Ein Gespräch
Die Nürnberger Prozesse
Hier ist Nürnberg. In unseren Berichten vom Nürnberger Prozeß bringen wir heute ein Interview mit der amerikanischen Kriegskorrespondentin Miss Mann. Nachdem wir am Montag einen der deutschen Verteidiger im Nürnberger Prozeß hier in unserem Studio hatten, freuen wir uns, heute einen amerikanischen Korrespondenten hier begrüßen zu dürfen, Miss Erika Mann. Miss Mann, vielleicht erzählen Sie uns zuerst, welche Erfahrungen Sie als Korrespondent hatten, bevor Sie diese neue Aufgabe in Nürnberg übernahmen.
Ich habe den Krieg als Korrespondent ziemlich von Anfang an oder doch vom Jahr ´40 an mitgemacht. Ich war damals in London während der ganzen schweren Luftangriffe auf die englische Hauptstadt als Berichterstatter und auch als Rundfunksprecher. Ich war am BBC tätig und habe auf Einladung des englischen Propagandaministeriums nach Deutschland gerundfunkt, gebroadcastet, wie wir sagen. Ich bin dann nach Amerika zurückgegangen für eine lecture-tour, für eine Vortragsreise, bin in Afrika gelandet, bin nach Persien gegangen, wo ich die amerikanische Hilfeleistung für Rußland aus nächster Nahe mitansehen konnte. Und zwar habe ich damals am Persischen Golf zum erstenmal einen Eindruck bekommen von dem Ungeheuerlichen, was Amerika auf zwei Gebieten zu leisten imstande war und ist, nämlich auf dem Gebiet der Produktion und auf dem Gebiet der Organisation. Die Kriegsmaterialien, die damals, und damals war das Mittelmeer noch nicht für unsere Schiffahrt offen, von Amerika nach Persien gebracht wurden und von dort weiter nach Rußland, waren ungeheuerlich in Quantität. Es hat damals einen Konvoi, einen Begleitzug von Schiffen, neunzig Tage gekostet, um von Amerika nach Persien zu kommen, und alle Begleitschiffe sind unversehrt angekommen. Ich war damals schon absolut überzeugt davon, daß unsere Invasion von Europa, von Frankreich, ein Erfolg sein würde.
Und haben Sie den Prozeß hier von Anfang an mitgemacht, wenn ich fragen darf?
Ja, das habe ich getan. Ich habe vergessen zu sagen, daß ich natürlich auch bei der Invasion von Frankreich zugegen war und als wir zum erstenmal in Deutschland einzogen in der Aachen-Gegend, und nun war ich hier in Nürnberg vierzehn Tage bevor der Prozeß anfing, um bereits an den Vorbereitungen beobachtend teilzunehmen.
Haben Sie die Angeklagten je gesehen, bevor die erste Sitzung des Prozesses stattfand?
Ja und nein. Ich habe sie natürlich in Deutschland nie gesehen oder nur ganz von weitem, ehe sie zur Macht kamen, und wollte sie auch niemals sehen bis zu dem Augenblick, wo sie da saßen, wo sie meiner Ansicht nach schon immer hingehörten, nämlich hinter Schloß und Riegel. Das war zum erstenmal in Mondorf, in Luxemburg, wo sie alle zusammengebracht waren, die einundzwanzig hier und noch viele andere, es waren zweiundfünfzig Kriegsverbrecher, deutsche Kriegsverbrecher, und da habe ich sie zum erstenmal zusammen gesehen. Ich muß sagen, es war einer der geisterhaftesten und absurdesten und auf eine grauenhafte Art komischsten Anblicke, die ich je gesehen habe. Ich habe sie gesehen dort zusammen in dem Lese- und Wohnraum dieses Hotels, wo sie einquartiert waren. Es war kein Hotel in diesem Sinn, es war kein Hotel mehr, es war zu einem Gefängnis umgestaltet worden, aber immerhin hatte es noch viele der äußeren Anzeichen eines Hotels, und der Leseraum war in der der Tat ganz gemütlich. Sie saßen da, und während ich sie später einzeln, direkt, aus größerer Nähe noch zu Gesicht bekommen habe, wollte der Leiter, der Kommandant dieses Gefängnisses, Colonel Andrus, nicht, daß ich in den Leseraum eintrete, um die Leute nicht, wie er sagte, noch hysterischer zu machen, als sie ohnedies schon seien. Ich beobachtete sie also, ohne von ihnen gesehen zu werden, durch die halboffene Tür, und die sie wußten nicht, daß sie beobachtet seien. Sie saßen da in sonderbar zusammengewürfelten Aufzügen. Etwa ein Drittel von ihnen trug Uniform, aber natürlich Uniform ohne Abzeichen, ohne Grad und Orden, ohne irgend etwas, keine Krawatten, keine Hosenträger, wenn man so sagen darf, keine Gürtel, so daß sie also einen etwas verwahrlosten Eindruck machten. Etwas ein Drittel war in Zivil, wiederum ohne diese Beitaten des Zivilaufzuges, und etwa ein Drittel war in Kriegsgefangenenanzügen, die sie freiwillig angelegt hatten mit den großen Buchstaben „PW“, Prisoner of War, am Rücken gemalt, und zwar psychologisch erklärt sich das wahrscheinlich aus der folgenden Erwägung: In den Kriegsgefangenenanzügen konnten sie sich selber vormachen, bis zu einem gewissen Grad wenigstens, daß sie eben nur halt Kriegsgefangene wären und keine Leute, keine Kriegsverbrecher, die demnächst abgeurteilt werden würden, und sie fühlten sich ein bißchen leichter in dieser Tracht, offenbar. Da saßen sie, und zwar schrieben sie fieberhaft, die meisten von ihnen. Sie schrieben an ihren Verteidigungsschriften und an Eingaben, die sie machen wollten, sie schrieben sinnlose Briefe an General Eisenhower und Präsident Truman und arbeiteten wie die Irren an tausend Dingen, die ganz sinnlos waren, aus schierer Nervosität. Sie waren alle außerordentlich nervös.
