Politikvertrauen und Ungleichheit – Sonja Zmerli in Chile
Der Vertrauensverlust in Chile ist seit Monaten Dauerthema auf der politischen Agenda und in den Nachrichten. Sozialwissenschaftler versuchen dieses Phänomen zu erklären. Zu den bedeutesten Stimmen gehören die deutsche Expertin Sonja Zmerli und das Centro de Estudios de Conflicto y Cohesión Social.
In letzter Zeit ist viel über die angebliche Vertrauens- und Legitimitätskrise bei den politischen Institutionen gesprochen worden. Immer wieder taucht das Thema in der Presse, auf akademischen Foren und bei Treffen in Politik und Wirtschaft auf . Selbst die chilenische Präsidentin Michelle Bachelet erwähnte es Anfang Juni 2015 bei einer Unterredung mit Papst Franziskus in Rom.
Das chilenische Centro de Estudios de Conflicto y Cohesión Social (Chilenisches Zentrum für Konfliktforschung und sozialen Zusammenhalt, kurz COES) legte im März dieses Jahres erste Ergebnisse einer Studie vor, die die Konflikte und den sozialen Zusammenhalt im Land einzuordnen sucht. Laut dieser Umfrage läge das Vertrauen in die Institutionen in Chile weit unter dem internationalen Durchschnitt.
Zur Präsentation der Ergebnisse eingeladen, gab die deutsche Politologin Sonja Zmerli eine Konferenz zum Thema Politikvertrauen und bekundete, dass eine stabile Regierung in der Regel eine der wichtigsten Variablen ist, um die Vertrauensfähigkeit der Bürger zu verbessern.
Ungleichheit und Vertrauen in die Politik
Gemeinsam mit dem chilenischen Soziologen und COES-Vizedirektor Juan Carlos Castillo hat sich Zmerli mit dem Thema Politikvertrauen in Lateinamerika eingehend beschäftigt. Die beiden lernten sich 2011 auf einer Konferenz in Istanbul kennen und widmen sich seither der Erforschung der Wechselbeziehung von Verteilungsgerechtigkeit und Ungleichheit zu Politikvertrauen. Ihre Zusammenarbeit trägt erste Früchte, so erschien Anfang 2015 ihr Aufsatz „Income Inequality, Distributive Fairness and Political Trust in Latin America“ (Einkommensungleichheit, Verteilungsgerechtigkeit und Politikvertrauen in Lateinamerika) in der Fachzeitschrift Social Science Research.
„Uns interessiert besonders, wie sich die Ungleichverteilung der Einkommen im Bereich des sozialen Zusammenhalts auswirkt sowie die politische Unterstützung in Lateinamerika“, bestätigt Sonja Zmerli. „Wir wollten herausfinden, ob die Bevölkerung in Ländern mit mehr Ungleichheit weniger Vertrauen in die staatlichen Institutionen hat. Aus den Ergebnissen konnten wir schließen, dass es tatsächlich so ist. Neben der real erkennbaren Ungleichheit wollten wir sehen, in welchem Maße die subjektive Sicht der Ungleichheit das Vertrauen beeinflusst. Denn es ist eine Sache, dass es Ungleichheit gibt, aber eine andere, dass sie als inakzeptabel empfunden wird. Also, je ungerechter die Ungleichheit, desto größer das Misstrauen gegenüber den Institutionen“, führt Juan Carlos Castillo aus.
Gleichermaßen hat die ungleiche Einkommensverteilung ebenfalls Einfluss auf die Vertrauensbildung. „Ich persönlich bin davon überzeugt, dass die ungleiche Verteilung von Einkommen und Reichtum eine Vielzahl von negativen Folgen hat, sowohl politischer als auch sozialer Art“, bestätigt Zmerli.
Chile, ein misstrauisches Land
Auf Einladung von Professor Castillo im Rahmen eines Fondecyt-Projekts (Chilenisches Forschungsfinanzierungsprogramm) hat Sonja Zmerli erstmalig im März dieses Jahres die Gelegenheit gehabt, Chile zu besuchen. Auf ihrer Agenda standen diverse Aktivitäten, darunter ihre Konferenz anlässlich der Präsentation der Ergebnisse der COES-Studie. Dazu merkt Zmerli an: „Sie ist ein besonders wichtiges Instrument, um die aktuelle Einstellung der Chilenen gegenüber dem Staat zu beobachten. Wenn man Chile mit anderen lateinamerikanischen Ländern vergleicht, ist das Misstrauen nicht überproportional ausgeprägt, aber wenn man es mit anderen etablierten Demokratien vergleicht, dann ist Chile eher ein misstrauisches Land.
Die Studie zeigt, dass Chile bis zum Jahr 2011 in Sachen Vertrauen in die staatlichen Einrichtungen stets ein wenig über dem internationalen Durchschnitt lag. Ab diesem Zeitpunkt jedoch beginnt das Vertrauen deutlich abzunehmen. Der von Castillo durchgeführten Analyse zufolge erklärt sich dieser rapide Abfall mit schwindendem Vertrauen in die Regierung. „Eine Vertrauenskrise liegt jetzt in der Tat vor, aber die Zahlen der Erhebung geben Aufschluss darüber, dass sie sich schon seit langem angebahnt hat und auch nicht nur mit Korruptionsthemen zu tun hat.“
Zwischenmenschliches Vertrauen
Ein weiterer wichtiger Faktor ist das Vertrauen der Menschen untereinander. Der Umfrage zufolge sagen nur 20% der Chilenen, dass sie dem anderen vertrauen, während 80% angeben, dass man andern gegenüber auf der Hut sein sollte. „Die Bevölkerung ist in den meisten Ländern sehr kritisch gegenüber den staatlichen Einrichtungen. Im zwischenmenschlichen Bereich ist es jedoch an einigen Orten genau umgekehrt, wie beispielsweise in den Ländern Skandinaviens. Das ist von großer Bedeutung für den sozialen Zusammenhalt und den Wohlstand. Und es hat ebenfalls beträchtliche wirtschaftliche Auswirkungen“, versichert Castillo und fügt hinzu, dass er und Zmerli derzeit an diesem Thema arbeiten.
Angesichts dieses Unsicherheits- und Misstrauensszenarios ruft Sonja Zmerli dazu auf, sich noch einmal eingehend mit den Ursachen von Unzufriedenheit und Misstrauen im Land auseinanderzusetzen. „In Chile gibt es Anzeichen dafür, dass eine Stärkung des Rechtsstaats und eine Verringerung des Einkommens- und Wohlstandsgefälles in der Gesellschaft Schritte in die richtige Richtung wären.“
Dr. Juan Carlos Castillo ist Vizedirektor des COES und Lehrbeauftragter am Institut für Soziologie der Pontificia Universidad Católica de Chile. Seinen Doktorgrad in Soziologie erlangte er an der Humboldt-Universität Berlin.