Sprechstunde – die Sprachkolumne
Zusammenführen anstatt zu trennen
Wie unzeitgemäß ist eine Haltung der Abschottung? In seinem letzten Kolumnenbeitrag plädiert Hauke Hückstädt für eine Literatur, die Barrieren überwindet.
Von Hauke Hückstädt
Form follows function – das bedeutet ja nicht, die Form duckt sich. Es bedeutet, die Form nimmt die Funktion voraus, verweist auf sie. Wenn eine Funktion der Sprache Verständigung ist, dann darf die Sprache auch einfach sein. Jedenfalls dann, wenn es darauf ankommt. In den Nachrichten, auf dem Standesamt, vor Gericht, in der Liebe, in der Literatur, in der es immer um alles geht. Das heißt ja nicht, dass die Sprache einfältig ist. Ich plädiere nicht dafür, Proust durch Prosa zu ersetzen, Faust durch Mickey Mouse. Aber es könnte darum gehen, im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention mehr kulturelle Teilhabe bereitzustellen. Nicht als Exklusion wie die den Olympischen Spielen nachgeschobenen Paralympics im internationalen Sport, sondern als selbstverständlicher, innenliegender Teil des kulturellen, insbesondere literarischen Geschehens.
Abschottung
Eine meiner abtrünnigen Interessen gilt der Automobilität. In diesem Sektor lässt sich gegenwärtig leider besonders gut ablesen, wie sich Form und Funktion einander entfremden lassen. Unsinnig raubtierhafte, immer aggressiver anmutende Kühlergrills (meist für nicht luftgekühlte oder gar für hybride Fahrzeuge). Backsteingroße, chromgaukelnde Auspuffauslässe, hinter denen gar keine oder kümmerliche Vergaserendrohre stecken. Obszöne Ansammlungen von Sicken und Falzen im Blech. Karosserieformen auf Anabolika, mit immer noch höher gezogenen Türlinien, für immer schmaler werdende, schlitzartige, blickdicht getönte Windschutzflächen. Immer mehr schwere, schwer verständliche Autos. Fahrende Barrikaden, kaum lesbar vor dem Hintergrund von Klimawandel, Energiekrise und notwendigem Downsizing. Vehikel der Abschottung. Cancel Culture auf vier Rädern.Ich werde nicht die Gegenwartsliteratur mit SUVs vergleichen. Wir könnten aber aufmerksam dafür werden, dass wir allgemein einer Kultur frönen, die kaum vermittelbar ist und die trennt, anstatt zusammenzuführen. Vergegenwärtigen Sie sich nur einmal die Originale von Mini Cooper oder Fiat 500 und halten Sie die gegenwärtigen Neuauflagen dagegen. Mit dem Soziologen Harald Welzer gesprochen: Man wird es später nicht erklären können.
Anschlussfähigkeit und Gemeinsinn
Das Ende des Automobils gebiert seine letzte, endgültige hermetische Form. Es gab auch immer solche Literaturen und Schreibweisen. Ich wähle sie, periodisch. Auch wenn wenig von ihnen wegführt, manche von ihnen gehören zum Besten. Wenn es gut läuft, sind sie Labore unserer Zukunft. Ich bin also dafür. Doch nur wenige Texte überhaupt, möglicherweise schmächtiger in Gestalt und sparsamer im Ansinnen, können von sich behaupten, die Zukunft hätte in ihnen schon begonnen. Die Texte in einfacher Sprache, die für das Literaturhaus Frankfurt am Main entstanden sind, eint eine Anschlussfähigkeit, eint ein Gemeinsinn, der das Zeug hat, die Literatur über viele Barrieren triumphieren zu lassen. Da gilt es fortzufahren, um etwa 16 Millionen Menschen nicht auszuschließen. Was also können Hörbuch und Hörspiel leisten? Was die Theaterliteratur? Was die Graphic Novel und das Fantasy-Genre. Was der Roman? Selbst im illustrierten Kinderbuch gibt es Ansätze, Barrieren abzubauen. Wir müssen sie nur erst erkennen. Und welche Wege finden wir für die kanonische Literatur, für die Klassiker? Albert Camus ist uns schon vorausgegangen. In seinem Roman Der Fremde schreibt er: „Heute ist Mama gestorben. Vielleicht auch gestern, ich weiß nicht. Ich habe ein Telegramm vom Heim bekommen: ‚Mutter verstorben. Beisetzung morgen. Hochachtungsvoll.‘ Das will nichts heißen. Es war vielleicht gestern.“Noch einmal, oft reicht eine gute Idee, um ein Dutzend schlechte zu stürzen. Es gibt diese Ideen. Sie haben etwas vom 3-Liter-Auto. Wenn wir sie nicht verwirklichen, wird die Zukunft Q7, X5, Raptor oder Escalade geheißen haben.
Sprechstunde – die Sprachkolumne
In unserer Kolumne „Sprechstunde“ widmen wir uns alle zwei Wochen der Sprache – als kulturelles und gesellschaftliches Phänomen. Wie entwickelt sich Sprache, welche Haltung haben Autor*innen zu „ihrer“ Sprache, wie prägt Sprache eine Gesellschaft? – Wechselnde Kolumnist*innen, Menschen mit beruflichem oder anderweitigem Bezug zur Sprache, verfolgen jeweils für sechs aufeinanderfolgende Ausgaben ihr persönliches Thema.