Erich Kästners Dresden
Als er ein kleiner Junge war
Er studierte in Leipzig, hatte seine fruchtbarsten Arbeitsjahre in Berlin und verbrachte den größten Teil seines Lebens in München. Und doch ist Dresden die Stadt, die man am meisten mit Erich Kästner verbindet. Zu Recht natürlich: Die sächsische Metropole war nicht nur Kästners Geburtsort, sondern auch seine lebenslange Liebe.
Von Tomáš Moravec
Der beste Beweis dafür ist das autobiografische Buch Als ich ein kleiner Junge war. Es wurde zu einem Zeitpunkt geschrieben, als Erich Kästner 58 Jahre alt war und die Stadt seiner Kindheit, wie er sie kannte, nicht mehr existierte. Das schmale Buch kann daher nicht nur als Liebeserklärung an seine Heimatstadt und als nostalgische Reminiszenz gesehen werden, sondern auch als Hommage an das berühmte, schöne und vergangene Dresden.
Wo war denn Kästner zu Hause?
Kästners Dresden ist die Welt der Mietskaserne an der Königsbrücker Straße, wo er aufwuchs. Zu seiner Welt gehörten die schöne Villa seines wohlhabenden Onkels Franz Augustin (heute Kästner-Museum), mehrere Schulgebäude, ein ihm verhasster Truppenübungsplatz in der Vorstadt sowie viele Prachtbauten und beeindruckende Kunstwerke: Barocke Schlösser, die breite Einkaufsstraße Prager Straße, der Große Garten mit seinem architektonischen Schmuck oder das Waldschlösschen, das einen herrlichen Blick auf die sächsische Hauptstadt bietet.Kästner äußerte sich allerdings nicht immer vorbehaltlos positiv über seine Geburtsstadt. Vor allem in seinen „Leipziger Jahren“, also in der ersten Hälfte der 1920er Jahre, als er an der Leipziger Universität studierte und eine sehr erfolgreiche Karriere als Journalist begann, stand er seiner Heimatstadt durchaus kritisch gegenüber. Als junger, ehrgeiziger Student und Journalist empfand er Leipzig als eine fortschrittlichere Stadt im Vergleich zu Dresden. Die modernen Theaterstücke, die in Leipzig erfolgreich waren und die Kästner sehr schätzte (man denke an Ernst Tollers Hinkemann), waren beim eher konservativen Dresdner Publikum gescheitert, was der fünfundzwanzigjährige Kästner 1924 mit den Worten kommentierte: „Dresden schläft. Dieser Schlaf unterscheidet sich vom Tod nur durch seine Dauer.“ Seine vielleicht berühmteste Aussage in diesem Zusammenhang stammt aus einem Artikel für die Neue Leipziger Zeitung von 1923 mit dem Titel Märchen-Hauptstadt: „Leipzig ist das Heute. Und Dresden – das Gestern… Leipzig ist die Wirklichkeit. Und Dresden – das Märchen. Und 80 Kilometer Luftlinie liegen zwischen dem Märchen und der Wirklichkeit.“
Versuchen wir nun, das Märchen mit der Wirklichkeit zu verbinden. Wir werden einen Spaziergang entlang der langen Königsbrücker Straße machen, die Dreikönigskirche in der Kästner getauft wurde besuchen, und uns die Orte anschauen, an denen Erich Kästner ein erfolgreicher Schuljunge war. Lasst uns auf die Spur eines großen Schriftstellers begeben, der einmal ein kleiner Junge war.
Reiseutensilien-Fabrik G. L. Lippold
Trinitatisstraße (Fiedlerstraße) 36„Morgens um sechs Uhr rasselte der Wecker. Eine halbe Stunde lief der junge Mann, über die Albertbrücke, quer durch Dresden bis in die Trinitatisstraße. Bis zur Kofferfabrik Lippold. Hier arbeitet er mit anderen ehemaligen Handwerken an Lederteilen, die zu Koffern zusammengenäht und -genietet wurden, bis sie einander glichen wie ein Ei dem anderen,“ beschrieb Erich Kästner mehr als 60 Jahre später den Alltag seines Vaters.
Die Trinitatisstraße würde man heute vergeblich im Dresdner Stadtplan suchen. 1938 wurde sie in Fiedlerstraße umbenannt und im Krieg weitgehend zerstört. Auch die Fabrik, in der Kästners Vater viele Jahre verbrachte, existiert nicht mehr. An ihrer Stelle in der Fiedlerstraße 36 stehen heute moderne Gebäude der Carl Gustav Carus Kliniken der Technischen Universität Dresden.
