Ethik in der Politik? Wieso Ethik?
Geert van Istendael, belgischer Schriftsteller, Dichter und früherer Journalist, plädiert für einen neuen Gesellschaftsvertrag, der nach Überwindung der Corona-Krise in Kraft treten solle. Die europäische Solidarität solle stärker in die Politik Einzug erhalten und so verantwortungs- und gesinnungsethische Maßnahmen der Politik bestimmen.
Von Geert van Istendael
Das Begriffspaar Gesinnungsethik-Verantwortungsethik habe ich entdeckt in den Sechzigern, Max Weber lesend, während meines Soziologiestudiums. Man findet es in einer berühmten Rede, die der große Soziologe 1919 gehalten hat. Für Max Weber handelt derjenige verantwortungsethisch, der für die (praktischen) Folgen seines Handelns aufkommt. Der Gesinnungsethiker findet seine Rechtfertigung im (ethischen) Eigenwert seines Handelns. Max Weber sieht einerseits einen abgrundtiefen Gegensatz zwischen den beiden, andererseits sieht er beide nicht als absolute Gegensätze, sondern als Ergänzungen.
In den Achtzigern des vorigen Jahrhunderts war ich, als Journalist, mit der belgischen Politik beschäftigt. Tagtägliche Beobachtung aktiver Politiker hat mich gelehrt, wie schwierig es ist, im Schlammbad der politischen Praxis die ethischen Prinzipien sauber zu halten.
Gibt es in der modernen Politik Beispiele für gesinnungsethische Maßnahmen?
Ja, gewiß, die gibt es. In Deutschland. Der historische merkelsche Satz Wir schaffen das, ist Gesinnungsethik in Reinkultur. Diese drei Worte waren kein Ausbruch tiefer Irrationalität, noch viel weniger waren sie eine Aufwallung sogenannter weiblichen Sentimentalität. All das hat man damals geschrieben und lauthals geschrien. Der Satz war jedoch der Ausdruck der felsenfesten, christlichen Überzeugung der Bundeskanzlerin. Sie, die Pfarrerstochter, hat sich inspirieren lassen von einem Bibeltext, die Millionen innerhalb und außerhalb Deutschlands kennen. Ich meine, die Erzählung des barmherzigen Samariters (Lukas 10, 30-37). Angela Merkel hat nur den Halbtoten der Parabel multipliziert mit dem Faktor eine Million. Es gab zweierlei Reaktionen der deutschen Bürger, voller Haß, massiv, aber zugleich voller Liebe und selbstloser Großzügigkeit, vielleicht noch massiver. Mit drei Worten hat Angela Merkel den Beweis erbracht, daß eine auf gesinnungsethischen Grundlagen beruhende Politik nicht zwangsläufig zum Scheitern verurteilt ist.
Aber das ist nur die Hälfte dieser Geschichte. Im Nachhinein hat die Bundeskanzlerin sich in der Flüchtlingsfrage entschieden der Verantwortungsethik zugewandt. Na klar, ist sie doch nicht gerade eine blauäugige Pfadfinderin. Frau Merkel beherrscht das politische Handwerk meisterhaft. Sie durchschaut ihre politische Umwelt bis in die finstersten Ecken. Sie kennt die Tücken, die Holzwege, aber ebensogut den Nutzen der auf Verantwortungsethik gestützten Maßnahmen und sie ist immer bereit, die Konsequenzen ihres politischen Handels im nie bequemen Spannungsverhältnis zwischen Gesinnung und Verantwortung zu tragen. In diesem Sinne könnte man fast sagen, dass Angela Merkel den weberschen Idealtypus des politischen Handelns vertritt. All das sage ich, der ich doch keinesfalls als Christdemokrat einzustufen bin.
In diesem Zeitalter der Schreckensherrschaft der Kaiserin Corona, meine ich eine sonderbare Annäherung feststellen zu können zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik. Beide Formen der politischen Ethik sind in einen unentwirrbaren Knäuel geraten. Verantwortung mutiert teilweise zu Gesinnung, Gesinnung zu Verantwortung.
