Kevin Rittberger zu Besuch in Chile - Teil 2

© s/w © s/w Fotografie © Archivo Histórico José Vial Armstrong, Escuela de Arquitectura y Diseño de la Pontificia Universidad Católica de Valparaíso, Chile.
Warum Optimist?

Der Mitarbeiter des Historischen Museums behauptet etwas, dem ich heftig widersprechen muss: Dass der Kapitalismus sich einfach alles einverleibe, Widerstand sei zwecklos. Ich empfinde das als faule Ausrede und Anleitung zur Passivität, ja geradezu als ästhetische Gesamtkapitulation aller Kulturschaffenden und versuche meinen Gesprächspartnern eine Ära nach Ironie, Zynismus und Defätismus aufzuzeigen - radebrechend, nach zwei Wochen Spanischunterricht in Bellavista, der Fernseher tobt lautstark über uns und unter uns der Motorenlärm der Calle Merced. Ich spreche von Cybersyn, einem kybernetischen Wirtschaftsprojekt während der Unidad Popular, einer Art frühem, sozialistischen Internet, das die Basis stärken und selbstverwaltete Strukturen befördern sollte, schwärme von Stafford Beers Ikosaeder als geometrischem Modell für herrschaftsfreie Kommunikation, beschreibe die Neugier und Wachheit des inzwischen 98-jährigen Victor Pey, der im Spanischen Bürgerkrieg Seite an Seite mit dem Anarchisten Buenaventura Durruti gegen die Faschisten gekämpft hat und mit dem ich das Glück hatte, vorige Woche über den heutigen Geist der chilenischen Jugend sprechen zu können und versuche schließlich am Horizont eine neue Form der „internationalen Solidarität“ auszumalen. Diese würde im 21. Jahrhundert aber nicht mehr von einer Einheitspartei kontrolliert werden, sondern von einer verstreuten Interessensgemeinschaft, von ciudadanos colectivos (Tito Tricot).

Carla Miranda pflichtet ihrem Mitarbeiter bei, indem sie ungläubig den Kopf schüttelt, da „es doch wirklich keinen Grund zur Hoffnung gibt“. Ich bestehe darauf, dass sich überall auf der Welt Widerstand formuliere und nichts absorbiert werde, nur weil irgendwo ein neues Produkt kreiert wird. Die Energie würde nicht entweichen, sei immer noch vorhanden, versuche ich den Fernseher zu übertönen. Beweise will sie sehen.
Ob wir Cola, Fanta oder Sprite trinken wollen, wurden wir vor dem Essen gefragt, vor uns eine Schale Weizenbrötchen nebst einer Tube Mayonnaise. Hier und jetzt, in diesem Speiselokal haben wir keine Wahl und ich keine Beweise.



Letztens sprach ich mit dem Historiker César Leyton Robinson, der Hannah Arendts Totalitarismus-Buch auf dem Schreibtisch zu liegen hatte, über die „Verpreußung“ Chiles im 19. und 20. Jahrhundert, totalitäre Ökonomie zu Beginn des 21. Jahrhunderts sowie Formen kolonialer Aneignung des indigenen Wissens. Er malte mir eine Linie auf, vom ersten deutschen Ankömmling in Valdivia, dem Zoologen Rudolf Philippi, bis hin zum Biologen und heutigen Saatgutmagnaten Erik von Baer. Eine Woche später treffe ich Domingo Oñate, einen Mapuche-Historiker in Temuco, mit dem ich über die Anfänge der rassistischen Politik der „Verweißung“ im 19. Jahrhundert spreche. Die Deutschen seien die einzigen gewesen, die sich nicht vermischt hätten. Die koloniale Unterscheidung zwischen Zivilisation (=hellhäutig, anständig, rechtschaffen, fortschrittlich) und Barbarei (=dunkelhäutig, faul, unordentlich, rückschrittlich) sei bis heute spürbar.

An der Ausfahrt zur ehemaligen Colonia Dignidad fahren wir vorüber. Mich interessiert weniger der Ausnahmefall, jener Ort der Folter und Gewaltexzesse, heute folkloristisch-euphemistisch in Villa Bavaria umbenannt, sondern vielmehr das generelle Erbe der deutschen Einwanderung. Ein Heft, 1998 zur 150-jährigen deutschen Kolonisation erschienen, gibt ein Zeugnis davon: Deutsche Orchester, Chöre, Schulen, Karrieren, hoch sollen sie leben, dreimal hoch! Der Nationalsozialismus wird einfach ausgeblendet. Revisionismus oder Traditionsbewusstsein? Ist die Ausnahme die Regel? Sollte ich der düsteren These Giorgio Agambens nachgehen, der behauptet, das heute alles „Lager“ sei, auch die Gated Communities der Reichen? Und hat sich nicht bereits Voltaires argloser Candide die Taschen voller Diamanten gestopft, um sich vom Daseinskampf zu befreien? - höre ich die Zyniker zufrieden rufen.



Das Vertrauen andererseits, das uns in den Comunidades der Mapuche in den Bergen hinter Curarrehue entgegengebracht wird, die Lieder ihrer Vorfahren, die wir zu hören bekommen, die ganzheitliche Verbundenheit zur Erde, zur Wallmapu, all das erzählt eine andere Geschichte. Und das Saatgut für Weizen befindet sich inzwischen „nur“ zu fünfzig Prozent in den Händen von „Semilla Baer“. Der Optimist würde sagen: Die Chancen stehen 50:50. Hier in Araukanien, dem Land der wundervollen Seen und Berge, entstehen die ersten Bilder, die auf der Bühne eine andere Geschichte erzählen wollen - weder die des in den Köpfen immerfort noch spukenden Tausendjährigen Reiches noch die der hegemonialen Herrschaft der transnationalen Konzerne, die auf dem besten Wege sind, den Planeten für Abertausende von Jahren zu verwüsten.

Kevin Rittberger, Curarrehue, 9. Januar 2014