qua một cuộc bể dâu - Những điều trông thấy mà đau đớn lòng“ (V. 3 - 4.). Im zweiten Teil sind die entsprechenden (kursiv gedruckten) französischen Übersetzungen enthalten. Der dritte Teil besteht aus Wort-für-Wort-Übersetzungen vom Vietnamesischen ins Französische. Und schließlich der vierte, unterste und meist auch umfangreichste Teil setzt sich aus französischsprachigen Fußnoten und Kommentaren zu den oben getätigten Übersetzungen zusammen. Somit erfüllt das Buch von Nguyễn Văn Vĩnh eine doppelte Funktion: als vietnamesischsprachiger Primärtext und als ein fremdsprachiger Referenztext und Quasi-Nachschlagewerk. Wir wissen, dass das Übersetzerehepaar Faber darüber hinaus auch weitere Sekundärquellen zu Rate gezogen und dass vor allem Irene Faber für die Übersetzungsarbeit extra Vietnamesisch gelernt hat, um so möglichst aus dem Original übersetzen zu können. Nichtsdestoweniger hat dieses Werk von Nguyễn Văn Vĩnh eine entscheidende Bedeutung als eine sprachliche und interkulturelle Verständnisbrücke, insbesondere für Irene Faber, die die Hauptlast der immensen philologischen Recherchen während des siebeneinhalb jährigen Arbeitsprozesses getragen hatte.
Wenden wir uns nun dem Textausschnitt zu, anhand dessen der Übersetzungsprozess bzw. die Arbeitsweise von Irene und Franz Faber beispielhaft herausgearbeitet werden kann. Es handelt sich um die ersten sechs Verszeilen bzw. um den Prolog des Werkes. Die nächste Abbildung beinhaltet auf der linken Spalte die originalvietnamesische Textfassung nach Đào Duy Anh und auf der rechten Seite die englische Fassung von Huỳnh Sanh Thông.
Was fällt uns zuerst auf? Sowohl die vietnamesische als auch die englische Fassung besteht jeweils aus 6 Zeilen; es ist bereits vorab festzustellen, dass die englische Fassung von Huỳnh Sanh Thông – die übrigens den Rang der einflussreichsten Nachdichtung von „Truyện Kiều“ im englischsprachigen Raum innehat - grundsätzlich eine lineare, zeilenadäquate Übersetzung darstellt. Belassen wir es zunächst bei dieser vorläufigen Feststellung und kommen zu der deutschen Übertragung durch Irene und Franz Faber.
Im Gegensatz dazu besteht der deutsche Textausschnitt aus 16 Zeilen, also beinahe dreimal so lang wie das Original. Im Übrigen, dieses Verhältnis lässt sich auch auf die gesamte Nachdichtung übertragen: Aus 3.254 Verszeilen des Originales sind es in der deutschen Fassung stattliche 9.384 Verszeilen geworden!
Ein weiterer formaler Unterschied: Die deutsche Fassung ist durchweg in Jamben – also in einem Versfuß griechischen Ursprungs, welcher aus einer kurzen (unbetonten) und einer folgenden (betonten) Silbe besteht - verfasst worden. Charakteristisch im vorliegenden Fall ist es, dass es weder eine feste Hebungszahl noch eine (feste) Reimordnung gibt. Die vietnamesische Originalfassung ist im Metrum lục-bát gedichtet. Lục-bát gibt es seit dem 15. Jahrhundert, es ist das Metrum des Wiegengesanges, der Volkslieder, aber auch das Metrum des sogenannten „Truyện Nôm“, des Versromans oder Versepos, und ist dadurch zum originellsten und wichtigsten Metrum der klassischen vietnamesischen Poesie geworden. Lục-bát ist der sinovietnamesische Ausdruck für 6-8: das lục-bát-Metrum besteht also aus einer (theoretisch endlosen) alternierenden Reihenfolge von Zeilen mit jeweils 6 und 8 Silben bzw. Worten. Was die Reimordnung betrifft, so reimt sich die 6. Silbe der ersten sechssilbigen Verszeile auf die 6. Silbe der zweiten achtsilbigen Zeile; die 8. Silbe der zweiten Verszeile reimt sich wiederum auf die 6. Silbe der vierten Verszeile usw. Es findet also ein regelmäßiger Wechsel zwischen Endreim und Binnenreim statt, wobei der Binnenreim etwas sehr Charakteristisches für die Literaturen in Südostasien ist und in dieser Intensität weder in China noch in Indien existiert, was auch das Phänomen des Versepos als eine eigenständige Literaturgattung Südostasien erst ermöglicht hat.
