Ljudmila Ulitzkaja
„Freiheit ist etwas sehr Persönliches. Sie bedeutet für jeden Menschen etwas Anderes“

Erzähle mir von Europa - Lyudmila Ulitzkaja
© privat/Dimitry Rozhkov | Tobias Schrank

Ljudmila Ulitzkaja (geb. 1943 in Dawlekanowo) ist Autorin, Drehbuchautorin und Übersetzerin. Für ihre Werke bekam sie in verschiedenen Ländern internationale Auszeichnungen und Nominierungen, darunter den Russischen Booker-Preis. Das Interview führte der 1990 in Nowosibirsk geborene Journalist und Übersetzer Nikita Velichko. Er studierte Wirtschaft und politischen Journalismus an der Fakultät für angewandte Politikwissenschaft der National Research University Higher School of Economics.

Velichko: Was ist Ihre erste Erinnerung?

Ulitzkaja: Ein Moskauer Hinterhof. Ziemlich ärmlich und heruntergekommen. Auf dem Hof standen zwei Baracken. Dort lebten vor allem Menschen, die nach dem Krieg nach Moskau gekommen waren.

Velichko: Sie haben in einer Gemeinschaftswohnung gelebt. Wie kamen Sie mit den Nachbarn zurecht?

Ulitzkaja: Sehr gut. Meine Mutter war eine wunderbare Frau und hatte einen ausgesprochen guten Charakter. Sie war freundlich, fröhlich und warmherzig. Natürlich gab es in unserer Gemeinschaftswohnung auch Reibereien, doch meine Mutter war immer diejenige, die die Wogen wieder glättete.
Doch meine Eltern hatten auch viel Angst: Angst vor dem Staatsapparat, Angst vor Denunziation. Oder zum Teil auch vor Nachbarn, die ihnen wirklich schaden konnten, wenn sie sie anzeigten. Unsere Familie hatte immer unter der Staatsmacht zu leiden. Wir konnten sie nicht ausstehen. Mein Vater war Parteimitglied, mein Großvater hat ihn dafür ausgelacht. Illusionen hatten wir keine.

Velichko: Ihr Großvater väterlicherseits schrieb viele Bücher. Und Ihre Urgroßmutter mütterlicherseits verfasste Gedichte auf Jiddisch. Ihre Mutter war Biochemikerin, Ihr Vater Ingenieur. Hatten Sie als Kind eine besondere Vorliebe für die Wissenschaft oder die Literatur?

Ulitzkaja: Nun, ich wollte Biologin werden. Meine Mutter war Biochemikerin, und das Gebiet faszinierte mich sehr. Aber es kam anders.

Velichko: Wissen Sie noch, in welchem Alter oder zu welchem Zeitpunkt Sie beschlossen haben, Biologie zu studieren?

Ulitzkaja: Ich habe schon immer gewusst, dass ich das wollte, denn ich war begeistert vom Labor meiner Mutter. Magisches Glas, bunte Lösungen, die verschiedenen Utensilien, die Vivarien… Und dann hatte ich all das selbst, wenn auch nicht für lange.

Velichko: Wollten Sie nach dem Studium eine wissenschaftliche Karriere einschlagen?

Ulitzkaja: Ja, natürlich wollte ich in die Wissenschaft gehen. Als ich mein Studium abgeschlossen hatte, arbeitete ich zwei Jahre als wissenschaftliche Mitarbeiterin in einem Institut für Genetik. Doch dann wurde unser ganzes Laboratorium aufgelöst.

Velichko: Irgendwo heißt es – ich weiß nicht, ob es stimmt oder nicht – dass Ihnen vorgeworfen wurde, Sie hätten Samisdat-Literatur, also illegal verlegte Literatur, gelesen und kopiert.

