Das Ende der Welt ist da! Was nun?
Ein Stern der deutschen Literatur; Dörte Hansens Roman Mittagsstunde erscheint auf Tschechisch.
Mit zwei Büchern hat Dörte Hansen (geb. 1964) erreicht, wovon andere Schriftstellerinnen und Schriftsteller ihr ganzes Leben lang träumen: Sie wurde eine Bestsellerautorin und eine angesehene Figur der deutschsprachigen Literaturszene. Ihr Erstlingswerk
Altes Land (2015) verkaufte mehr als eine Million Exemplare. Ähnlich erfolgreich ist ihr zweiter Titel
Mittagsstunde (2018), der nun von Viktorie Hanišová ins Tschechische übersetzt wurde.
Ihren Debütroman haben Sie erst vor vier Jahren veröffentlicht, bis dahin waren Sie als Journalistin tätig. Was hat Sie zu diesem Wechsel bewogen?
Es handelte sich nicht um einen ausgesprochen bewussten Prozess. Mein ganzes Leben lang habe ich meinen Lebensunterhalt mit dem Schreiben für Radio und Printmedien verdient. Und der Gedanke, ein Buch zu schreiben, hat mich seit meiner Kindheit begleitet, auch wenn es nur eine sehr vage Idee war. Zu einem bestimmten Punkt in meinem Leben, so um die fünfzig, kam dann eine Art Spannung auf: Ich hatte den Eindruck, dass ich etwas ändern musste. Es war klar, dass, wenn ich etwas schreiben wollte, es jetzt sein musste. Und so schrieb ich, statt in eine midlife-crisis abzurutschen, den ersten Roman.
Mit diesem Buch haben Sie fantastischen Ruhm erlangt. Plötzlich sind Sie eine literarische Berühmtheit. Was macht das mit einem Menschen?
Am Anfang war es eine Überraschung und eine Freude. Aber dann kam die Panik. Ich hatte das Gefühl, wenn etwas so Unwahrscheinliches passieren kann – mein Debüt ist ein Bestseller! – dass dann absolut alles passieren kann. Vielleicht werden Menschen um mich herum plötzlich sterben oder der Himmel wird einstürzen. Es war wie in einem seltsamen Märchen, es passte überhaupt nicht zu der Vorstellung, die ich von mir hatte. So begann ich daran zu zweifeln, was ich wirklich über mich und die Welt um mich herum wusste. Der Erfolg schockierte und verunsicherte mich. Aber dann fand ich mich damit ab. Heute beruhigt mich diese Tatsache: Statt Existenzangst habe ich die Freiheit, zu schreiben, was ich will und wann ich will.
Wie sind Sie zum Journalismus gekommen?
Alles was ich mache, beginne ich erst spät. Ich habe an der Universität promoviert und dachte, ich würde Wissenschaftlerin werden, aber dann wurde mir klar, dass die Welt der Academia zu eng ist. Ich wollte aber beim Schreiben bleiebn, also entschied ich mich für das Zeitungswesen. Ich habe nie Journalismus studiert, ich habe einfach angefangen, als freie Journalistin zu arbeiten.
Sie arbeiteten für verschiedene deutsche Radiosender, dann für den Print. Wie geht es den traditionellen Medien in Deutschland heute? Haben sie eine Zukunft, oder werden sie vom Internet überrollt?
Es ist dasselbe wie überall. Die Tageszeitungen haben große Probleme. Die jungen Leute von heute können keine Zeitungen mehr lesen und interessieren sich nicht sehr für die öffentlich-rechtlichen Medien. Es wird viel darüber diskutiert, wie man diesen Trend umkehren kann, wie man nicht nur die über Sechzigjährigen, sondern auch die jungen Leser ansprechen kann. Eigentlich denke ich mir, dass ich den Journalismus zum richtigen Zeitpunkt verlassen habe, weil sich die Situation weiter verschlimmert. Die Auflagen sinken, Redaktionen werden zusammengelegt, eine Menge Kollegen wurden entlassen. Und das gilt genauso für gedruckte Zeitungen wie für den Rundfunk. Und es wird schlimmer...
Was ist damit?
Das Verhalten und die Gewohnheiten junger Menschen müssten geändert werden. Aber damit müsste schon in der Grundschule begonnen werden. Manche Printmedien laden zum Beispiel Schüler in die Redaktion ein, um ihr Interesse zu wecken. Aber ich fürchte, dass wir diese Schlacht verlieren.