Die im Jambus gedichtete deutsche Fassung bricht, wie wir schon an der Textgestalt sehen, den alternierenden 6-8-Rhythmus des Originales und zerlegt diesen in unterschiedliche freie Rhythmen. Sie miniaturisiert gleichsam auch die sonst in einem gleichbleibenden Gebilde verwobenen Gedanken zu einzelnen Wortgruppen und gar einzelnen Worten. So wird in unserem besprochenen Textausschnitt die 1. Verszeile des Originales „Trăm năm trong cõi ngưòi ta“ in 4 Verszeilen der deutschen Nachdichtung „untergebracht“, also:
„In hundert Jahren, dievielleicht
ein Leben währt
in dieser Erdenspanne...“
Die 2. Verszeile des Originales „Chữ tài chữ mệnh khéo là ghét nhau“ entspricht teils der 4. Zeile, teils der 5. Zeile der Nachdichtung:
„... widersprechen oft
sich Gabe und Geschick“.
Die 3. vietnamesischsprachige Verszeile „Trải qua một cuộc bể dâu“ findet ihre Entsprechung wiederum in 4 deutschen Verszeilen:
„So mußte ich in Zeiten, da
Gedanken sichund Menschen wandelten wie Meere – aus
den Wogen wuchsen Maulbeerfelder...“
Ähnliches geschieht mit der 4. Zeile „Những điều trông thấy mà đau đớn lòng“, die sich teils in der 9., teils in der 10. Zeile der Nachdichtung wiederfindet:
„... Dinge schauen,
die mein Herz zerrissen...“
Aus den genannten Beispielen sehen wir, dass aus der jeweiligen kürzeren 6silbigen Verszeile des Originales noch mehr Verszeilen in der Nachdichtung gebildet werden als aus der darauffolgenden längeren 8silbigen Verszeile selbst: z.B. 4 deutsche Verszeilen für die erste 6silbige vietnamesische Verszeile, aber „nur“ 2 deutsche Zeilen für die zweite 8silbige Zeile des vietnamesischen Originales. Es geht allerdings nicht nur um eine formal-quantitative Differenz, auch in inhaltlich-semantischer Hinsicht findet hier eine wesentliche Verschiebung statt. Der vietnamesische Literaturwissenschaftler Phan Ngọc sieht es als ein Gesetz des Metrums lục-bát an, dass die 6silbige Verszeile grundsätzlich einen Einstiegscharakter hat, sozusagen in einen bestimmten Kontext einleitet [Beispiel: „Trăm năm trong cõi người ta“ = „In hundert Jahren, die / vielleicht/ ein Leben währt / in dieser Erdenspanne“] und erst die folgende 8silbige Verszeile die eigentliche Mitteilung beinhaltet [„Chữ tài chữ mệnh khéo là ghét nhau“ = „widersprechen oft / sich Gabe und Geschick“]. Wir erkennen unschwer, dass auch hier die inhaltlich-semantische Architektonik des Orginales durch die Übersetzer wesentlich umgebaut und sprachlich-metrisch transferiert wird.
Im Bewusstsein über die komplexe und inkommensurable Struktur des Originalwerkes haben Irene und Franz Faber in ihrem Vorwort geschrieben:
„Die Übertragung des Werkes in eine der indoeuropäischen Sprachen stößt auf Schwierigkeiten, die im ersten Augenblick nahezu unüberwindlich erscheinen. So ist es unmöglich, im Deutschen die Musikalität der vietnamesischen Sprache wiederzugeben [...] Eine Übersetzung – mag sie noch so getreu sein – ist daher nie mehr als ein Text, dem die Partitur fehlt“.
Fehlt es dem Text der deutschen Nachdichtung „Das Mädchen Kiều“ wirklich die Partitur? Hier haben Irene und Franz Faber ihr Licht wirklich unter den Scheffel gestellt. Meine These wäre die, dass gerade durch das oben beschriebene Verfahren der deutschen Nachdichtung der lyrisch-subjektive Grundton im Werk von Nguyễn Du, der sonst – selbst für die Muttersprachler nicht einfach erkennbar aufgrund des sich anscheinend immer wiederholenden 6-8-Taktes, aber auch aufgrund der im Original verwendeten zahlreichen historischen Gleichnisse (điển cố) und klassischen Metaphern (ẩn dụ), dass dieser lyrisch-subjetive Grundton von Nguyễn Du also gerade auf diese Weise sozusagen freigelegt und exzellent getroffen wird.
