1989-2019
„Wir sind das Volk“: Spiel mit Emotionen
Nach dreißig Jahren verbindet einen Teil der Deutschen und Tschechen (wieder) das Gefühl, dass „wir dafür damals nicht auf die Straße gegangen sind“. Ein Kommentar von Vojtěch Berger.
Von Vojtěch Berger
Vor 30 Jahren skandierten die Menschen auf den Straßen und Plätzen ostdeutscher Städte „Wir sind das Volk“ als Antwort auf die sozialistische Diktatur, die sich jahrzehntelang gerade auf dieses „Volk“ stützte. In der Tschechoslowakei wiederum wurde damals das Lied Modlitba pro Martu (Ein Gebet für Marta) zur inoffiziellen Hymne der Samtenen Revolution, dessen Text die Hoffnung gab, dass „deine verlorene Regierung deine Dinge zurück in deine Hände legt“, in die des Volkes.
Eben dieses Volk siegte damals in beiden Ländern letztlich über die sozialistische Diktatur. Die erwähnten Losungen über das Volk kehren allerdings in Deutschland und auch Tschechien nach dreißig Jahren in verschiedenen Varianten zurück, nur aus anderen Mündern und in anderen Zusammenhängen. Sie kommen nicht mehr von bärtigen Demonstrationsführern in karierten Strickpullovern, sondern von perfekt im Marketing geschulten Politikern in ebenso perfekt fallenden Anzügen. Die gegenwärtige Welt zeichnen sie als Schlachtfeld des „einfachen Volkes“ gegen die Eliten.
Auf Deutsch und Tschechisch – und letzten Endes auch in einer Reihe weiterer Sprachen in anderen Ländern – hören wir so von populistischen Parteien die praktisch gleichen Aufforderungen: dass wir uns „unser Land zurückholen“ sollen, dass endlich „Politik für die Menschen“ gemacht wird oder vage Versicherungen, dass „die Welt wieder normal“ und alles wie früher sein wird – hinsichtlich der Sicherheit in unseren Ländern, der autarken Lebensmittelversorgung oder der „traditionellen“ Familie.
Tschechien und ein nicht geringer Teil Deutschlands haben drei Dekaden nach dem Fall des autoritären Regimes kurzgesagt mehr gemeinsam, als dies in der Zeit der Grenzeröffnung schien. Es ist dies vor allem das Gefühl eines großen Teils der Bürgerinnen und Bürger, dass das Ende der alten Ordnung für sie kein Gewinn war. Dass es ihnen nicht besser ergeht, sondern schlechter, dass in ihren Dörfern nicht mehr so viele Busse fahren wie zu sozialistischen Zeiten, dass die nächste Post, der Tante-Emma-Laden und auch der Arzt weit entfernt sind, dass alles teurer geworden ist ... Das Gefühl, dass „wir dafür damals nicht auf die Straße gegangen sind“, das Gefühl der „gestohlenen Revolution“, das Gefühl, dass das alles hätte anders ausgehen sollen.
An den Rand des Abgrunds
Dass sich die Menschen in der ehemaligen DDR entgegen den massiven Investitionen in den östlichen Teil Deutschlands oft als „Bürger zweiter Klasse“ fühlen, bestätigen Meinungsumfragen. Und es überrascht nicht, dass dort gerade diejenigen Politiker/innen starke Unterstützung erfahren, die – ohne dass sie tatsächlich einen realen Einfluss darauf hätten – den Menschen versprechen, dass sie diese Probleme überwinden. Es ist ein Spiel mit Emotionen, darum, dass sich endlich jemand für mein Schicksal interessiert, für mein verpfuschtes und schweres Leben. Endlich kann ich etwas tun, es genügt denen meine Stimme zu geben, die versprechen, dass sie mich nach der Wahl nicht vergessen.In Tschechien, wo der Gerichtsvollzieher bei hunderttausenden Menschen ein- und ausgeht, ist die Situation ähnlich. Reden darüber, dass die Freiheit das höchste Gut darstellt, wirken heute einfach nicht mehr so attraktiv wie einst, wenn Sie in Schulden ersticken und keine Arbeit finden.
Ebenso gut wie in Deutschland funktioniert auch bei tschechischen Wählerinnen und Wählern die Lockpfeife der direkten Demokratie. Diejenigen, die ein Referendum zu jeder noch so unsinnigen Kleinigkeit versprechen, damit „die Leute die Dinge endlich selbst in die Hand nehmen“ und sich nichts diktieren lassen, spielen mit dem Feuer. Sie sagen ihren Wählern, dass sie ruhig über internationale Abkommen abstimmen können, über Schlüsselfragen in der Wirtschaft, über Außenpolitik. Eine Reihe dieser Leute sind dabei durch eigene Fehler und Unkenntnis in ihre missliche Lage geraten – etwa weil sie mehr Kredite für Gebrauchswaren aufgenommen haben, als sie verkraften können.
