Phänomen Schrankwand
Die Platte im Wohnzimmer
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts galt die Schrankwand als Inbegriff der modernen Möbelproduktion in Serie. Heute verbindet man mit ihr vor allem normierte Privatheit und die Tristesse alternder Neubaublocks.
Vom Wohnen zu sprechen heißt heute immer auch vom Umziehen zu sprechen. Everybody´s Moving nannte der Künstler Jay Gard 2014 eine Einzelausstellung in Leipzig. Von der Decke der Galerie b2_ hängte er jedoch ausgerechnet ein Möbel gewordenes Gegenbild zeitgenössischer Beweglichkeit: die Schrankwand seiner Großeltern. Als an Stahlseilen befestigtes Pendel, ihrer Funktion buchstäblich enthoben, schwang sie im Raum, wie die Frage danach, welchen Platz sie heute noch hat.
Als erste Schrankwand gilt ein System der deutschen Firma Erwin Behr, gefertigt 1921 nach dem Entwurf des Wiener Architekten und Möbeldesigner Franz Schuster. Eine frühe Form der Schrankwand findet sich vier Jahre später auch in Le Corbusiers Unité d’Habitation in Marseille. Die nur hüfthohen Schränke im Innenraum der modernen „Wohnmaschine“ griffen die Formsprache der Fassade auf – des streng modularisierten Blocks. An ihnen wird laut Axel Müller-Schöll, Professor für Innenarchitektur und Möbeldesign an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein in Halle, ein allgemeines architektonisches Prinzip sichtbar: „Schränke sind im Grunde genommen Mikroarchitekturen. Sie brechen ein städtisches Bild herunter und tragen die Nachbildung ins Haus.“ So verbindet man mit der Schrankwand stets auch die Block- und Plattenarchitektur, die vor allem in der ehemaligen DDR einen Hauch des gesellschaftspolitisch Gestrigen verströmte. Gerade in der DDR aber wurde Le Corbusiers modernistischer Impuls für den Innenraum weiterentwickelt.
Wiederum in Halle lehrte Rudolf Horn zwischen 1966 und 1996 Möbel- und Ausbaugestaltung. Von ihm stammt eines der bekanntesten Schranksysteme: Das Möbelprogramm Deutsche Werkstätten, kurz MDW. Ab 1967 im damaligen Volkseigenen Betrieb, kurz VEB, Möbelkombinat Hellerau gefertigt, bestand es aus variablen Einzelteilen und war weit entfernt von jenem Möbelmonolith, als der die Schrankwand heute gilt. Das MDW versprach Mobilität, gar Individualität: Dem Konzept nach kauften die Nutzer nicht ein gegebenes Produkt, sondern gaben ihm in der Selbstmontage die endgültige Gestalt, die ihren eigenen Bedürfnissen und Vorstellungen entsprachen.
Schrankwand auf Rädern
Die reale DDR-Wirtschaft aber entkernte Horns Idee. Die Möbelhändler stellten das System als ganzheitliche Schrankwand aus und verkauften es so. In den 1970er-Jahren erhielten die Werkstätten Hellerau dann die staatliche Anweisung, nur noch vormontierte Möbel zu fertigen. Auch in der Bundesrepublik setzte man die serielle Produktion mit standardisierten, vorgefertigten Formen gleich, sodass sich hier ebenfalls Komplettschränke etablierten. Unversehens wurde das Mobiliar zum vollflächigen Einbau. In den USA, so erklärt Axel Müller-Schöll, ist die Schrankwand fester Bestandteil einer Wohnung, der bleibt, auch wenn die Mieter wechseln. Wer sich hingegen in Deutschland eine Schrankwand zulegt, kann diese bei einem Ortswechsel meist nicht zurücklassen – „und umziehen wollen Sie damit nicht! Der Aufbau von IKEA PAX für meine Tochter hat mich zwei Tage gekostet,“ ergänzt Müller-Schöll. Zwar ist das wandfüllende PAX-Schranksystem gegenwärtig überaus erfolgreich, doch schwingt im Gleichklang der Silben des Wortes „Schrankwand“ heute neben Normierung und Spießbürgertum noch immer Sesshaftigkeit mit.Einen praktischen Vorschlag machte Axel Müller-Schöll, als er das ehemalige Haus seiner Mutter zu einem Verbund von Lofts für temporäre Gäste umbaute. Er entfernte von einigen alten Einbauschränken die Sockel, umhüllte die Schränke neu mit Mitteldichten Holzfaserplatten (MDF) und stellte sie anschließend auf Rollen. Sie sollten die individuelle Abtrennung des Raumes, aber auch das Ankommen an einem Übergangsort ermöglichen. Müller-Schöll gestaltete sie als Inventar eines Lebensraums, “an dem man keine Wurzeln schlagen will, der kein Zuhause ist, an dem man sich aber doch gewissermaßen daheim fühlen kann.“