Lassen wir diese These zunächst auf sich ruhen und wenden wir einem weiteren Problemkreis zu – den sogenannten historischen Gleichnissen (điển cố). In unserem Textausschnitt können wir uns z.B. das Gleichnis „bể dâu“ aus der dritten vietnamesischen Verszeile „Trải qua một cuộc bể dâu“ näher ansehen. „Bể dâu“ kann wörtlich mit „Maulbeermeer“ oder „Meer von Maulbeeren“ übersetzt werden und ist ihrerseits selbst eine Vietnamisierung des sino-vietnamesischen Begriffes „tang hải“, bzw. „thương hải biến vi tang điền“ [zu dt.: „Wo einst noch das blaue Meer war, dort wachsen heute die Maulbeerfelder“ und steht übertragen etwa für das Wechselhafte des Lebens, die Flüchtigkeit des Seins]. Es handelt sich hierbei um ein historisches Gleichnis aus dem alt-chinesischen Buch mit dem Namen „Shen hsien chuan“ [„Thần tiên truyện“, zu Dt. “Geschichte über Götter und Unsterbliche“], welches zum Bildungskanon des Vietnamesen Nguyễn Du im ausgehenden 18. Jahrhundert gehörte, bei weitem aber nicht mehr zum heutigen literarischen Wissensgut gehört. Dass Irene und Franz Faber der tiefere Sinn dieses historischen Gleichnisses bzw. dieser klassischen Metapher sich öffnen vermochte, hatten sie ganz gewiß auch der gelehrsamen Vorleistung von Nguyễn Văn Vĩnh zu verdanken (siehe die dazugehörigen Erläuterungen in der ersten Abbildung). Vergleichen wir nun, wie unterschiedlich die Übersetzer der deutschen und englischen Fassung in diesem Fall vorgegangen sind.
Huỳnh Sanh Thông, der Nachdichter der englischen Fassung, verwendet statt des historisches Gleichnisses „bể dâu“/“Maulbeermeer“ die Metapher “ebb and flow“, also „Ebbe und Flut“, also ein gängiges Bild aus dem indoeuropäischen Sprachraum. Irene und Franz Faber hingegen haben den Versuch unternommen, das historische Gleichnis mit zu übersetzen, es sozusagen in den deutschen Text erklärend & poetisch zu integrieren:
„So mußte ich in Zeiten, da
Gedanken sichund Menschen wandelten wie Meere – aus
den Wogen wuchsen Maulbeerfelder...“
Übrigens, diese Methode hat Systemcharakter in der ganzen deutschen Nachdichtung und ist ein wesentlicher Mitgrund dafür, dass sie – wie bereits erwähnt - fast eine dreifache Länge im Vergleich zum Original hat. Man kann geteilter Meinung darüber sein, ob diese erklärend-integrierende Methode Authentizität herzustellen vermag oder ob sie im Gegenteil die poetisch mehrdeutige Sprache des Originales einengen, ja sogar dessen beinahe magisch-religiöse Aura zerstören würde. Andererseits lebt ein klassisches poetisches Werk wie „Truyện Kiều“ auch von solchen stilistischen Besonderheiten wie den historischen Gleichnissen, und es wäre sicherlich ein Verlust, wenn diese Ausdrucksebene in der Nachdichtung völlig verschwinden würde.