Sehr interessant. Und was sind denn nun so Ihre Eindrücke, wenn man so sagen darf, des Prozesses selber hier in Nürnberg?
Ja, die sind mannigfach. Ich muß sagen, daß der erste Eindruck natürlich ein ungeheuer starker war. Es war der erste Anblick dieser zwanzig Leute, die mehr als irgendwelche anderen zwanzig Leute auf der Welt verantwortlich sind für das beispiellose Unheil, das über den ganzen Erdball heraufbeschworen worden ist. Die nun so unscheinbar zusammengepfercht sitzen zu sehen, nicht wahr, war ein äußerst merkwürdiges Bild. Etwas späterhin kann man sagen, daß manche von uns, manche von den Zuschauern, Zuhörern und vielleicht auch manche von denen, die nun unsere Berichte oder Radioberichte oder etwas hören, daß denen vielleicht zumute gewesen sein könnte, als ob der Prozeß nicht aufregend, nicht dramatisch, nicht sensationell genug aufgezogen sei. Ich habe diesen Eindruck auch zunächst vielleicht gehabt, aber ich muß heute sagen, daß nach längerem Zuschauen und Nachdenken ich zu der Überzeugung gekommen bin, daß die Prozeßführung so, wie sie ist, die richtige ist. Und zwar aus folgendem Grund: Der Prozeß ist kein Sensationsprozeß, so sensationell sein Gegenstand zweifellos ist, er soll keiner sein. Er ist weniger zur Aufregung und Unterhaltung der Gegenwart als zur Belehrung für die Zukunft, für die Geschichte gedacht. Und die ungeheuer gewissenhafte und manchmal vielleicht beinahe pedantische Art, in der diese ungeheure Fülle von Tatsachenmaterial ruhig und undramatisch präsentiert ist, hat, glaube ich, ihre großen Vorzüge im Angesicht der Geschichte.
Und welchen Eindruck machten Ihnen denn die Zeugen, die bisher vorgeführt wurden?
Ja, die Staatsanwaltschaft hat bisher, wenn ich mich richtig erinnere, und ich glaube, ich erinnere mich richtig, nur einen einzigen Zeugen vorgeführt. Das war der General Lahousen, der Assistent, Adjutant, des berühmten und rätselhaften Admirals Canaris, des deutschen Gegenspionagechefs, und der hat zweifellos einen sehr starken Eindruck gemacht. Es mag aufgefallen sein, daß so wenige Zeugen, oder bisher eigentlich überhaupt nur ein Zeuge aufgetreten ist, und ich habe in der Tat vor ein paar Tagen den amerikanischen Chief Prosecutor, Chief Justice Jackson, gefragt, was es damit auf sich hat. Und der hat mir nun das Folgende gesagt, was ich sehr interessant gefunden habe. Er hat mir gesagt: Wir haben natürlich Hunderte von Zeugen zur Verfügung. Jeder einzelne von diesen Hunderten könnte wesentliche und aufschlußreiche Äußerungen tun, und wir hatten auch daran gedacht, viele von denen, wenn auch nicht alle, vorführen zu lassen. Wir sind nun aber zu folgendem Entschluß gelangt: Wir haben uns gesagt, um von den Naziuntaten aus nächster Nähe aussagen zu können, d.h., um also wirklich Bescheid zu wissen, persönlich bescheid zu wissen über das, was diese Nazis getan haben, muß man entweder ein Gehilfe von ihnen gewesen sein, ein Nazi gewesen sein, wie zumindestens auch technisch Lahousen einer war, oder man muß eines ihrer Opfer gewesen sein, wie z.B. Schuschnigg oder Hodža Opfer waren. Nun, in beiden Fällen sprechen gewisse Dinge gegen solche Zeugen. Nazizeugen sind moralisch nicht besonders hochwertig, möchte man meinen, und wir könnten gewisse Bedenken haben, gar zu viele Nazizeugen zu vernehmen. Was nun die Opfer angeht, so könnte die Geschichte zum Mindesten sagen, daß sie notwendigerweise nicht unvoreingenommen sein konnten, da sie ja gegen die Angeklagten etwas auf dem Herzen hatten. Also auch da wieder sprach etwas gegen die Verwendung solcher Zeugen. Und da wir eine solche Fülle von Material, von Dokumenten haben, eine Fülle, gegen die sich auch nicht das Geringste einwenden läßt, gegen die weder die Angeklagten selbst noch die Umwelt jetzt, noch später die Geschichte irgend etwas einwenden könnte, bevorzugen wir in der Tat dieses Material zu den Zeugen (das ist kein Deutsch, ich vergesse Deutsch allmählich).