Ulitzkaja: Nun ja, genau deshalb wurde das Labor aufgelöst. Dort gab es viele junge Leute, die gerne lasen, also wurde das Labor kurzerhand geschlossen. Doch niemand musste ins Gefängnis, dafür bin ich dankbar. Wir gaben einer Schreibkraft einen verbotenen Roman zum Abtippen, und entweder sie selbst oder jemand aus ihrer Verwandtschaft ging zum KGB und denunzierte uns. Wenn Sie so wollen, können Sie mich als Dissidentin bezeichnen. Ich habe mich nie als eine gesehen. Aber ich war bekannt und befreundet mit Menschen aus dieser Bewegung. Und ich habe ihnen jede Art von Unterstützung gegeben, wenn sie sie brauchten.

Velichko: In Ihrem Buch „Daniel Stein“ sagt einer der Helden: „Mein Leben lang beschäftigt mich das Thema der persönlichen Freiheit. Sie erschien mir immer als das höchste Gut.“ Ist das auch Ihre Meinung?

Ulitzkaja: Freiheit ist etwas sehr Persönliches. Für den einen Menschen bedeutet sie das eine, für einen anderen etwas anderes. Und in verschiedenen Lebensabschnitten sieht sie unterschiedlich aus. Für ein Kind, das im Kindergarten spielt, liegt die Freiheit auf der anderen Seite des Zauns.
Ich habe das Gefühl, ein freier Mensch zu sein. Nichts hält mich zurück, nichts engt mich ein. Und es gibt nichts, was ich haben möchte, tun, essen oder anschauen möchte, aber nicht kann, weil mir die Freiheit dazu fehlt. Ich kann heute alles tun. Vielleicht fehlt mir das Geld, um zum Beispiel nach Mexiko zu fahren und die Bühnenpremiere eines bekannten Regisseurs zu sehen, denn das wäre schon sehr teuer. Aber im Prinzip verspüre ich überhaupt keinerlei Einschränkungen.

Velichko: Das war sicher nicht immer so...

Ulitzkaja: Zu Sowjetzeiten gab es überall Verbote. Heute glaubt uns kein Mensch, wie viele es waren. Es gab sehr viel mehr Einschränkungen verschiedenster Art. Zum Beispiel konnten gläubige Menschen nicht zur Kirche gehen, weil jemand davon erfahren könnte, sie anzeigen könnte und sie dann ihren Arbeitsplatz verloren hätten. Aber mich betraf das nicht besonders. Ich war nicht lange fest angestellt. So gesehen hatte ich [sc. nach der Schließung des Labors] mehr Freiheiten. Ich musste mein Verhalten nicht vom Parteikomitee messen lassen, nicht von der Gewerkschaft und nicht von Vorgesetzten. Verstehen Sie, ich habe mich sehr früh aus der Gesellschaft zurückgezogen. Genau deshalb, weil ich nicht lügen und mich nicht verstellen wollte.

Velichko: Zurück zu Ihrer Biografie: Was taten Sie nachdem das Labor geschlossen worden war?

Ulitzkaja: Neun Jahre lang habe ich gar nicht gearbeitet. Ich hatte einen Ehemann, bekam ein Kind, dann noch eins. Ich las Bücher. Dann habe ich wieder angefangen zu arbeiten, aber nicht in der Biologie sondern am Theater. Damals habe ich auch einige Theaterstücke geschrieben. Die Liebe zum Theater ist mir geblieben.

Velichko: Wann veröffentlichten Sie ihr erstes Buch?

Ulitzkaja: Mein erstes Buch kam 1993 heraus. Auf Französisch, nicht auf Russisch, bei Gallimard, ganz zufällig. Auf Russisch wurde es 1994 veröffentlicht.

Velichko: Wie kam es denn dazu, dass Ihr erstes Buch auf Französisch veröffentlicht wurde?

Ulitzkaja: Damals arbeitete meine Freundin in Frankreich. Sie nahm das Manuskript mit und zeigte es einer Übersetzerin, die sie kannte und die für den Verlag Gallimard arbeitete. Die Übersetzerin mochte das Manuskript und brachte es zu Gallimard. Und dann bekam ich einen Vertrag per Post, der mich wirklich umwarf. In Russland hatte ich schon verschiedene Veröffentlichungen in Zeitschriften. Und hier kam jetzt dieser berühmte französische Verlag zu mir und wollte mein Buch veröffentlichen! Das war natürlich toll.

