Zu Gast in Chile: Stefan Kaegi
Vom 6. bis 17. Januar 2015 konnten Santiagos Passanten und Bewohner Zeugen eines interessanten Schauspiels werden: Eine große Gruppe von Personen zog mit Kopfhörern durch die Straßen und Gebäude der Hauptstadt. Sie waren Teilnehmer der Produktion Remote Santiago, die im Rahmen des Theaterfestivals Santiago a Mil aufgeführt wurde. Stefan Kaegi, vom Theaterkollektiv Rimini Protokoll, war für Konzeption, Drehbuch und Regie der Produktion verantwortlich. Wir unterhielten uns mit ihm über seine Arbeit, Santiago und das chilenische Theater.
Remote Santiago war eine von mehreren Remote X-Aufführungen, Sie waren damit bereits u.a. in São Paolo, Mailand und St. Petersburg. Wie muss man sich Remote X vorstellen?
50 Menschen gehen gemeinsam durch die Stadt und hören über Kopfhörer eine Vertonung der Stadt, die sehr genau für jeden Ort komponiert ist. Hauptdarstellerin ist die Stimme einer Frau, die es nicht gibt. Ihre Stimme ist aus 2500 Stunden Stimmaufnahmen zusammengesetzt und durch eine Software generiert, wie sie Blinde zum Vorlesen von Webseiten verwenden. Auf der Suche nach dem Weg stellt sich eine Komplizenschaft zwischen den Zuschauern her, die den Spaziergang und die Komposition beschleunigen oder verlangsamen kann. Kinder und Jugendliche beschleunigen die Gruppe oft und nennen das Erlebnis nicht Theaterstück, sondern Spiel, im Sinne eines Computerspiels, in dem man Level für Level weiterkommt und hier immer neue Ecken der Stadt als Bühne erlebt. Andere Teilnehmer sprechen von einer unsichtbaren Architektur, die die Gruppe als Choreografie durch inszenierte Schneisen der Stadt führt.
Wie lief Remote Santiago ab?
Beim Location-Scouting Ende 2013 habe ich mich sehr schnell in den Cementerio Recoleta (Friedhof Recoleta) verliebt, weil er so viele Aspekte von Chile zusammenbringt: die Geschichte, ihre Opfer und ihre Täter, aber auch die vielen Einwanderergruppen. Hier startet die Tour; am Ort, wo das menschlichen Leben endet, beginnt die künstliche Intelligenz zu sprechen und nimmt die Gruppe anschließend mit in ein Krankenhaus. Dort kooperieren Menschen und Geräte, um Leben zu erhalten, dort vertrauen Menschen also genau solchen Geräten, um die es in dem Stück geht. Weiter geht es mit der U-Bahn, über Rolltreppen und durch Shopping Malls, also durch Orte, wo der Fluss von Menschenmengen maschinell gesteuert wird, bis hin ins Stadtzentrum, wo die Zuschauer fast untergehen im Gewusel der Stadt oder dieses mit kurzen Flashmobs irritieren. Wir enden auf der Dachterrasse vom Colectivo Mapocho bei Cal y Puente, von wo man noch einmal auf die ganze Reise zurückblicken kann.
Bei Remote X werden Menschen aus dem Alltag zu Akteuren, bei Rimini Protokoll geht es darum, „ungewöhnliche Sichtweisen auf unsere Wirklichkeit zu ermöglichen.“ Können Sie diese Form des Theaters etwas genauer erläutern?
Wir nutzen das Theater als Ort, in dem nicht Menschen virtuos so tun, als wären sie andere Menschen. Bei uns tritt eher die Wirklichkeit selbst, in komplexen Verspiegelungen auf. Im letzten Herbst haben wir zum Beispiel im Hamburger Schauspielhaus über 600 Zuschauer zu Delegierten für 196 Teilnehmerländern der UNO-Weltklimakonferenz erklärt. Zuschauer schlüpften in die Rolle von - zum Beispiel – Repräsentanten aus Kanada oder Indonesien und verhandelten in inszenierten Räumen mit Klimaforschern und anderen Delegationen über die Zukunft des Planeten. Zur Zeit tourt unser Projekt Situation Rooms durch Deutschland und Österreich, in dem die Zuschauer durch eine Art Filmset klettern, das die Arbeitsorte von zwanzig Menschen rekonstruiert, die beruflich mit Waffenhandel zu tun haben, sei es als Hersteller, Polizisten, Kindersoldaten, Ärzte oder Politiker.
Was waren Ihre Eindrücke von Ihrem Aufenthalt?
Im Gegensatz zu klassischen Theaterprojekten, bei denen man viel Zeit in geschlossenen Proberäumen verbringt, habe ich mich gemeinsam mit meinem Sounddesigner Niki Neecke und dem Dramaturgen Aljoscha Begrich viel in der Stadt bewegt, sie studiert, vertont, beschrieben, inszeniert. Daraus ergibt sich viel Beobachtungszeit. Ich liebe Santiago dort, wo sich viel Leben im öffentlichen Raum abspielt. Im Stadtzentrum, auf der Plaza de Armas (Hauptplatz im Zentrum der Stadt) oder um den Mercado Central (Hauptmarkt) und La Vega (ein weiterer Markt in Santiago), aber auch rund um die U-Bahnhöfe, mischen sich die sozialen Gefüge und die Menschen wunderbar - ganz anders als hinter den Mauern, in den Shopping Malls und Parkgaragen von Las Condes.
Wie würden Sie die chilenische Theater- und Kreativszene beschreiben, auch im Vergleich zum deutschsprachigen Raum?
Ich hatte während Santiago a Mil die Gelegenheit, viel Theater zu sehen und mit KünstlerInnen zu diskutieren. Es gibt ja unglaublich viele Theater in dieser Stadt. Und ich habe mir einige Ausstellungen angesehen. Ich finde aufregend, zu beobachten, wie aufgeschlossen politisch sich die Szene für ihre Gesellschaft interessiert, wie Vergangenheit in Projekten bearbeitet und die Ausbeutung der Natur durch die Minenfirmen thematisiert wird. Ich war beeindruckt davon, wie viele Schauspieler jedes Jahr ausgebildet werden. Leider ist die Ausbildung sehr klassisch und bereitet die Studenten wenig darauf vor, dass die meisten von ihnen später nicht davon leben werden können, auf der Bühne zu stehen, sondern sich ihre Form von Kunst oder Überlebenskunst selbst erfinden werden müssen. Das wäre ja eigentlich die Chance in Chile, wo es einfacher als in Europa ist zu entscheiden, was man unter Theater, Versammlung, Event definieren und erfinden möchte.