Vergangenheitsbewältigung
Sich dem dunklen Kapitel stellen
Zwischen 1904 und 1908 ermordeten die Kolonialtruppen des Deutschen Reichs Zehntausende Ovaherero und Nama im heutigen Namibia. Nach mehr als fünf Jahren Verhandlungen zwischen der deutschen und namibischen Regierung erkannte Deutschland dieses Verbrechen als Völkermord an. Der Politologe und Afrikanist Henning Melber spricht im Interview über Versäumnisse bei den Verhandlungen und die Vergangenheitsbewältigung der Kolonialmächte.
Deutschland kündigte nach fast sechs Jahren Gesprächen mit Namibia ein Versöhnungsabkommen an; es klingt nach einem abgeschlossenen Prozess. Wie final sind die Verhandlungen Ihrer Einschätzung nach wirklich?
Laut Ruprecht Polenz, dem deutschen Sonderbeauftragten für die bilateralen Verhandlungen, ist das von ihm und seinem an COVID‑19 verstorbenen namibischen Counterpart Doktor Zed Ngavirue Mitte Mai paraphierte Abkommen eine endgültige Vereinbarung. Dies wurde auch von Außenminister Heiko Maas im Bundestag bekräftigt. Nachverhandlungen wird es demnach nicht geben. Zwar fand die endgültige Paraphierung des sogenannten Versöhnungsabkommens auf Außenministerebene nicht wie ursprünglich geplant im Juni 2021 in Windhoek statt. Grund war die dramatische Zunahme von Corona‑Fällen in Namibia, aber auch der heftige Protest aufseiten der Ovaherero und Nama im Lande. Die Aussprache im namibischen Parlament wurde nach erregten Diskussionen wegen der Pandemie unterbrochen und harrt derzeit bis zur Wiederaufnahme der Sitzungen zur Annahme des Vertrags.
Erst die Paraphierung auf Ministerebene macht das Abkommen rechtswirksam. Der Akt soll unbestätigten Meldungen zufolge für September 2021 geplant sein. Dies könnte nur durch einen eher unwahrscheinlichen Rückzieher seitens der namibischen Regierung vereitelt werden. Doch die regierende SWAPO Party of Namibia, ehemals South West Africa People’s Organisation, verfügt über eine stattliche absolute Mehrheit im Parlament. Deren Abgeordnete werden wohl trotz Kritik aus den eigenen Reihen und Unzufriedenheit über den ausgehandelten Kompromiss ihre Zustimmung dazu geben.
Welche Verantwortung hat Deutschland, erneut Gespräche zu initiieren, gerade im Hinblick darauf, dass Organisationen wie die Ovaherero Traditional Authority (OTA) und die Nama Traditional Leaders Association (NTLA) die Einigung in aktueller Form ablehnen?
Wenn Versöhnung ernst genommen wird, müssen die wesentlichen Vertretungen der Nachfahren der vom Völkermord direkt betroffenen Menschen beteiligt sein. Dies ist nicht geschehen. Der Vorwurf muss auch der namibischen Regierung gemacht werden. Das Verhandlungsergebnis bleibt deshalb leider Makulatur. Es wäre allerdings anmaßend, wenn nun von deutscher Seite gefordert würde, ein Versäumnis zu korrigieren, obwohl es während der Verhandlungen im beiderseitigen Regierungsinteresse billigend in Kauf genommen wurde. Einer solchen Verantwortung stellt sich Deutschland auch nicht, indem der endgültige Charakter des Versöhnungsabkommens betont und damit der Ausschluss der Ovaherero und Nama Vertretungen bekräftigt wird.
Wie kamen Ihrer Meinung nach die 1,1 Milliarden Euro zustande, die Deutschland nun über einen Zeitraum von 30 Jahren an Namibia zahlen soll?
Die Summe war ein Ergebnis von Feilschereien. Die Anfangsofferte der deutschen Regierung lag nach Berichten Beteiligter deutlich niedriger, die Forderungen der namibischen Seite waren hingegen erheblich höher. Der deutschen Seite dürfte bei den Aushandlungen, die eher in Richtung der niedrigeren Ausgangssumme endeten, die Wirtschaftskrise in Namibia entgegengekommen sein.
Die Ökonomie befindet sich seit 2016 in einer Rezession, die durch die Folgen der Corona‑Pandemie noch dramatisch verschärft wurde. Der Regierung steht fiskalisch das Wasser bis zum Hals, was sicher die Kompromissbereitschaft förderte. Auch wurde die uneingeschränkte politische Hegemonie der SWAPO, seit der Unabhängigkeit im Jahr 1990 als Befreiungsbewegung an der Macht, durch Stimmverluste bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im November 2019 und mehr noch den Regional- und Lokalwahlen im November 2020, geschwächt. Die namibische Regierung könnte darauf spekuliert haben, die ausgehandelten Finanzleistungen als Erfolg verbuchen zu können. Angesichts der Reaktionen im Lande war das eine Fehleinschätzung.
