Nach 1948 wurde der Marxismus-Leninismus zur offiziellen Doktrin der Tschechoslowakei. In den Sechzigerjahren emanzipierte sich das marxistische Denken und wurde zu einem wesentlichen Bestandteil des Reformversuchs. Dessen Scheitern war auch das Ende des Marxismus als lebendige Tradition.
Obwohl die tschechoslowakische Sozialdemokratie bereits 1878 begründet worden war und es eine bedeutende und starke Arbeiterbewegung in den böhmischen Ländern gab, waren im tschechischen Milieu keine beachtungswerten Beiträge nach marxistischer Tradition erschienen. Im Gegensatz zu ihren österreichischen Genossen beispielsweise haben sich die tschechischen Sozialisten eher auf die unmittelbare Praxis konzentriert. Daran änderte sich auch nach der Gründung der Republik nichts, selbst die Spaltung der sozialistischen Bewegung und die Gründung der KSČ (Komunistická strana Československa), der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, 1921 hatte darauf keinen Einfluss. Auf die durch die „Jungs von Karlín“ mit Klement Gottwald an der Spitze angeführte Bolschewisierung der Kommunistischen Partei zum Ende der 1920er- und Beginn der 1930er-Jahre folgte eine Zeit der konsequenten Rezeption des Marxismus-Leninismus.
Die Annahme dieser Doktrin, die im Grund genommen ein stalinistischer Katechismus war, bedeutete in erster Linie intellektuelle Konformität. Die, die sich weigerten, sich nach dem frischesten Wind aus Moskau zu orientieren, wurden früher oder später isoliert. Ein solches Schicksal ereilte auch die Publizisten Záviš Kalandra und Karel Teige. Stalins Aussage „Der Leninismus ist der Marxismus in der Epoche des Imperialismus und der proletarischen Revolution“ sollte in der Hauptströmung der tschechoslowakischen marxistischen Tradition noch einige Jahrzehnte lang gelten.
Stalinistische Synthese
Auch wenn es nach dem Zweiten Weltkrieg bereits eher um die Folgen des Traumas des Münchner Abkommens und die geopolitische Realität ging, so war die Orientierung an der Sowjetunion für die Tschechoslowakei maßgeblich. Damals traten in die Partei die „stalinistischen Schleuderer“ („stalinská práčata“) ein – junge Männer und Frauen aus der Generation, für die Krieg und Okkupation zu den prägenden Erfahrungen gehörten. Begeistert klammerten sie sich an die Vision eines besseren Lebens und stürzten sich Hals über Kopf in den Aufbau einer volksdemokratischen Tschechoslowakei. Aus stalinistischen Handbüchern wie Geschichte der KPdSU (B) – Kurzer Lehrgang (Stručný výtah dějin VKS(b)) lernten sie zur damaligen Zeit das, was für das ABC des Marxismus gehalten wurde. In Wahrheit sprach sie statt des Marxismus eher der mit dem Bild der siegreichen Sowjetunion verknüpfte Leninismus an.
Ab Februar 1948 hatte die Kommunistische Partei im öffentlichen Raum die Vormachtstellung inne und konnte ihre Doktrin als alleinigen Maßstab im Kultur- und Bildungswesen autoritär durchsetzen. In dieser durch das sowjetisch-jugoslawische Zerwürfnis gekennzeichneten, paranoiden Zeit war die Loyalität zur Moskauer „Generallinie“ entscheidend, auf die parteiangehörige Ideologen wie Václav Kopecký ein Auge hatten. Zu den prominenten Gestaltern der stalinistischen Orthodoxie auf intellektueller Ebene gehörten der Literaturhistoriker und Marx-Übersetzer Ladislav Štoll, der Philosoph Arnošt Kolman sowie der Historiker und Ästhetiker Zdeněk Nejedlý – die Erschaffer eines oberflächlich marxisierten, „fortschrittlichen“ Konzepts der tschechischen Geschichte.
Die goldenen Sechziger
Als nach der berühmten Geheimrede von Chruschtschow auf dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 die Entstalinisierung begann, waren es in der Tschechoslowakei gerade die „stalinistischen Schleuderer“, die zu ihren Hauptakteuren wurden. Scham für die Beteiligung am Terror der Stalin-Ära und die Reflexion der engen Zwangsjacke, in die die marxistische Theorie gesteckt worden war, führten zum Aufschwung des Revisionismus.
Anfangs ging es bei der Bemühung, das marxistische Denken wiederzubeleben, hauptsächlich darum, dies aus eigenen Quellen zu tun. Das bedeutete, zum „authentischen“ Leninismus vor Stalin zurückzukehren und sich vor allem dem Werk des jungen Marx zuzuwenden. Marx’ Humanismus aus den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten, deren tschechische Übersetzung 1961 erschien, eröffnete die Möglichkeit, das Individuum und die Eigenständigkeit des Einzelnen im direkten Gegenüber mit der anonymen Maschinerie zu betonen. In diesem Punkt überschneidet sich die marxistische Inspiration mit dem wachsenden Interesse am Werk Franz Kafkas, das 1963 in einer richtungsweisenden Kafka-Konferenz auf Schloss Liblice mündete.
