Gemeinsamer Track – A Musical Landscape
Von Amel Zen, Ghassan Sahhab, Hajar Zahawy, Mohamed Adam, Rehab Hazgui, Yacoub Abu Ghosh, Zaid Hilal
Länge: 15’21
Durch die Pandemie physisch getrennt, teilte jeder der teilnehmenden Künstler ein ihm nahestehendes Konzept oder einen Klang, um ihn dann an den nächsten Musiker weiterzureichen, der darauf wiederum musikalisch antwortete. Dabei arbeiteten die Künstler mit Musik als Ausdruck immateriellen kulturellen Erbes, was Fragen über die Bedeutung und den Gebrauch von „Erbe“ aufkommen ließ, sowie die Vielfalt verdeutlichte, in die jeder von ihnen eintauchte und die jeder von ihnen mit den anderen teilte.
Das Stück beginnt mit Ghassan Sahhabs Komposition auf der Zither, die auf dem Lied „Ya Falastiniya“ des großartigen ägyptischen Komponisten und Sänger Sheikh Imam aufbaut. Der libanesische Zitherspieler, Komponist, Akademiker und Forscher entschied sich vor allem vor dem Hintergrund der jüngsten Aufstände im besetzten Palästina im Mai 2021 und den Aggressionen im Gaza-Streifen für „Ya Falastiniya“. Das Stück ist in der musikalischen Geschichte Ägyptens und der Levante verwurzelt und nutzt eines der Hauptinstrumente des Takht (des musikalischen Ensembles in der modalen/maqamatischen Tradition, bestehend aus Oud, Zither, Violine, Nay-Flöte und Tambourin).
Die Komposition entwickelt sich mit zeitgenössischen Synthesizer-Klängen weiter, begleitet von der traumhaften Bassgitarre des jordanischen Multiinstrumentalisten und Komponisten Yacoub Abu Gosh. Abu Gosh nimmt den Faden mit einem besonderen Maqam Sīkāh dort auf, wo Sahhab ihn losgelassen hat, und erweckt in den Gedanken des Künstlers damit eine traditionelle Melodie des Dabke-Tanzes aus der Region Maan. Yacoub nutzt die rhythmische Melodie des Maqams um Sahhabs Werk zu ergänzen und verwendet dafür eine Instrumentierung aus Synthesizern, Percussion und Bass.
Vom Dabke-Rhythmus aus Maan trägt Amel Zens algerisch-amazighischer Einfluss die Musik in neue Regionen und Klangwelten. Als eine spontane Referenz an die vorherigen Beiträge schließt Amel Zen einen weitverbreiteten 6/8-Rhythmus aus Algerien und dem großen Maghreb (Nordwestafrika) an. Ihre Musik schreibt sich in die Komposition als dringlicher Aufruf zur Rehabilitation der Geschichte Nordafrikas und der Identitäten seiner Bevölkerung ein. Ihre Komposition nannte die Komponistin „Tamazgha” (ein Toponym, das in der Berbersprache die Gegend bezeichnet, die traditionell von den Amazigh bewohnt wird). Damit versucht sie auch, das tausend Jahre alte Erbe der Amazigh wiederzubeleben. So beansprucht Zens Komposition einen einzigartigen musikalischen Raum und dient als lebendiges Zeugnis des Kulturerbes ihres Volkes.
Auf ganz ähnliche Weise führt auch Zaid Hilals Stück „Haddi Ya Bahar“ („Beruhige dich, Meer“) den Hörer in einen anderen Kampf um Gerechtigkeit und Unabhängigkeit. Dieses Lied gehört zur palästinensischen Folklore und wurde unter anderem von Abu Arab, einem Folklore-Pionier, der häufig auch als Dichter der Revolution bezeichnet wurde, in Bezug auf die arabische Revolution von 1936 gesungen. Unter dem direkten Einfluss jüngster Aggressionen gegen Palästinenser in Sheikh Jarrah vom Frühling und Frühsommer 2021 nimmt Zaid Hilal das „populäre Gedächtnis“ seines Umfelds auf und arrangiert Abu Arabs Meisterstück mit akustischer Gitarre, E-Gitarre, Percussion, Bassgitarre und Synthesizer neu.
Ein Wimpernschlag der Stille läutet einen neuen Anfang ein: Das Stück wechselt zu den lokalen afrikanischen Rhythmen des Sudan. Mohamed Adam, Musiker, Sänger und Komponist aus Darfur, bringt drei kaum dokumentierte und unterrepräsentierte musikalische Stile seiner lokalen Gesellschaft zusammen, um die große Vielfalt sudanesischer Rhythmen mit einem breiten Publikum zu teilen.
Beginnend mit dem Kewal oder Kewet stellt Mohamed einen von Darfurs verbreitetsten musikalischen und tänzerischen Rhythmen vor, dessen Bewegung von Kamelen inspiriert ist. Dieser Stil herrscht unter den Beja-Stämmen vor, die die Küste des Roten Meeres im Ostsudan bevölkern. Der Kewal-Tanz ist häufig ein Ausdruck maskuliner Kraft: Die Männer schwingen ihre Schwerter wobei sie die Jalabiya, ein locker sitzendes, traditionelles ägyptisches Gewand, tragen, sowie eine lange Sirwal, eine lockere Hose, und die Sideiri, eine ärmellosen Jacke. Instrumental bedient sich die Musik der einseitigen Kastenspießlaute Masinko und erfordert gemeinsames Klatschen um rhythmische Harmonie aufzubauen.