[Europa war damals] sehr weit weg und höchstwahrscheinlich gar nicht existent. Aus dem Reich der Fantasie. Es war unvorstellbar, ja undenkbar, irgendwann Paris, London oder New York mit eigenen Augen zu sehen.

Ljudmila Ulitzkaja

Velichko: Wie haben Sie als Kind Europa wahrgenommen?

Ulitzkaja: Mit Europa war es so ähnlich wie mit den Geschichten von Dumas: sehr weit weg und höchstwahrscheinlich gar nicht existent. Aus dem Reich der Fantasie. Es war unvorstellbar, ja undenkbar, irgendwann mit eigenen Augen Paris, London oder New York zu sehen.

Velichko: Und wie haben Sie Europa empfunden, als Sie Ihre ersten Reisen dorthin unternahmen?

Ulitzkaja: Für mich begann Europa mit Paris, im Jahr 1990. Ich hatte das Gefühl, zwischen Postkarten unterwegs zu sein, so fremd war mir die Stadt zunächst. Später aber, als ich häufiger dort war, wurde Paris natürlich freundlicher und interessanter. Ich fand auch Freunde. Eine Stadt besteht ja nicht nur aus Gebäuden sondern vor allem aus Menschen.

Velichko: Worin zeigte sich der Unterschied zu der Lebenswelt, die Sie kannten?

Ulitzkaja: Es gab überhaupt keine Gemeinsamkeiten. Wir lebten in armseligen Verhältnissen und in Gemeinschaftswohnungen. Auf der einen Seite des Tisches lagen die Doktorrecherchen der Eltern, auf der anderen stand die Bratpfanne. Es gab nur ein Zimmer. Alle lebten damals so.

Velichko: War die UdSSR zu irgendeinem Zeitpunkt europäisch?

Ulitzkaja: Nein, nie. Es gab eine russische Kultur, die natürlich deutlich enger mit Europa verbunden war als die sowjetische Kultur. Von klein auf habe ich Pasternak sehr geliebt, und er war zweifelsfrei Europäer. Er hatte in Deutschland Philosophie studiert. Seine Sprachkenntnisse waren hervorragend. Die russische Literatur des Silbernen Zeitalters ist natürlich eigenständig, doch mit einem guten Maß europäischen Backgrounds ist sie einfach großartig. In gewisser Hinsicht ist die sowjetische Literatur als klarer kultureller Abstieg zu betrachten. Allerdings gibt es auch dort Interessantes. Letzen Endes war die russische Avantgarde doch eine höchst bemerkenswerte und durch und durch russische Erscheinung. Aber Europa sind wir nicht nähergekommen.

Velichko: Bis heute.

Ulitzkaja: Ja.

Velichko: In den 90er Jahren waren Sie außerdem in Deutschland. Was haben Sie dort getan?

Ulitzkaja: Ich habe gearbeitet, meine Bücher geschrieben. Im Rahmen von Stipendien wurde viel Geld dafür ausgegeben, Autoren nach Deutschland zu bringen und ihnen die Möglichkeit zum Arbeiten zu geben. Dafür bin ich sehr dankbar. Meine Bücher aus den 90er Jahren bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts habe ich zum größten Teil in Deutschland geschrieben.

Velichko: Scheinen Ihnen die europäische Städte auch heute noch aus dem Märchenreich zu kommen?
 
Ulitzkaja: Sehen Sie, wir müssen die Welt heute global betrachten. Die Jugend von heute, die ich wirklich sehr mag, das sind Menschen, die sich aussuchen, wo sie am liebsten arbeiten möchten. Sie haben Sprachkenntnisse und lernen neue Sprachen sehr leicht. Ich sehe diese moderne Jugend überall auf der Welt. Sie studieren auch, wo immer sie möchten.
Insgesamt bin ich froh und zuversichtlich, wenn ich mir die jüngere Generation ansehe, die viel weniger aggressiv ist als unsere und viel gebildeter. Und viel freier. Ich wünsche uns allen von ganzem Herzen, dass sich etwas bewegt.

Velichko: Ljudmila Jewgenjewna, vielen Dank, dass Sie sich Zeit genommen haben.

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