Außer einer tieferen Rezeption des sogenannten „westlichen Marxismus“ und von Autoren wie Antonio Gramsci oder Herbert Marcuse nahmen viele Marxisten auch Impulse aus bis dahin verbotenen Bereichen wie dem Existentialismus oder der Psychoanalyse auf. Das Buch, dessen Resonanz die tschechoslowakischen Grenzen überschritt, war Karel Kosíks Dialektik des Konkreten (Dialektika konkrétního) von 1963. Ein weiterer beachtenswerter Höhepunkt des revidierten Marxismus wurde Die Zivilisation am Scheideweg (Civilizace na rozcestí), die ebenfalls ausserhalb der Tschechoslowakei Beachtung fand: Das Werk des von Radovan Richta angeführten Kollektivs war zu seiner Zeit eine zukunftsweisende Arbeit, die in die tschechoslowakischen Kreise die Faszination der wissenschaftlich-technischen Revolution hineintrug. Zu den führenden Gestalten des marxistischen Revisionismus gehörten zudem Robert Kalivoda und Milan Machovec, ein bedeutender Akteur im marxistisch-christlichen Dialog, der in den 1960er-Jahren auch im Westen stattfand. Außerhalb der Parteikreise entwickelte Egon Bondy eine eigenständige Variante des Marxismus, so beispielweise im Bereich der „ersten Philosophie“ im Buch Trost aus der Ontologie (Útěcha z ontologie) oder bei dem im tschechischen Raum einmaligen Versuch einer Anwendung des Maoismus in der politisch-theoretischen Arbeitsanalyse (Pracovní analýze).
Die Verbindung des theoretischen und des politischen Revisionismus (z.B. war Kosík 1968–69 Mitglied des Zentralkomitees der KSČ) erreichte seinen Höhenpunkt mit dem tschechoslowakischen Reformversuch 1968. Den Versuch, das Gebiet der sozialistischen Politik im Sowjetblock zu erweitern, dessen Bestandteil auch die Revision des Marxismus-Leninismus mit der Erhaltung seines eigentlichen Wesens war, beendeten allerdings schlagartig die Armeepanzer aus fünf Mitgliedsstaaten des Warschauer Pakts. Der Prager Frühling klang zwar noch einige Monate nach, seine Hoffnung wurde jedoch von der machtvollen Realität zum Scheitern verurteilt.
Die Lehre aus der Krisenentwicklung
Das Scheitern wurde durch die Übernahme der KSČ-Spitze durch Gustáv Husák im April 1969 endgültig bestätigt. Es zeigte sich, dass die Vorstellung, die Überreste des Erneuerungsprozesses zu bewahren, eine Illusion war. Die Säuberungsaktionen, die den Akteuren des Prager Frühlings widerfuhren, verdrängte den Großteil der originellen Denker aus den akademischen Studierzimmern in Arbeiterberufe. Die, denen es gelang, sich an die neuen Bedingungen anzupassen, wie beispielsweise Radovan Richta, wählten damit den Weg der gedanklichen Sterilität. Ihre engen Grenzen steckte die Lehre aus der Krisenentwicklung (Poučení z krizového vývoje), die offizielle Interpretation der Geschehnisse des Prager Frühlings und der Okkupation der normalisierten KSČ, ab.
Die Verdrängung eines großen Teils der tschechoslowakischen Kultur in den Untergrund betraf auch die marxistische Tradition erheblich. Die bedeutendsten Vertreter der marxistischen Philosophie der 1960er-Jahre wie Karel Kosík verstummten für viele Jahre. Im Dissens, in dem allmählich der Raum für Selbstverlag-Publikationen und eingeschränkte Ausbildungsmöglichkeiten an „Untergrunduniversitäten“ entstanden, sind andere Gedankenströmungen entstanden, die nun den Ton angaben.
Egon Bondy blieb beim Marxismus und nahm Elemente der chinesischen und indischen Philosophie in sein Denken auf. Seine oft tiefgreifenden Analysen des realen Sozialismus aus der marxistischen Perspektive wurden jedoch unvermeidlich von seinem Engagement als Agent der Geheimpolizei eben des Regimes kompromittiert, das er kritisierte. Eine revolutionär marxistische Haltung vertrat Petr Uhl im Dissens, dessen Arbeit Programm der gesellschaftlichen Selbstverwaltung (Program společenské samosprávy) 1982 vom Exilverlag Index herausgegeben wurde. In der Praxis orientierte sich Uhl allerdings an der Bürgerrechtsbewegung Charta 77, der er angehörte. So bedeutete Normalisierung in der Folgezeit vor allem die Abkehr vom marxistischen Denken. Was in den 1960er-Jahren als Versuch begann, die starren Schemata der Marx-Lenin-Orthodoxie durch die Einbindung einer nicht-marxistischen Denkweise zu beleben, setzte sich nach der Verdrängung der Akteure des Erneuerungsprozesses aus dem öffentlichen Leben in Kesselhäuser und Pförtnerhäuschen dialektisch als Verdrängung des Marxismus aus dem Bereich der existenzfähigen Theorien fort. Die Unfruchtbarkeit des offiziellen, vom Staat zugelassenen Marxismus charakterisierte für die jüngere Generation unvermeidbar die marxistische Tradition als solche. Der Großteil derer, die sich daran versuchten, die Gesellschaft durch die „Lehre aus der Krisenentwicklung“ zu analysieren, suchte theoretische Mittel künftig anderswo als in den Kategorien des historischen Materialismus.