Flucht vor dem Angriff
Eindrücke aus Tel Aviv
Mitte November 2012 ertönte in der israelischen Mittelmeermetropole Tel Aviv zum ersten Mal seit über 20 Jahren Raketenalarm. Zu dem Angriff bekannte sich später ein militärischer Arm der Hamas. Die radikal-islamische Palästinenser-Organisation hatte bereits in den Wochen zuvor immer wieder einige Dörfer und Städte im Süden Israels beschossen. Daraufhin töteten die israelischen Truppen den Militärchef der Hamas. Auf weiteren Raketenbeschuss der Hamas reagierte Israel mit Luftangriffen auf Ziele im Gazastreifen, der Hochburg der Hamas. Zivilisten kamen ums Leben. Der Nahost-Konflikt ist erneut eskaliert. Der israelische Musiker Ofer Waldman lebt in Tel Aviv. Auf seinem Blog beschrieb er eindringlich, wie er mit seiner Familie einen Angriff auf die Stadt erlebte und was er dabei empfand. Mit freundlicher Genehmigung von Ofer Waldmann veröffentlicht jádu hier seinen Blogeintrag.
Liebe Freunde,
bis Gili das Wort ausgesprochen hat, habe ich selber es noch nicht wirklich begriffen. Ori, unsere Tochter, war in warmer Kleidung verpackt auf ihrem Arm, und ich, hinterher, zog einen großen Koffer, auf der einen Schulter das Horn, auf der anderen eine Tasche mit Windeln, Spielzeug, Bananen.
Wir fliehen.
Wortlos schnallen wir Oris Sicherheitsgurt fest, laden unsere Sachen in den kleinen Hyundai, und fahren los, schnell weg aus Tel Aviv, nach Norden. An der Ampel schaue ich in die anderen Autos. Wahrscheinlich sehen wir auch so aus, Papa am Steuer blickt starr und Mama schaut besorgt auf das Smartphone, auf der Rückbank Kinder, die aus der Abendruhe gerissen und in das Auto gesetzt wurden, um zu den Großeltern, Freunden, Bekannten zu fahren – Hauptsache schnell weg aus Tel Aviv. Die Ampel wird grün, ich merke wie fest meine Finger das Lenkrad halten. Ori will ihre Kinder-CD hören, und bald ist das kleine Auto voll mit süßen Kinderstimmen. „Komm zu uns kleines Flugzeug, nimm uns mit in den Himmel, wo wir unsere Taschen voll mit Sternen, mit Geschenken für die Kinder, packen werden.“ Auf der entgegengesetzten Spur fahren Militärfahrzeuge, beladen mit Panzern und Panzerwagen, gen Süden.
Eine Stunde vorher.
Eine Freundin von Gili war mit ihrem Sohn bei uns, eigentlich mag ich sie nicht so wirklich. Also bin ich in das Schlafzimmer gegangen und habe weiter an meinem Artikel für eine Konferenz gearbeitet. Ori kam hinterher, sie mag den Jungen anscheinend auch nicht so sehr. Sie wollte im Computer Bilder von Nilpferden sehen, sie liebt Nilpferde seitdem wir so ein Vieh im Berliner Zoo gesehen haben. „Noch eins!“ kichert sie entzückt in meinen Armen. Gili schaut zu uns ins Zimmer, sie will auch mit uns zusammensein und sich nicht mehr um den Besuch kümmern. Ich lächle sie an und streichle ihren schon etwas größeren Bauch an. Ich lese ihre Lippen wie sie stumm sagt – bald gehen sie, dann komme ich – und widme mich weiter meinem Nilpferd-süchtigen Kind.
Kriegssirene.
Ich denke gar nicht nach. Ich packe Ori, nehme den Schlüssel. Schaue Gili an. Sie nimmt ihr Handy. Es fällt kein Wort. Die Freundin murmelt was, ich höre nicht hin, ich denke nur, was mache ich, das kann doch nicht sein. Ich renne aus der Wohnung. Treppenhaus, Stimmen von Nachbarn. Hast du den Schlüssel. Habe ich. Komm. Wir laufen die Treppen hinunter. Ori sagt kein Wort, hält mich aber fest. Im Bombenkeller brennt schon Licht, ich sehe Ayala aus dem Erdgeschoss. Ihr großer Junge zittert am ganzen Körper. Ich lächele ihn an, Ori fängt an zu singen. Ich liebe mein Kind. Gilis Freundin, inzwischen auch unten mit ihrem Sohn angekommen, ist hysterisch. Ich schaue sie an, deute auf das kleine Nachbarskind, und bitte sie sich zu besinnen. Die Nachbarin weiß nicht wo ihr Mann bleibt, Gili gibt ihr ihr Handy. Er geht nicht ran.
War das eine Explosion?
Ein Nachbar tritt in den Bombenkeller hinein, er hat kein Blut im Gesicht. „Habt ihr das gehört?“ Später wird sich herausstellen, die Stadt wurde zu diesem Zeitpunkt nicht direkt getroffen, erst später. Ich versuche, mit dem Nachbarskind ins Gespräch zu kommen, ihm von meinen Erfahrungen vom Golfkrieg, 1991, zu erzählen. Ich sehe in seinen Augen, er hört mir nicht zu. Ich sehe in seinen Augen, er hat Angst.
Die Sirene hört auf. Stille.
Was nun? Ich suche die restlichen Lichtschalter in dem großen, kahlen Raum. Ich schaue Gili an. Sie ist in Ordnung, ich glaube aber, sie kapiert nicht was sich hier abspielt. Ich auch nicht. Wir gehen zurück in die Wohnung. Ich packe mechanisch eine Tasche, die ab heute die ganze Zeit voll und bereit neben der Tür stehen wird. Ich schmeiße alles Mögliche hinein. Wasser, Windeln, Bücher, Kaffee, Schockolade, Klamotten für Ori. Gili packt mich am Arm.
Wir fliehen.
Das Packen geht schnell, ruhig, effizient. Ori spielt und singt, ich rufe meine Schwester an, und als ich ihr sage, ich bin gerade mit Ori auf dem Arm in den Bombenkeller gerannt, fange ich an zu weinen, heftig. Ich fange mich aber schnell, schaue, dass Ori nichts davon mitbekommt. Gili sieht meine roten Augen. Ich versuche sie anzulächeln. „Sollen wir unsere Pässe nehmen?“ frage ich. „Wir können ja nach Berlin fliegen.“ Ich schreibe schnell auf meine Facebookseite eine Zeile – die ersten Reaktionen kommen auch prompt. Ich bin stolz.
Und jetzt sitzen wir in Galiläa, bei Gilis Eltern. Es ist ruhig, Ori und Gili schlafen schon fest. Vielleicht war es feige zu fliehen, aber im Krieg, mit einem Kind auf dem Arm und einem im Bauch, ist Feigheit der wahre Mut. Es sind aber zwei Bilder, die ich nie im Leben vergessen werde. Wie ich mit Ori die Treppen hinunter renne. Und wie Gili vor mir geht, ihr ganzer Körper um Ori gewölbt, der kleine helle Kindeskopf umgeben von den schweren, schwarzen Locken der Mutter, meiner Frau.
Und in diesen Stunden rede ich nicht von Politik, sondern bete Euch an – betet mit mir für alle Mütter, in Gaza und bei uns, die sich jetzt um ihre Kinder wölben, auf der Flucht. Wieder auf der Flucht.
Euer Ofer
ist Musiker, hat einige Jahre in Berlin gelebt und wohnt momentan mit seiner Familie in Tel Aviv.