Das Geburtshaus
Königsbrücker Straße 66Erich erinnerte sich nicht daran, dort gelebt zu haben, denn die Familie zog nur in wenigen Jahren nach seiner Geburt in eine zentralere Gegend. Trotzdem schaute er sich das Haus in seinen späteren Jahren immer wieder neugierig an: „Jedes Mal, wenn ich an dem Haus vorbeiging, dachte ich: Hier bist du also zur Welt gekommen. Manchmal trat ich in den Hausflurhinein und blickte mich neugierig um. Doch her gab mir keine Antwort. Es war ein wildfremdes Haus. Dabei hatte mich meine Mutter, mitsamt dem Kinderwagen, hundert- und aberhundert mal die vier Treppen herunter- und hinaufgeschleppt! Ich wusste es ja. Aber es half nichts. Es blieb ein fremdes Gebäude.“
Ich selber bin, was sonst ich auch wurde, eines immer geblieben: ein Kind der Königsbrücker Straße.
Erich Kästner
Die Dreikönigskirche
Hauptstraße 23In dieser bemerkenswerten evangelischen Kirche, die die Hauptstraße der Neustadt dominiert, wurde Erich Kästner 1899 getauft und am Palmsonntag 1913 konfirmiert. Später betätigte er sich hier an den Sonntagvormittagen als geschickter Helfer beim Kindergottesdienst.
Das Haus der fleißigen Kindheit
Königsbrücker Straße 48In Als ich ein kleiner Junge war erinnert sich Kästner daran, wie er im Treppenhaus des dritten Stocks mit Zinnsoldaten spielte und wie er die arme Frau Wilke, die eine Etage höher wohnte und das Heer der über das Treppenhaus verstreuten Spielzeuge mit großen Schritten überqueren musste, verzweifelt behinderte: „Von mir hing das Schicksaal aller beteiligten Jahrhunderte und Völker ab. Da hätte mich ein Postbote aus Dresden-Neustadt stören sollen? Oder die kleine Frau Wilke, nur weil sie ein paar Kohlrabis und ein bisschen Salz und Zucker einkaufen wollte?
Dresdner Brücken
Ida Kästner gab alles für ihren Sohn. Sie gab ihm so viel - sowohl emotional als auch materiell -, dass - wie Kästner betont - für andere Menschen nichts übrig blieb und sie daher auf ihre Umgebung kalt, egozentrisch und herrschsüchtig wirkte. In dem bereits erwähnten Als ich ein kleiner Junge war, schreibt Erich Kästner in dem ergreifenden Kapitel Ein Kind hat Kummer am offensten über seine Mutter: „Ich jagte, von wilder Angst gehetzt und gepeitscht, laut weinend und fast blind von Tränen, durch die Straßen, elbwärts und den steinernen Brücken entgegen... Ich fand sie fast jedes Mal. Und fast jedes Mal auf einer der Brücken. Dort stand sie bewegungslos, blickte auf den Strom hinunter und sah aus wie eine Wachsfigur.“
Ida Kästners Depressionen und Selbstmordversuche endeten zum Glück nie tödlich. Sie starb 1951 im Alter von 80 Jahren. Bis dahin erfüllte der damals 52-jährige Erich Kästner fleißig die Rolle eines Mustersohns und - wie er selbst schrieb - eines Schutzengels.
Turnverein zu Neu- und Antonstadt
Alaunstraße 40Das Gebäude, in dem Erich Kästner seine Muskeln übte, steht nicht mehr. Doch seit den 1950er Jahren zieht es vor allem junge Leute wieder hierher: Hier befindet sich das berühmte Kulturzentrum Scheune, das für Generationen von Dresdnern zu einer willkommenen, oft alternativen Kulturszene geworden ist.
Die 4. Bürgerschule
Thieckstraße 14Trotz dieser kritischen Bewertung muss hinzugefügt werden, dass er mehr als ein vorbildlicher Schüler war. Von Kindesbeinen an strebte er danach, Lehrer zu werden und schreibt stolz, dass sein Schulbesuch „an einen Rekord grenzte“ - er versäumte keinen einzigen Unterrichtstag! Selbst als er im Alter von acht Jahren im Treppenhaus stolperte und sich die Zunge durchbiss, ging er gleich am Folgetag zur Schule. Der kleine Erich war, wie Kästners Biograph Sven Hanuschek mehrmals erwähnt, ein echter Musterknabe - so ähnlich wie Kästners berühmteste Romanfigur Emil Tischbein.
Auch dieses düstere Schulgebäude in der Thieckstraße gibt es nicht mehr; das Ende des Zweiten Weltkriegs war auch sein Ende. Heute steht an seiner Stelle eine andere Schule, nämlich ein Berufliches Schulzentrum für Wirtschaft. Es nimmt eine ganze Straßenseite ein und ist ebenfalls eher schwarz und grau, aber die Erinnerung an Kästner bleibt sehr farbenfroh: zumindest, wenn man nach den örtlichen Graffiti urteilt.