Eingebettet in Mohameds Stück findet sich auch noch ein anderer musikalischer Stil, Franqabiya فرانقابية (übersetzt der Körper der Gazelle), dessen Namen eine Anspielung auf die Herkunft der Tanzbewegungen ist. Diese Musik und der dazugehörige Tanzstil hat seinen Ursprung bei den For-Stämmen des Westsudan, die ihn bei religiösen und sozialen Gelegenheiten aufführen und dabei Männer, Frauen und Kinder durch die Liebe zu Tanz und Bewegung zusammenführen. Der Tanz bietet auch Raum für den Austausch von Geschlechterrollen; Frauen kleiden sich in Männerkleidung und umgekehrt und nutzen Accessoires, die im Takt der Musik rascheln und klingeln.
Der dritte Stil, den Mohamed Adam vorstellt, ist der Mardoum-Rhythmus, der mit den Baggara-Stämmen westlich und südlich vom sudanesischen Kordofan assoziiert ist. Wie auch die beiden vorangehenden Stile ist auch der Mardoum mit einem Tanz gleichen Namens verbunden, in dem die Männer sich den Frauen gegenüber aufstellen und beginnen, mit den Füßen zu stampfen und auf eine durch schnell trottendes Vieh inspirierte Weise zu springen. Die Frauen sind häufig in Gesangsgruppen organisiert. Die Hakkamat حكامات (Hauptsänger) wechseln sich mit Shayyalat شيالات , dem Chor, damit ab, die Verse der Lieder zu singen, die sich oft mit Ritterlichkeit, Großzügigkeit, Lob und Liebe beschäftigen. Jede Gruppe wiederholt ihre Teile alternierend, während die Männer pfeifend und mit kraftvollen Lauten antworten.
Die afrikanischen Rhythmen des Sudan leiten dann in mächtige, energetische und repetitive kurdische Rhythmen auf der Daf und anderen Schlaginstrumenten des bekannten kurdischen Musikers Hajar Zahawy über. Der Künstler wählt rhythmische Muster aus den Kompositionen seiner musikalischen Zeitgenossen aus und baut seinen Teil auf den Gemeinsamkeiten dieser schnellen 6-Beat-Muster, die im musikalischen Wissen Westasiens und Nordafrikas verbreitet sind, auf.
Im Anschluss verwandelt sich die Musik in den stimmungsvollen und atmosphärischen Electro-Sound der tunesischen Sound Künstlerin Rehab Hazgui. Die Künstlerin fügt eine imaginäre Landschaft zum Stück hinzu, die ihre innere Verfassung in Musik übersetzt, eine Breite verschiedener Werke, sowie tiefverschachtelten Gebiete von Überbliebenem, Erinnerungen und Geschichten. Ihre Klänge zeigen Resonanzen von Fragmentierung und Isolation und erschaffen faszinierende Rhythmen und verzerrte Landschaften.
Der letzte Teil des Stückes schließt den instrumentalischen und kompositionellen Kreis mit der Rückkehr der Zither inmitten ferner und verträumter Synthesizer und Electro-Sounds ab, die die Stimmung der Komposition in eine kontemplative und dunkel verortete Suche nach dem Inneren verwandeln. Diese Verflechtung subtiler elektronischer Sounds mit der Zither erreicht den Hörer aus der Ferne, baut eine futuristische Stimmung von Präsenz und Absenz auf und verliert sich dann in der Andeutung eines Endes, eines Abschieds.
Der gemeinsame Track wurde durch eine Zusammenarbeit in zwei Zyklen realisiert. Im ersten Zyklus antwortete jeder Künstler auf den anderen auf kreative Weise, indem er die Komposition musikalisch dort aufgriff, wo der vorhergehende Künstler sie ihm überlassen hat, und reichte sie dann dem nächsten weiter. Im zweiten Zyklus wurden die Künstler darum gebeten, die Sounds der anderen durch Hinzufügen eigener musikalischer Beiträge zu bereichern.
So wurden Yacoub Abu Ghoshs musikalische Konzepte durch die Sprache Ghassan Sahhabs und Hajar Zahawys hörbar; Ghassan Sahhabs Philosophie und Musik wiederum trifft auf die Musik von Yacoub Abu Ghosh und Zaid Hilal, während Rehab Hazgui die Arbeiten von Ghassan und Yacoub als Basis ihrer eigenen Komposition nutzt. Dieser Prozess verfestigte die anhaltende musikalische Synergie unterschiedlicher Konzepte und Erfahrungen.
Obwohl die physische Entfernung zwischen den Künstlern in ihren Werken präsent ist, fühlt der Hörer gleichzeitig auch die enorme Energie, die sie durch das musikalische Zusammenkommen in dem gemeinsamen Track von 15 Minuten schaffen konnten, einem Aufeinandertreffen von Geographien, Instrumenten, Sprachen, musikalischem Wissen und Geschichten.