April 2023
Raphaela Edelbauer: Das flüssige Land
Das flüssige Land von Raphaela Edelbauer besticht durch sein fantasievolles Setting und eine Atmosphäre der Ausweglosigkeit: Ein aberwitziges Porträt von Österreich mit Anklängen an Kazuo Ishiguros Die Ungetrösteten.
In diesem Monat führt uns ein Buch in meine Wahlheimat, Österreich – wo merkwürdige Dinge über die Bühne gehen. Raphaela Edelbauers atemberaubendes Romandebüt, Das flüssige Land, mit dem sie sich als eine der kreativsten und hellsichtigsten jungen Autorinnen des Landes etablierte, wurde 2019 veröffentlicht und landete mehr oder weniger gleich auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Diese bizarre, äußerst fesselnde Geschichte spielt in der fiktiven Stadt Gross-Einland, die langsam in ein immer größer werdendes Loch sinkt; sie thematisiert das kollektive Gedächtnis, die historische Schuld und die Erbschaft des Zweiten Weltkriegs in Österreich.
Mit wild-fantasievollem Erzählstil erinnert Edelbauer an die experimentierfreudigeren Werke des britischen Schriftstellers Kazuo Ishiguro: In Der begrabene Riese, zum Beispiel, geht es auch um Erinnerung und eigenwilliges Vergessen. Doch was Das flüssige Land auszeichnet, ist seine alptraumähnliche Atmosphäre: Das beängstigende, beengende Gefühl, an einem Ort gefangen zu sein, der völlig unlogisch und dennoch unentrinnbar ist. Das flüssige Land zu lesen, ist wie aus einem Traum nicht erwachen zu können – ein Erlebnis, mit dem die Leser von Ishiguros Die Ungetrösteten vertraut sein werden.
Es beginnt alles ganz harmlos, als die brillante junge Physikerin Ruth Schwarz einen Anruf erhält: Ihre Eltern sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Sie muss sich um die Beerdigung, den Nachlass kümmern. Außerdem ist sie neugierig auf die Vergangenheit, die ihre Eltern ihr weitgehend verschwiegen haben. Deshalb macht sie sich auf den Weg in ihre alte Heimatstadt, Gross-Einland, die irgendwo im tiefsten ländlichen Österreich liegt. Der Ort ist nicht nur unglaublich schwer zu finden, sondern auch äußerst kurios, da Ruth bei ihrer Ankunft auf eine absurd-archaische Gemeinde stößt. Es herrscht hier ein System von Schuldscheinen und fragwürdigen Moralvorstellungen, die Stadt wird von der geheimnisvollen Gräfin regiert.
Dazu kommt noch, dass Gross-Einland sinkt: Die Stadt sackt langsam in einen tiefen Abgrund hinein. Als Physikerin wird Ruth von der Gräfin damit beauftragt, die Stadt zu retten. Überwältigt von einer Mischung aus kindlicher Pflicht, krankhafter Neugierde und der schlichten Unmöglichkeit, die Stadt zu verlassen, tut Ruth genau das. Doch während sie an einer Füllmasse arbeitet, mit der sie das Loch stopfen möchte, plant die ganze Stadt ein Fest, um das Loch als Touristenattraktion einzuweihen. Und als Ruth sich immer tiefer in die Geschichte von Gross-Einland eingräbt, findet sie ein ganzes Netz von Schweigen und Verschwörungen, welches mit dem Zweiten Weltkrieg zusammenhängt.
Neben der Gräfin (die einer robusteren, nicht so weltfremden Miss Havisham gleicht) flanieren auch Dutzende fantastischer Figuren durch Das flüssige Land, nicht zuletzt Ruth selbst. Wie auch andere Aspekte des Romans – Postkarten-Dorfhäuser, Jagdtrophäen, Tracht – sind Edelbauers Figuren allesamt in der spezifischen Realität des modernen ländlichen Raums verwurzelt, stammen aber gleichzeitig aus einer nicht näher definierten Epoche. Der Roman hinterlässt bei der Leserin das verwirrende Gefühl, völlig außerhalb der Zeit zu stehen.
Der Zweite Weltkrieg ist in Österreich irgendwie allgegenwärtig, es wird aber sehr oft einfach nicht angesprochen. Die Literatur versucht seit langem, gegen den Strich dieser allgemeinen Amnesie zu wirken; Edelbauer übernimmt mutig diese Rolle für ihre Generation. Es ist zwar nicht das erste Mal, dass eine österreichische Autorin den größten Konflikt des 20. Jahrhunderts durch die Linse des Surrealismus betrachtet, jedoch wird dieses Romandebüt in eine ganz eigene Liga gehoben, dank Edelbauers scharfer Ironie, aberwitziger Figuren und ihres meisterhaften Einsatzes von Spannung. In seiner einzigartigen, leicht beängstigenden, absolut absurden Art ist Das flüssige Land ein erschreckend haargenaues Bildnis des heutigen Österreichs.
Über die Autorin
Eleanor Updegraff liest extrem gerne, besonders übersetzte Literatur. Sie ist Ghostwriterin, Übersetzerin aus dem Deutschen, Lektorin und Buchrezensentin, sowie Autorin von Kurzgeschichten und Essays. Sie ist in Großbritannien aufgewachsen und wohnt nun seit 2015 in Österreich. Wenn sie nicht gerade liest, sitzt sie im Kaffeehaus oder läuft um einen österreichischen See herum.Londoner Bibliothek: Reservieren Sie sich den deutschen Originaltitel Das flüssige Land.
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