Oktober 2021
Helene Bukowski: Milchzähne

Bucheinband: Milchzähne
© Unnamed Press

Wenn deine Lust auf Climate-Fiction durch den Roman Vom Ende an geweckt wurde, empfehlen wir Helene Bukowskis Debüt Milchzähne.

2021 ist – man kann es nicht leugnen – ein ziemlich apokalyptisches Jahr. Auch wenn man die täglichen Covid-Zahlen ignorieren kann, bringen die Nachrichten jeden Tag neue Tragödien. Flächenbrände in Sibirien. Überschwemmungen in Deutschland. Orkane in Mittelamerika. Während wir die Tage bis zur COP26 zählen, wird die Dringlichkeit der Forderungen, die bei der Klimakonferenz getroffen werden müssen, immer klarer. 2020 hatte man manchmal das Gefühl, auf den ersten Seiten von Emily St. John Mandel’s post-pandemischer Dystopie Das Licht der letzten Tage (übersetzt von Wibke Kuhn) zu leben. 2021 dagegen ist eher die Vorstufe von Megan Hunters poetischem Debüt, Vom Ende an (übersetzt von Karen Nölle), einer eleganten und kargen Novelle, die das Thema junge Mutterschaft vor dem Hintergrund katastrophaler Überschwemmungen untersucht.

Wenn deine Lust auf Climate-Fiction durch Vom Ende an geweckt wurde, könnte dir auch Helene Bukowskis Debüt Milchzähne gefallen. Der Roman spielt mehrere Jahre nachdem die Klimakatastrophe zum sozialen und politischen Zusammenbruch geführt hat. Skalde wohnt mit ihrer Mutter Edith in „der Gegend“. Edith ist mal emotional entkoppelt von ihrer Tochter, mal grausam zu ihr, und die beiden sind den anderen Bewohner*innen der Gegend suspekt.

Ressourcen sind knapp und werden aggressiv geschützt in diesem Land, wo endlose, brennende Hitze auf monatelangen Nebel folgt – und Fremde werden nicht geduldet. Die Brücke, die die Gegend mit dem Festland verbindet, wurde vor Jahren gesprengt und Fremde, die in der Gegend ankommen, werden getötet. Als Skalde auf Meisis trifft – ein junges Mädchen, dessen rote Haare sie als Fremde markieren – und sich entscheidet, sich um das Mädchen zu kümmern, spitzen die Spannungen sich zu.

Wie Vom Ende an, ist Milchzähne ein karges, aber aufrüttelndes Buch. Bukowski baut ihre Welt allmählich auf, sodass die Leserin, wie Skalde während sie aufwächst, nur langsam die Landschaft und die Regeln dieser Welt versteht. Daraus resultiert ein absichtlicher Orientierungsverlust und der Leser wird in das Engegefühl der Gegend gezogen.

Aber trotz dieses Engegefühls, der Härte des Klimas und der Grausamkeit der Menschen, ist Milchzähne ein überraschend sinnliches Buch. Skalde beschreibt bildhaft nicht nur die Landschaft, die sie liebt, (“Besonders mochte ich die GOLDRAUTEN. Sie hatten leuchtend gelbe Blüten und wuchsen so hoch, dass sie mich überragten.”), sondern auch den unpassenden Glamour ihrer Mutter – Ediths Make-up und ihre unpraktische Kleidung. Sie versucht, die Welt zu verstehen, indem sie alles aufschreibt: “ICH HABE DAS BLAUE DES HIMMELS GESEHEN; ES SAH AUS; ALS WÄRE ER AUSGEHÖHLT; UND ICH DENKE; IRGENDWANN WERDEN AUCH DIE HÄUSER WIE SKELETTE STEHEN.” Bukowski erinnert uns daran, dass man Schönheit auch in den schlimmsten Zeiten finden kann – und auch in den schlimmsten Zeiten, wie Skalde lernen muss, haben wir immer eine Wahl.
 

Über die Autorin

Annie Rutherford ist eine hoffnungslose Leseratte, kann sich nie auf nur eine Sache festlegen und bewegt sich am Liebsten irgendwo zwischen Genie und Wahnsinn. Sie ist stellvertretende Festivaldirektorin bei StAnza (Schottlands internationalem Lyrikfestival), übersetzt vor allem literarische Texte aus dem Deutschen ins Englische, leitet den Buchclub der Lighthouse Buchhandlung in Edinburgh, der übersetzte Schriftstellerinnen diskutiert, und vieles mehr. Sie wurde schon erwischt, wie sie fahrradfahrend gelesen hat (was sie nicht empfehlt) und kann ein falsch gesetztes Apostroph aus fünfzig Metern Entfernung erkennen. 


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