Zehntausende demonstrieren in Deutschland seit Monaten für Europa, zum Beispiel bei den Kundgebungen von „Pulse of Europe“. Sie wollen ein Signal senden: Uns Bürgern ist Europa wichtig.
Seit Monaten gehen jeden Sonntag Zehntausende Menschen in Deutschland auf die Straße. Das Besondere: Sie demonstrieren für etwas, nicht dagegen. Und dann auch noch für etwas, das auf den ersten Blick ziemlich abstrakt erscheint, institutionell und weit weg: die Europäische Union (EU). Aber die Leute kommen, egal ob es stürmt oder schüttet wie aus Eimern, sie lassen blaue Luftballons steigen, bilden Menschenketten und sprechen in Mikrophone, was sie an Europa lieben. Ihre Bewegung heißt „Pulse of Europe“. Längst machen nicht mehr nur Deutsche mit, sondern bis April 2017 Menschen in 120 Städten in 13 EU-Mitgliedsstaaten. Warum?
Der Gründer der Bewegung, der Frankfurter Jurist Daniel Röder, wollte zwei Dinge erreichen, als er Ende 2016 zur ersten Kundgebung aufrief. Zum einen waren er und seine Frau geschockt von der Wahl Donald Trumps zum amerikanischen Präsidenten; der Brexit steckte ihnen noch in den Knochen. Für Europa zu demonstrieren – das sollte ihnen selbst und anderen Mut machen und das Gefühl stärken, nicht allein zu sein. Zum anderen wollte Röder ein Signal an deutsche und europäische Politiker senden: Uns Bürgern ist Europa wichtig, hört nicht auf, dafür zu kämpfen – wir machen mit!
Von 200 auf 40.000 Teilnehmer
Röder, Mitte vierzig, war vorher nie auf Demonstrationen gewesen und gehört auch keiner Partei an. Aber nun wollte er sich sichtbar zu Europa zu bekennen. So geht es vielen, die zu den „Pulse of Europe“-Kundgebungen kommen. Gerade den Jüngeren. Wer sie fragt, ob sie bisher schon politisch aktiv waren, bekommt oft Antworten wie: „Nein, aber jetzt habe ich zum ersten Mal in meinem Leben Angst, dass es Krieg in Europa gibt.“ Oder: „Nein, bisher schien es mir selbstverständlich, dass es die EU gibt, das ist jetzt anders.“ Oder: „Nein, aber ich habe Angst, dass Europa auseinanderbricht, dagegen will ich was tun.“
„Pulse of Europe“ ist in kurzer Zeit sehr groß geworden. Waren bei der ersten Kundgebung noch 200 Leute dabei, sind es nun jede Woche rund 40.000. Viele Teilnehmer loben, dass die Bewegung von Bürgern selbst ins Leben gerufen wurde und von keiner Partei oder Behörde kommt. Das erleichtere es ihnen, mitzumachen. Auch der lockere Rahmen gefällt ihnen. Wer zur wöchentlichen Demonstration kommen will, kommt; wer mal keine Zeit hat, kommt halt nicht. In den sozialen Netzwerken kann jeder unter dem Hashtag #pulseofeurope nachschauen, was er verpasst hat. Und jeder weiß, dass er auf der Straße nicht die Probleme lösen muss, die es in Europa auch gibt. Er kann erst einmal nur seine Sympathie mit dem geeinten Europa zeigen.
Das Gute in Europa sehen
Auch in anderen Ländern haben junge Leute das Bedürfnis, das zu tun. In London gingen im März 2017 Zehntausende auf die Straße, um den Brexit abzuwenden. Die Bewegung „European Movement United Kingdom“ will den Kampf noch nicht aufgeben. Und die proeuropäische Kampagne „The European Moment“, an der unter anderem die „Junge Europäische Bewegung“ und „Stand Up for Europe“ beteiligt sind, rief zu Sonderkundgebungen vor der Wahl in Frankreich auf. Die Teilnehmer eint der Wunsch, in einem Europa zu leben, dessen Geschicke nicht von Nationalisten bestimmt werden.
„Pulse of Europe“-Gründer Daniel Röder ist selbst überrascht vom Erfolg seiner Idee. Er hatte zwar von Anfang an gehofft, einer bis dahin „schweigenden Mehrheit“ Gehör zu verschaffen; wie viele dann aber tatsächlich mit ihm auf die Straße gingen, erstaunt ihn immer noch. Er freut sich darüber, wie viele Menschen ihm sagen, was ihnen die Kundgebungen bedeuten. Vor allem nämlich, Teil einer großen Gemeinschaft zu sein, die in einem geeinten Europa, neben allen Schwierigkeiten, vor allem das Gute sieht. Und die auch sichtbar wird, während nationalistische Bewegungen an Bedeutung verlieren.
Von Anfang an wollte Röder seine Kundgebungen mindestens bis zum zweiten Wahlgang in Frankreich auf die Straße bringen. Und danach? Die Proeuropäer wollen nicht einfach wieder unsichtbar werden. „Pulse of Europe“ stellt vom 7. Mai 2017 an auf einen neuen Rhythmus um: Es wird nicht mehr wöchentlich, sondern an jedem ersten Sonntag im Monat demonstriert. Weil es, auch wenn gerade keine Wahl ansteht, immer Gründe gebe, sich für Europa stark zu machen.
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Foto (Ausschnitt): © Friederike Haupt
Christian Wilhelm, 37 Jahre, Berlin
„Auf der Kundgebung von „Pulse of Europe“ möchte ich zeigen, dass ich für Europa bin. Und auch im Alltag: deswegen hab ich mir in Kreuzberg das Europa-Sweatshirt gekauft. Ich finde schön, dass Deutschland zu Europa gehört; zusammen sind wir viel stärker als einer allein. Europa ist Teil meiner Identität, das habe ich schon gemerkt, als ich Zivildienst in Ungarn gemacht habe. Die Griechenlandkrise ging mir dann emotional nahe. Und jetzt beschäftigen mich der Brexit und die Frankreich-Wahl sehr.“
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Foto (Ausschnitt): © Friederike Haupt
Johann von Alversleben, 16 Jahre, Berlin
„Ich gehe in die zehnte Klasse, da haben wir grade die Europäische Union durchgenommen. Aber ich interessiere mich auch privat sehr dafür; mit meiner Familie reise ich jedes Jahr in eine andere europäische Großstadt, um Europa besser kennen zu lernen. Gerade erst waren wir in London. Ich glaube, momentan ist es extrem wichtig, Flagge für Europa zu zeigen, gegen die Nationalisten. Sie sollen nicht bestimmen, wie es mit Europa weitergeht. Für Deutschland ist es extrem wichtig, in der EU zu bleiben.“
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Foto (Ausschnitt): © Friederike Haupt
Johanna von Hellfeld (links) und Mia Schneemelcher, beide 25 Jahre, Bonn
„Europa bedeutet für uns maximale Reisefreiheit. Unvorstellbar, vor geschlossenen Grenzen zu stehen. Nach dem Abitur waren wir zusammen in Spanien und waren da mit einer Erasmus-Clique unterwegs. Jetzt machen sich viele in unserem Freundeskreis Sorgen um Europa. Deshalb muss man zeigen, wofür man einsteht. Und wir gehen lieber oldschool auf die Straße, als Stimmung im Netz zu machen.“