Zurück zu dem im englischen Text verwendeten Bild “ebb and flow“ [„Ebbe und Flut“]. Diese Metapher bringt gewiss auch den Gedanken über das Wechselhafte des Daseins zum Ausdruck. Aber allein schon das Bild „Flut“ – im Althochdeutschen hieß es „fluot“, im Indogermanischen hieß es „plo“, im Sinne von „fließen“ – signalisiert mehr die allgemeine Bedeutung von Bewegung und gar von Dynamik, von ozeanischer Weite... Das Bild über das blaue Meer, aus dem nun Maulbeerfelder wachsen, beinhaltet hingegen ein Gefühl der Trauer, des Sein-Verlustes, meint das Rückgängigmachen eines einstigen Großen, Weiten, Endlos-Beweglichen... Dieser Gedanke, im Prolog als die Unversöhnlichkeit zwischen Talent und Schicksal, zwischen Gabe und Geschick thematisiert, wird übrigens das gesamte Versepos hindurch als ein existentielles Lebensgefühl durchziehen. Es ist z.B. die Angst, dass das gerade Erlebte sich im Nu als Trugbild herausstellen würde, die die Titelheldin später in der Liebesschwurszene mit ihrem Freund Kim Trọng, sozusagen selbst im Augenblick des höchsten Augenblicks, empfunden hat:
„Nàng rằng khoảng vắng đêm trường
Vì hoa nên phải đánh đường tìm hoa
Bây giờ rõ mặt đôi ta
Biết đâu rồi nữa chẳng là chiêm bao“
Deutsch:
„Durch leere Räume und
durch späte Nacht
bin ich,
der Blüten wegen, noch einmal
den Pfad gegangen, um
dem Liebsten nah zu sein.
Jetzt stehen wir
uns wirklich gegenüber – doch
wer weiß,
ob später dies nicht nur
als Traum
in unserer Erinnerung leben wird“ (S. 52)
Nachdem wir uns mit dem Beispiel über das historische Gleichnis und die verschiedenen Arten ihrer Bewältigung beim Nachdichten befasst haben, wenden wir uns nun dem Problem des Umgangs mit den klassischen Metaphern zu. Nach dem Literaturwissenschaftler Trần Đình Sử arbeiten von insgesamt 3.254 Versen in Truyện Kiều 240 Verse, also 7,2 %, mit dem Reservoir der klassischen Metaphern. Im Prolog sind es vor allem die Metaphern „trời xanh“ („der blaue Himmel“/ „Blue Heaven“) und „má hồng“ („rosenrote Wangen“ / „a rose“). Sowohl Faber als auch Huỳnh Sanh Thông übertragen in diesem Zusammenhang das Bild „der blaue Himmel“ wörtlich in die jeweilige Zielsprache:
Deutsche Fassung:
„... Muß
der blaue Himmel stets
mit rosenroten Wangen kämpfen, weil
die Eifersucht ihn quält?“
Mit „dem blauen Himmel“ ist hier natürlich der Demiurg, der Weltschöpfer gemeint. Im Kontext der ostasiatischen Kosmologie gibt es allerdings keinen Platz für einen persönlichen Schöpfer, das Bild „der blaue Himmel“ ist daher eine genuine Metapher für das ostasiatische Verständnis über ein ewiges, unpersönliches Weltgesetz, welches in diesem Zusammenhang „die rosenroten Wangen“ – eine Metapher für die Frauen oder zumindest für die Schönsten unter ihnen – unerbittlich verfolgt.
Interessant ist hier auch der Unterschied in der Art der Übertragung des Bildes „má hồng“. Die deutsche Fassung überträgt diese ja wörtlich als „rosenrote Wangen“; im Original bilden „trời xanh“ und „má hồng“ einen sogenannten Parallelismus (tiểu đối), also eine parallele und antithetische Anordnung von Worten und Wortgruppen – ein sehr häufig verwendetes stilistisches Mittel in Truyện Kiều (862 von 3254 Versen, d.h. 27%. mit 12 verschiedenen Formen). Auch diese Eigenart wird so – zumindest ansatzweise - in der deutschen Übertragung beibehalten. Im Unterschied dazu gibt die englische Fassung das Bild „má hồng“ als „Rose“ (für „Frauen“) wieder, vermutlich auch eher eine Metapher aus dem indoeuropäischen Sprachraum (denkt man z.B. an das berühmte Gedicht „Heidenröslein“ von Goethe).
Ohne jegliche Wertung vorzunehmen, kann man hier das Fazit ziehen, dass die englische Fassung – bei der Beibehaltung der formalen Satzstruktur des Originales – dazu tendiert, die historischen Gleichnisse und die klassischen Metaphern aus der vietnamesischen bzw. ostasiatischen Kunsttradition durch metaphorische Bilder westlicher Herkunft zu ersetzen. Hingegen folgt die deutsche Fassung – bei einer radikalen Umformung der Satz- und rhythmischen Struktur - weitgehend der Bemühung, die tradierte Kunstsprache in den deutschen Text erklärend-poetisch zu integrieren.