Die wissenschaftliche, bzw. virologische Logik hat tiefgehend die politischen Strategien geprägt: Quarantäne, Teste, Gesichtsmasken, geschlossene Schulen, usw. Es ist bemerkenswert, wie ähnlich die Maßnahmen in den verschiedenen europäischen Ländern sind, vielleicht mit Ausnahme von Schweden. Noch im Monat Dezember des vergangenen Jahres waren diese Sachen eine asiatische Dystopie. Heute sind sie Alltag. Bei uns. Die Prinzipien der Wissenschaft sind gleich den Prinzipien der Verantwortung und der Gesinnung, zusammen. Gesinnung und Wissenschaft haben immer etwas Unstrittiges. Andererseits wird es als völlig unverantwortlich angesehen die neuen Regeln und Vorschriften nicht zu befolgen.
Die protestierenden Wutbürger haben Unrecht. Trotzdem muß ich zugeben, daß Kaiserin Corona ein paar Züge einer Diktatorin hat. Erstens, eine Diktatur hält die Bürger in steter Unsicherheit. Das erleben wir heute. Die Ursachen dieser neuen Unsicherheit sind eindeutig. Die Kenntnisse über das Virus sind äußerst lückenhaft. Impfmittel gibt es noch nicht, von der Massenproduktion und flächendeckenden Verbreitung eines wirksamen Impfstoffes ganz zu schweigen. Zweitens, in jeder Diktatur gibt es keine Alternative. Das Wort des Diktators ist Gesetz. Wer nicht einverstanden ist, landet im Kerker oder wird hingerichtet. Bestenfalls kann man auswandern. So brutal sind wir selbstverständlich nicht. Aber der Satz es gibt keine Alternative kennen wir, seit Jahren. Das englische Akronym TINA ist um die Welt geflogen. Vergessen wir bitte nicht, daß dieser Satz total antidemokratisch ist. Eine Demokratie ist, per definitionem, die zivilisierte, also gewaltlose Organisation des Widerspruchs, des Streits, des Nichtmiteinandereinverstandenseins. Inzwischen gibt es offensichtlich kaum eine Alternative.
Im Reich der Kaiserin Corona gilt diese Gleichung:
Wissenschaft = Politik = Verantwortung = Gesinnung .
Das Ergebnis ist: allgemeiner, ziviler Gehorsam.
Der Satz es gibt keine Alternative hat aber Jahrzehntelang wirtschaftliche und finanzielle Maßnahmen begleitet. Kein Wunder, daß der stärkste Widerstand gegen den neuen Inhalt dieser Gleichung aus Wirtschaftskreisen kommt. Bis vor kurzem galt eine andere Gleichung:
Wirtschaft = Politik = Verantwortung = Gesinnung.
Wohlgemerkt, das Konzept Wirtschaft hatte einen fast hundertprozentigen neoliberalen Inhalt. Heute sehen wir wie die zwei Ausgestaltungen der Gesinnungs- und Verantwortungsethik auf einander prallen. Wir möchten Covid-19 restlos ausrotten. Aber gehen wir damit nicht das Risiko ein, dass wir Wirtschaft und Gesellschaft zertrümmern?
Trotz alledem glaube ich, dass es möglich ist eine neue Gleichung zu erstellen für die Zeit nach dem Fall der Kaiserin Corona. Die einschneidenden Ereignisse der letzten Wochen und Monaten haben bewiesen, wie notwendig, wie unverzichtbar, wie rettend unsere Systeme der sozialen Sicherheit sind, erstens für das Gesundheitswesen, aber auch für die Arbeitslosigkeit und für Beihilfen an Unternehmen. Ich nenne die soziale Sicherheit ein Kronjuwel der europäischen Zivilisation, auf gleicher Ebene mit der Malerei von Dürer und Rembrandt, mit der Musik von Beethoven und Bach, mit der Dichtung von Dante und Hölderlin. Wir, Europäer, haben kollektiv dieses Glanzstück unserer Kultur vernachlässigt. Wir meinten, die soziale Sicherheit ist nur ein unbequemer Kostentreiber. Gerade das hat die Coronakrise widerlegt. Wir sollen höchstdringend die soziale Sicherheit, diese strukturierte, öffentliche Solidarität Aller für Alle wieder pflegen und ausbauen, wir sollen die soziale Sicherheit großzügiger und umfassender machen. Nach der größten Krise seit der Befreiung ist es Zeit für einen neuen Gesellschaftsvertrag, das heißt, für eine neue Gleichung.
Soziale Sicherheit = Wirtschaft = Politik = Verantwortung = Gesinnung.
Das Goethe-Institut veröffentlicht diese Artikel als Beitrag zur öffentlichen Debatte. Die darin vertretenen Positionen geben allein die Meinungen der Verfasser wieder.