Gleich auf der ersten Seite des Romans Mittagsstunde steht der Satz "De Welt geiht ünner“. Wie nehmen Sie wahr, was heute in der Welt geschieht?
Man muss sich den Optimismus erkämpfen. Wenn Sie die Nachrichten zu sehr verfolgen, könnten Sie den Eindruck gewinnen, dass das Ende der Welt tatsächlich bevorsteht. Wie während des Dreißigjährigen Krieges, von dem ich in letzter Zeit viel gelesen habe: Millionen von Menschen wurden von der Pest getötet, Trümmer und Scheiterhaufen überall. Die Informationen müssen gefiltert, nur so viel aufgeladen werden, wie man tragen kann. Ich freue mich immer, wenn ich auch etwas Positives erfahre, wie zum Beispiel, dass jemand eine abbaubare Verpackung erfunden hat. Aber Gründe für das Ende der Welt und dagegen ließen sich in jeder Periode der Menschheitsgeschichte finden...
Aber ist nicht positives Denken in einer Zeit, in der sich über uns die bedrohlichen Nachrichten über die Erderwärmung, das aggressive Russland und China hinwegwälzen, ein bißchen Selbsttäuschung?
Da müssten wir uns einigen, was das Ende der Welt bedeutet. Für mich ist es die Zerstörung der menschlichen Zivilisation, und dazu ist es noch nicht gekommen. Und dann: Was ist die Alternative zum positiven Denken? Es sollte lauten: Das Ende der Welt ist da! Was nun? Wie soll der Mensch damit leben? Es erscheint mir unerträglich, deshalb versuche ich, die Dinge anders zu betrachten. Ich will mir nicht den Glauben nehmen lassen, dass es Menschen gibt, die wirklich nach einer besseren Welt streben. Es mag naiv klingen, aber ich möchte mir diesen Glauben gönnen.
In der Mittagsstunde schreiben Sie über das fiktive deutsche Dorf Brinkebüll. Gibt es darin eine Symbolik: eine Rückkehr zur Tradition, zur Natur, zu sich selbst?
Brinkebüll ist für mich ein Symbol für die Prozesse, die sich in den 1960er Jahren in mehr oder weniger allen deutschen Dörfern abgespielt haben: Das Landleben war plötzlich zu Ende.
Mittagsstunde ist also eine Geschichte des Verlustes. Brinkebüll steht für Ordnung und Gesellschaft, die es nicht mehr gibt. Der Blick ist nostalgisch, aber nicht sentimental, er idealisiert das Dorf mit Sicherheit nicht. Vor einem halben Jahrhundert kam es gewissermaßen zu einem Ende der Welt, auch wenn es nur kleine Bauernhöfe betraf. Es war eine Welt, die meine Generation noch kannte, in der sie aufgewachsen ist. Die sechstausend Jahre zuvor hatte sich in dieser Welt praktisch nichts geändert, und plötzlich so eine Wende. Genau das wollte ich im Roman festhalten.
Haben Sie in der deutschen Literaturszene einen Seelenverwandten?
Mein ewiges und unerreichtes Vorbild ist Thomas Mann. Seine
Buddenbrooks habe ich vielleicht zehnmal gelesen. Andere Vorbilder finde ich in der amerikanischen Literatur: Elizabeth Strout, Anne Tyler, Annie Proulx – alles ausgezeichnete Autorinnen. Von den zeitgenössischen deutschsprachigen Autoren gefällt mir Daniel Kehlmann, an dessen Roman
Tyll ich dachte, als ich den Dreißigjährigen Krieg erwähnte. Und natürlich Herta Müller. Aber ich lese sehr willkürlich, ohne Plan und Struktur. Zum Beispiel habe ich kürzlich Grimmelshausen gelesen, weil mich Kehlmanns
Tyll schon vorher fasziniert hatte. Die Welt ist voll von großer Literatur. Manchmal macht sie mir ein bisschen Angst: Warum sollte ich noch ein Buch schreiben? Schließlich gibt es so viele bessere als meins...
Verfolgen Sie die tschechische Literatur?
Zufälligerweise lese ich gerade
Agnes von einer gewissen Hanišová. Außerdem lese ich
Winterbergs letzte Reise von Jaroslav Rudiš. Früher habe ich viel von Václav Havel gelesen. Und weiter? Ich verspreche, dass ich bald zu etwas anderem kommen werde.
Der Interviewer Radim Kopáč ist Literatur- und Kunstkritiker, übersetzt hat Viktorie Hanišová. Das Interview erschien am
9. Dezember 2019 auf Tschechisch in den Lidové noviny.