Ja, bisher handelt es sich um eine politische Strömung, die auf gesamtstaatlicher Ebene weder in Tschechien noch in Deutschland dominiert. Auch wenn in beiden Staaten der klassische Wettbewerb politischer Programme verloren gegangen ist, auch wenn vor allem in Tschechien die Politik statt auf Ideen auf Marketing setzt, auch wenn sich (wieder vor allem in Tschechien) politische Visionen verlieren und stattdessen Bonbons an die Wählerinnen und Wähler verteilt werden, wie etwa (beinahe) kostenlose Zugfahrten für Rentner/innen und Studierende – dennoch sind die tschechischen und noch weniger die deutschen Wahlberechtigten bisher in eine Phase gekommen, wo sie auf den Abgrund zusteuerten und derart massiv für populistische Parteien stimmen würden, dass sie ihnen einen Blanko-Scheck das politische System in ihren Ländern vollkommen umzustürzen oder die eigene Inkompetenz zu zerstören. Bisher.
Es handelt sich aber um eine Strömung, die an die Macht will und für eine Reihe von Wählerinnen und Wähler attraktiv erscheint. Und die tschechische wie auch die deutsche Gesellschaft werden auf regionaler bzw. gesamtstaatlicher Ebene die populistische „Alternative“ wenigstens für eine gewisse Zeit ausprobieren müssen. Erst dann wird sich zeigen, ob wir endlich den politischen Retter gefunden haben oder nur einen weiteren Rattenfänger.
Deutschland auf der tschechischen Liste der Schuldigen
Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel konnte während ihrer 14 Jahre dauernden Ära an der Spitze der Bundesrepublik bereits sieben tschechischen Premierministern die Hand schütteln. Das langjährige Missverhältnis hinsichtlich der politischen Stabilität zwischen beiden Nachbarländern wird hier offensichtlich.Auch die deutsche politische Szene hat sich zwar in den letzten fünf Jahren verändert und die alte Hegemonie des Parteiensystems weicht langsam neuen Parteien und jenen, die eine Renaissance erleben. Im Vergleich mit den tschechischen „Einweg“-Parteien, von denen wir in den letzten Jahren einige gesehen haben, ist die deutsche Politik aber immer noch der Fels in der Brandung am den wild plätschernden tschechischen Teich umgebenden Ufer.
Dennoch stimmen die Emotionen einer Reihe Deutscher mit denen von Tschechen überein – von der Frustration auf Grund der eigenen Probleme im Leben ist es nur ein kleiner Schritt zur Frage: „Wer ist schuld daran?“. Wer ist schuld daran, dass es mir schlecht geht? Auch die Antworten sind in Tschechien und Deutschland für gewöhnlich dieselben. Etwa die Migration oder die EU. Es gibt hier aber einen grundlegenden Unterschied. In Tschechien befindet sich auf der Liste der Schuldigen in den letzten Jahren auch Deutschland selbst. Äußerungen vom Typ „Wenn Merkel nicht die Migranten hierher eingeladen hätte“ oder „Wenn wir nicht eine deutsche Handelskolonie wären“ haben sich einige tschechische Politiker schnell zu Eigen gemacht, weil sie bei deren Wählern perfekt funktionieren.
Deutschland, für die tschechische Wirtschaft lebensnotwenig, ist so zu einem Art Prügelknaben für die tschechische Politik geworden, ein Blitzableiter für die Aufmerksamkeit, um den Blick der Wähler von den Problemen zuhause abzulenken. Schauen Sie lieber, wie es in Deutschland nicht funktioniert, wie viele Probleme mit der Integration von über einer Million Flüchtlinge verbunden sind, oder wie es Berlin übertreibt mit der grünen Energiewende. Man kritisiert, schämt sich fremd für die Nachbarn, weil es einem selbst dann besser geht.
Dabei handelt es sich von tschechischer Seite um einen billigen Missbrauch der hervorragenden Beziehungen mit Deutschland, die über Jahrzehnte und mit vielen Schwierigkeiten aufgebaut wurden. Und man verlässt sich darauf, dass die Deutschen das schon irgendwie wegstecken werden. Und scheinbar werden sie dies auch wegstecken müssen – sie haben nämlich zunehmend Probleme damit, tatsächlich „ein Volk“ zu sein, wie dies vor dreißig Jahren auf den überfüllten Plätzen gefordert wurde.
Die tschechische Gesellschaft ist allerdings ähnlich gespalten und statt nach vorn schaut sie eher mit Nostalgie zurück oder tritt zumindest auf der Stelle. Die Tschechen sollten so lieber in sich gehen, beginnen ihre eigenen Probleme zu lösen und nicht nur schadenfroh zusehen, wie Deutschland mit den gleichen Herausforderungen ringt. Der Blick über den Zaun zum Nachbarn ist aber bisher anscheinend zu verlockend.