Ich verstehe. Also soviel zu den Zeugen. Und nun vielleicht noch ein Wort über die Verteidiger. Haben Sie, die Korrespondenten, irgendwelche Beziehungen zu den deutschen Verteidigern?
Ja, das haben wir, das heißt, natürlich machen wir Gebrauch von jeder Informationsquelle, die uns zur Verfügung steht, und eine von diesen Informationsquellen sind natürlich die deutschen Verteidiger. Wir haben das Recht und machen Gebrauch von diesem Recht, diese Herren zu interviewen, und manche von unseren interessanten Nachrichten betreffend die Reaktionen der Angeklagten usw. kommen aus dieser Quelle. Es war nicht leicht, übrigens, es kann nicht leicht gewesen sein, erstklassige und/ oder gar berühmte Strafverteidiger für die Angeklagten zu finden, und zwar aus einem sehr einfachen Grund: in einem Land ohne Gesetz – oder doch mit Gesetzen, vor denen kein Strafverteidiger im Ernst Respekt haben kann – war der Beruf des Strafverteidigers in Verruf geraten unter den Anwälten. Tatsächlich haben sich eine große Anzahl von Strafverteidigern aus diesem Beruf zurückgezogen, besonders in den letzten Jahren unter dem Naziregime, und es besteht eine gewisse Armut auf diesem Gebiet, die uns sehr aufgefallen ist, als wir anfingen, nach Verteidigern zu suchen. Wir sind der Überzeugung, und Chief Justice Jackson hat auch dieser Überzeugung mir gegenüber Ausdruck gegeben, daß die Anwälte, die wir nun dort haben, die besten sind, die aufzufinden waren. Und übrigens, das muß ich noch hinzufügen, die Angeklagten hatten, ehe ihnen irgendeine Auswahlliste von Verteidigern vorgelegt wurde, das Recht, jeden Verteidiger in Deutschland in jeder der besetzten Zonen sich auszubitten, ganz gleichgültig, ob dieser Verteidiger ein Nazi war oder nicht, ob er vielleicht sogar wegen Naziverbrechen im Gefängnis schon saß oder nicht, wir waren bereit, für diese Angeklagten Verteidiger sogar aus dem Gefängnis zu holen. Also, man kann ganz bestimmt mit Sicherheit aussagen, daß die Angeklagten jede Chance hatten, genau den Verteidiger zu bekommen, den sie sich gewünscht haben.
Ich fürchte, Miss Mann, unsere Zeit ist beinahe abgelaufen. Vielleicht sagen Sie uns noch ein Wort über die Aufgaben der Berichterstattung, so wie Sie sie sehen.
Die Aufgaben der Berichterstattung in diesem welthistorisch bedeutenden Prozeß sind natürlich sehr große, die Verantwortung ist eine sehr große, und wir sind uns alle dieser Verantwortung voll bewußt. In gewissem Sinne glaube ich, daß kein Land so interessiert an diesem Prozeß sein kann, wie die Deutschen es sein müssen oder sollten oder doch wahrscheinlich sind. Aber auch in unseren Ländern, in Amerika, herrscht ein ungeheures Interesse an diesem Prozeß. Täglich erscheinen viele Spalten auf der ersten Seite unserer Zeitungen und Magazine über den Prozeß, und wenn wir eine Sorge haben, so ist es die der Auswahl. Wir haben so viel zu schreiben, wir hätten so viel zu schreiben, daß wir manchmal besorgt sind, unser Platz möchte nicht ausreichen. Das ist unsere schwerste Sorge, wie wir das Wichtigste jeden Tag herausgreifen für unsere Leser. Aber es ist eine hochinteressante und schöne Aufgabe.
Ich danke Ihnen, Miss Mann.
(1945)
Quelle: Erika Mann: Blitze überm Ozean. Aufsätze, Reden, Reportagen. Rowohlt, 2001.