Mit den 1,1 Milliarden Euro sollen über einen Zeitraum von 30 Jahren Projekte gefördert werden. In welche Projekte soll das Geld investiert werden und wer trifft diese Entscheidung? Wie kann sichergestellt werden, dass es dort auch wirklich ankommt?
0,05 Milliarden wurden für eine Stiftung zum Kulturaustausch reserviert. Das sind weniger als zwei Millionen Euro pro Jahr. 1,05 Milliarden Euro werden über 30 Jahre verteilt auf die Infrastruktur von sieben der 14 Regionen des Landes verwendet. Dort leben die Nachfahren der am meisten vom Völkermord betroffenen Gemeinschaften. Dabei ist die ländliche Entwicklung eine Priorität, sowie Erziehung, Gesundheit, Energie- und Wasserversorgung.
Die Durchführung wird weiter konkretisiert werden, auch was Planung und Administration betrifft. Es gibt deshalb bereits die Sorge, dass dies eine Selbstbereicherung daran Beteiligter ermöglichen könnte. Es bleibt abzuwarten, inwieweit die zu schaffenden Strukturen dem durch entsprechende Kontrollen einen Riegel vorschieben.
Sprecher*innen der Ovaherero Traditional Authority und Nama Traditional Leaders Association bezeichnen das Versöhnungsabkommen als „PR-Coup Deutschlands“. Inwiefern ist diese Bezeichnung gerechtfertigt?
Angesichts der massiven Kritik an dem Abkommen kann von einem PR‑Coup eigentlich kaum die Rede sein. Es ist eher ein an seiner Unzulänglichkeit gescheiterter Versuch, der selbst – wenn er verwirklicht wird – kaum einen Imagegewinn verspricht. Als Pluspunkt bleibt jedoch, dass erstmals eine ehemalige Kolonialmacht sich dem dunklen Kapitel – wenn auch eher halbherzig – stellt. Immerhin schafft es einen neuen Bezugspunkt für postkoloniale Prozesse auch in anderen Ländern. Dies dürfte eine mobilisierende Wirkung haben, um mehr Druck auf Regierungen auszuüben, die kolonialen Gewaltgeschichten einzugestehen.
In Verbindung mit diesem Genozid wird in der internationalen Berichterstattung, beispielsweise in der „Washington Post“ und der „New York Times“, häufig auch der Holocaust erwähnt, wenn es um Vergangenheitsbewältigung in Deutschland geht. Wie wird der an den Ovaherero und Nama verübte Genozid im Vergleich zu anderen Völkermorden behandelt?
Ein Vergleich mit dem Holocaust oder auch anderen Völkermorden halte ich für abwegig, wenn nicht gar irreführend. Jede Form von Massenvernichtung und Völkermord hat singulären Charakter für die davon Betroffenen. Dies ist es, was die Ovaherero und Nama fordern: eine vorbehaltlose Anerkennung des Verbrechens und seiner Folgen sowie eine Respektierung des verursachten Leids, das für sie bis heute Gegenwart und nicht Geschichte ist.
Die deutsche Aufarbeitung des Holocaust kann nur insofern relevant sein, als dass sie Formen der Erinnerung geschaffen hat, die in ähnlicher Weise auch den Opfern des deutschen Kolonialismus im heutigen Namibia und anderswo zuteilwerden sollten.
Völkerverständigung sollte auf der Ebene der Menschen beteiligter Länder praktiziert werden, im gemeinsamen Gedenken an die Gräueltaten. Dies fordert die Besinnung darauf, welche Bemühungen auch als Ausdruck der Reue und der Suche einer Gemeinsamkeit zwischen den Nachfahren der Täter und der Opfer für eine gemeinsame Zukunft in Frieden erforderlich sind.
Warum vermeidet Deutschland Ihrer Ansicht nach das Wort Reparationen und was würde sich mit der Verwendung des Begriffes ändern?
Das Abkommen betont, dass Deutschland den Völkermord im moralischen und politischen – aber ausdrücklich nicht in einem rechtlichen – Sinne anerkennt. Die vereinbarte materielle Leistung wird als „Geste der Anerkennung“ bezeichnet. Reparation ist demgegenüber ein Begriff mit rechtlicher Konnotation. Dieser würde eine Dimension eröffnen, die an andere strittige Fälle rührt, unter anderem Kriegsverbrechen deutscher Soldaten während des Zweiten Weltkriegs.
Gerichte in Griechenland, Italien und osteuropäischen Ländern haben diesbezüglich den Nachfahren der damals getöteten Zivilist*innen einen Anspruch auf Entschädigung zugebilligt. Deutschland hat diese Urteile stets zurückgewiesen und jegliche Verantwortung für individuelle Kriegsverbrechen abgelehnt. Mit Reparationsleistungen an die Nachfahren des Völkermords in Namibia würde ein Präzedenzfall geschaffen, der diese Rechtsfrage in neuem Licht erscheinen ließe. Es könnte auch ähnliche Forderungen von Nachfahren von Opfern in anderen deutschen Kolonien ermutigen.
Dieses Interview wurde schriftlich geführt. Die Fragen stellte Juliane Glahn, Volontärin in der Onlineredaktion des Goethe‑Instituts in München.