Noch eine letzte Bemerkung zu dem besprochenen Textausschnitt. Es geht um die Rolle des lyrischen Ich, oder des Ich-Erzählers. Lesen wir nochmals die folgende Passage:
„So mußte ich in Zeiten, da
Gedanken sichund Menschen wandelten wie Meere – aus
den Wogen wuchsen Maulbeerfelder -, Dinge schauen, die
mein Herz zerrissen...“
Im Originaltext existiert weder das Pronomen „ich“ noch das Possessivpronomen „mein“. Schon in Bezug auf die Tang-Lyrik, etwa bei Du Fu, spricht die Literaturwissenschaft von der „Ich-Vergessenheit“, was allerdings nicht unbedingt als nachteilig anzusehen wäre. Im Prolog von „Truyện Kiều“ etwa wird die Abwesenheit des logischen Subjektes „ich“ von vielen Autoren geradezu als ein wichtiges Mittel zum Erwecken von Identifikation von Seiten der Leser interpretiert.
In der deutschen Nachdichtung – Ähnliches gilt auch für die englische Fassung - tritt mit dem Pronomen Ich die quasi die Figur des prononcierten Ich-Erzählers ein. Dies hat nicht nur mit der deutschen oder englischen Grammatik zu tun, die zumindest ein logisches Subjekt für den Satzbau voraussetzt. Über das rein formal-sprachliche Bedingtsein durch das System der Zielsprache hinaus wirken auch die gesamten ästhetischen Strategien, Intertextualitäten in der Literaturtradition der Zielsprache auf den Akt der literarischen Übersetzung. So hat im vorliegenden Fall die Sprechhaltung „So mußte ich in Zeiten – da Gedanken ... – Ding schauen, die mein Herz zerrissen“ weniger gemeinsam mit der „Ich-Vergessenheit“ im vietnamesischen Urtext, sondern erinnert vielmehr an solche Verse aus der Tradition der klassischen deutschen Literatur, hier einige Zitaten von der „Zueignung“ aus der Tragödie „Faust“ von J.W. Goethe:
„Versuch’ ich wohl, euch diesmal festzuhalten?
Fühl ich mein Herz noch jenem Wahn geneigt?“
oder:
„Mein Busen fühlt sich jugendlich erschüttert“ etc.
Ein weiterer Beleg für die Einwirkung der literarischen Traditionen im Kontext der Zielsprache auf die Nachdichtung ist die Passage am Ende des 15jährigen Leidensweges von Kiều, nach dem Selbstmord auf dem Fluß Tiền Đường und vor der Rettung durch die buddhistische Nonne Giác Duyên. Der Ich-Erzähler, oder das lyrische Ich spricht dort (in der deutschen Nachdichtung):
„Zu allen Zeiten neigte gnadenvoll
der Himmel sich
den Opfern dieser Erde zu,
die auch in Stunden tiefer Qual...“
Diese Strophe erinnert weniger an das Original [„Mấy người hiếu nghĩa xưa nay - Trời làm cho đến lâu ngày càng thương“], sondern eher an diese Verse:
„Neige, neige
Du Ohnegleiche“
oder
„Ach neige,
Du Schmerzensreiche,
Dein Antlitz gnädig meiner Not“
Es handelt sich hier um das Gebet von Gretchen vor dem Bild der Mater dolorosa aus dem Teil I von „Faust“.
Diese gleichsam Goethesche Sprechhaltung schadet nicht dem Geist des vietnamesischen Nationalepos. Im Gegenteil. Der Ich-Erzähler in den chinesischen Kapitel- und Szenenroman aus der Ming-Zeit (wenn man den Begriff in diesem Zusammenhang verwenden darf) tritt als ein reiner Chronist bzw. moralischer Stichwortgeber auf. Der Ich-Erzähler in den Versromanen, insbesondere in Truyện Kiều – auch wenn ein formales logisches Subjekt „ich“ nicht vorhanden ist – übernimmt hingegen die Funktion eines lyrischen Ich, welches die Leser emotional ins Geschehen integriert. So gesehen, vermag die Nachdichtung poetische Ressourcen des Originalwerkes zu entfalten, die erst in der Begegnung mit einer anderen Sprache Wirklichkeit werden. Und streng betrachtet, gehört eine Nachdichtung weder allein der Literatur der Ausgangssprache noch der Literatur der Zielsprache. Sie stellt eine völlig neue Qualität dar, sie ist Weltliteratur im besten Sinne des Wortes./.
Berlin-Biesdorf, den 01.06.2020