Zuwandern
Sabine Herpichs Dokumentarfilm erzählt vom Versuch, ein neues Leben in Deutschland zu beginnen. Die Regisseurin hat dafür eine rumänische Familie monatelang bei den Bemühungen begleitet, in Berlin Fuß zu fassen.
Daniel Badea steht vor einer heruntergekommenen Gartenlaube im Berliner Stadtteil Grunewald. Mit einer Handbewegung bedeutet er der Kamera, ihm ins Innere des Gebäudes zu folgen. In einem winzigen Raum, der wie die ganze Laube unbeleuchtet ist, liegen alte Plastikflaschen. „Hier“, Daniel deutet auf die Flaschen, „darin haben wir im Winter Schnee zu Wasser geschmolzen.“
Daniel ist acht Jahre alt, als diese Szene gedreht wird. Neun Monate zuvor ist er mit seinen Eltern aus Rumänien nach Berlin gekommen. Daniel ist der unfreiwillige Held des Dokumentarfilms Zuwandern der Berliner Regisseurin Sabine Herpich. Denn der Versuch der Badeas, in Deutschland ein neues Leben zu beginnen, bedeutet für Daniel auch das Ende seiner Kindheit. Monatelang lebt die Familie davon, Pfandflaschen zu sammeln. Der Achtjährige unterstützt seine Eltern wie ein erwachsenes Familienmitglied und wird mit der Zeit immer unverzichtbarer: als Dolmetscher, als großer Bruder.
Vom Versuch, eine sichere Existenz aufzubauen
Denn, das erfährt der Zuschauer erst nach einem Drittel des 80-minütigen Films, die Familie hat neben Daniel noch zwei weitere Kinder. Razvan und Rebeca sind jünger als Daniel und sollen solange bei der Großmutter in Bukarest bleiben, bis die Badeas eine sichere Existenz in Berlin aufgebaut haben.
Es ist wohl die Schlüsselszene des Films, als Daniel und seine Eltern im Büro der Berliner Stiftung Amado Foro sitzen. Die Stiftung, die sich um rumänische Zuwanderer kümmert, ermöglicht es den Badeas, mit ihrer Familie in Rumänien zu telefonieren. Zuerst spricht Daniel mit seinen Geschwistern, dann seine Mutter Carmen. Als sie ihrem Mann den Hörer reicht, schüttelt der nur den Kopf. Er schluchzt leise. Die Szene unterstreicht die prekäre Situation der Badeas. Dabei war die Lage kurz davor noch schlimmer. Wenige Wochen nach dem Telefonat verdient Carmen Badea genug Geld als Reinigungskraft, um die beiden Kinder nachzuholen. Ihr Mann George besucht Deutschkurse und sucht aktiv nach Arbeit.
Hilfe von einer Berlinerin
Bis dahin war es ein steiniger Weg. Dass die Familie überhaupt in Kontakt mit der Stiftung Amado Foro kam, hat auch mit Katja zu tun. Katja ist Berlinerin und geht eines Tages mit ihrem eigenen Sohn und ihrem Hund spazieren, als sie Daniel und George vor der Gartenlaube sitzen sieht. Sie bietet der Familie ihre Unterstützung an. Die ist zuerst skeptisch, stellt dann aber fest: Katjas Mitgefühl ist echt. Sie bringt sie mit Amado Foro in Kontakt und meldet Daniel in einer Charlottenburger Schule an. Sie ist auch da, als die Polizei kommt und der Familie erklärt, dass sie die Gartenlaube verlassen müsse. Sie soll abgerissen werden – wegen Einsturzgefahr.
So traf schließlich auch die Regisseurin Sabine Herpich auf die Badeas. Die zur Cutterin ausgebildete Soziologin hospitierte bei Amado Foro, um einen Film über die bürokratischen Hürden zu drehen, mit denen Zuwanderer in Deutschland konfrontiert sind. „Mich interessiert die Interaktion zwischen Ämtern und Individuen“, sagt Herpich. Wie hilfsbereit viele Mitarbeiter bei den Behörden waren, habe sie überrascht. In diese Hilfsbereitschaft mische sich zuweilen ein Pragmatismus, den Herpich „interessant“ findet. Charakteristisch ist eine Szene im Job Center, wo George gefragt wird, ob er sich eine Weiterbildung zur Pflegefachkraft vorstellen könne – pflegendes Personal wird in Berlin händeringend gesucht. George sagt Ja, obwohl er eigentlich auf der Suche nach einer Stelle als Koch oder Sicherheitskraft ist – darin hat er Erfahrung.
Intime Einblicke in das Leben einer Familie
Herpichs Film orientiert sich am Stil des Direct-Cinema, er ist das Resultat einer Art teilnehmenden Beobachtung. Er bleibt dadurch immer vorurteils- und wertfrei; für den Zuschauer eröffnet sich der intimste vorstellbare Einblick in das Leben einer fremden Familie. Als sie die Familie darum bat, sie mit der Kamera begleiten zu dürfen, habe diese sofort zugesagt, erzählt Herpich. „Ich hatte das Gefühl, dass besonders Georges Bedürfnis groß war, endlich von diesen unglaublich krassen Erfahrungen zu berichten.“
Warum die Familie Rumänien verließ und beschloss, in Deutschland ein besseres Leben zu beginnen, erzählt Herpich im Film nicht. Bewusst: „Es ging mir darum zu zeigen, mit welchen Problemen zugewanderte Familien in Berlin konfrontiert sind.“ Natürlich habe ihr die Familie von ihrer Situation in Rumänien erzählt. „Für die Badeas war die Situation in Rumänien unerträglich. Wie schlimm es gewesen sein muss, zeigt ja aber schon die Tatsache, dass die Familie die schrecklichen Lebensumstände in Berlin der Situation in Bukarest vorgezogen hat.“
Heute, etwa ein Jahr nachdem die letzte Filmszene gedreht wurde, hat sich die Lebenslage der Badeas stabilisiert. Noch immer aber lebt die fünfköpfige Familie in einem einzigen Zimmer eines Wohnheims. „Auf dem regulären Wohnungsmarkt haben zugewanderte Familien oft keine Chance“, sagt Herpich.