Villa Augustin
Antonstraße 1 / AlbertplatzDer geschäftstüchtige Metzger mit den spitzen Ellenbogen und der unerschütterlichen Autorität („Er brüllte und die andern zitterten. Sie zitterten noch, wenn er Späße machte“, schrieb Kästner) setzte Anfang des 20. Jahrhunderts auf den Pferdehandel - und war als Pferdehändler äußerst erfolgreich. Noch vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs kaufte er ein Haus mitten in der Dresdner Neustadt, am Albertplatz: „Haus ist nicht das richtige Wort. Es handelte sich u eine zweistöckige, geräumige Villa mit einem schattigen Garten, der fast in Park war und mit der Schmalseite an den Albertplatz grenzte,“ meinte Kästner.
Der kleine Erich verbrachte ziemlich viel Zeit in der Villa Augustin; immerhin war es von der Wohnung der Kästners in der Königsbrücker Straße 48 hierher nur ein Katzensprung. „Am liebsten hockte ich auf der Gartenmauer und schaute dem Leben und Treiben auf dem Albertplatze zu.“ - dieser Satz aus Kästners Memoiren verursachte die Entstehung der schönen Bronzestatue, die heute an der Gartenmauer zu finden ist. Er zeigt den Autor als zufriedenen Jungen, der interessiert das Treiben in der Stadt beobachtet. Und er ist nicht ohne Grund dort: Seit dem Jahr 2000 beherbergt die Villa Augustin das Erich Kästner Museum.
Die letzte elterliche Wohnung
Königsbrücker Straße 38Schurig hatte seit Erichs Kindheit bei den Kästners gelebt und wurde von ihm daher quasi als Onkel betrachtet. Fast wäre er auch einer geworden: Schurig wollte Emils Cousine Dora Augustin heiraten, aber Doras Vater, der schon erwähnte, brüllende Onkel Franz, weigerte sich, sie dem armen Lehrer zu geben.
Der zweite Stock des Hauses, das schon in Sichtweite der Villen am Albertplatz steht, wurde für viele Jahrzehnte das Zuhause von Kästners Eltern. Hier blieben sie auch nach dem Krieg, denn die Katastrophe, die Dresden im Februar 1945 zerstörte, verschonte relativ die Häuser in diesem Teil der Königsbrücker Straße: Mit ausgeschlagenen Fenstern, ohne Heizung, aber immerhin mit einem Dach über dem Kopf überlebten Ida und Emil Kästner hier auch die vernichtenden Luftangriffe im Februar 1945.
Pionierkaserne
Königsbrückerstraße 88Diese Straße und ich kamen voneinander nicht los! Wir trennten uns erst, als ich nach Leipzig zog. Dabei hätte ich mich gar nicht gewundert, wenn sie mir nachgereist wäre!
Erich Kästner
Der große Garten
Hauptallee 10Insbesondere die kleinen Pavillons, die am Rande des inneren Gartens errichtet wurden, die so genannten Kavaliershäuser, zogen seine Aufmerksamkeit auf sich: „In einem der Kavaliershäuschen, dachte ich als junger Mann, würdest du fürs Leben gerne wohnen! Womöglich wirst du eines Tages berühmt, und dann kommt der Bürgermeister, mit seiner goldenen Kette um den Hals, und schenkt es dir, im Namen der Stadt.“
Freiherrlich von Fletchersche Lehrerseminar
Marienallee 5Der angehende Lehrer Kästner trat im Alter von vierzehn Jahren in das Seminar ein, verbrachte dort fünf Jahre und war nicht gerade glücklich. An der Schule herrschte eine strenge, fast militärische Disziplin. Kästner nannte das Ort „die Lehrerkaserne“ und fasste seine Erfahrungen im kritischen Artikel Zur Entstehungsgeschichte des Lehrers (1946) in etwa so zusammen, dass Erziehungsinstitute auf ihren Schützlingen herumtrampeln, anstatt sie zu erziehen und zu entwickeln.
Am liebsten erinnert er sich an eine lustige Anekdote: Einmal verkleidete er sich während des Faschings in der Turnhalle als Mädchen. Er blieb unerkannt und erhielt von seinen Mitschülern so viel Aufmerksamkeit wie noch nie zuvor.
Auch das prächtige Gebäude, das mit dem Geld von Friederica von Fletcher gebaut wurde, steht nicht mehr. Es wurde im Krieg fast vollständig zerstört, wesegen in den 1960er Jahren wurde auf den Ruinen eine neue Schule gebaut wurde. Die Turnhalle ist vielleicht das einzige Gebäude des Komplexes, das den Krieg und die Nachkriegszeit überstanden hat. Heute befindet sich hier die Waldorfschule.
König Georg Gymnasium
Fiedlerstraße 25Und so studierte Kästner. Das Dresdner Gymnasium König Georgs nahm ihn in seine Klassen auf, und weil er ein hervorragender Schüler war, verlieh es ihm sogar ein Stipendium, das ihm den Eintritt in die Universität Leipzig ermöglichte. Aber dann war Kästner kein kleiner Junge mehr, und deshalb kann man über seine Universitätsstudien an einer anderen Stelle lesen.