Független Színház
Unabhängigkeit und Nachhaltigkeit beim Unabhängigen Theater Ungarn

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© Goethe-Institut Budapest | Elekes Réka

Vor beinahe zwanzig Jahren beschloss ich, mich aus einer breiteren Perspektive mit dem Theater zu beschäftigen und nicht unbedingt als angestellter Schauspieler zu arbeiten. Ich nahm mir vor, Theaterinszenierungen aus eigener Produktion zu schaffen, in denen auch solche Roma-Held*innenfiguren und -Geschichten vorkommen, die mir bis dato in den Aufführungen der etablierten Theater nirgends begegnet waren – stattdessen fanden sich dort bloß negative und stereotype Charaktere und Storys. Zu jener Zeit war es mir nicht einmal in den Sinn gekommen, dass jemand meine Arbeit unterstützen sollte. Da ich meine erste Aufführung – „De jaj!“ (Oh weh!) – mithilfe eines Bankkredits realisierte, musste diese reüssieren nicht um der Erwartungen irgendwelcher Unterstützer*innen willen, vielmehr war es mein eigenes existenzielles Interesse: Ich musste das Stück zum Erfolg führen, es viele Male spielen, ich musste Einkommen generieren, damit ich den Kredit zurückzahlen, das Personal bezahlen und weiterarbeiten konnte. Die aus Roma-Märchen gewobene und mit Liedern angereicherte Aufführung lief tatsächlich gut; die Säle waren voll und es gab jede Menge Einladungen. Mit der nächsten Aufführung – „Mirad, egy fiú Boszniából” (Mirad, ein Junge aus Bosnien) – gingen wir dann auf die Problematik ein, wie Nachbarn und Verwandte während der Balkankriege durch Hasspropaganda zu Feind*innen werden konnten. Auch bei diesem Thema vermutet man nicht gerade einen Kassenschlager, aber ich dachte mir, dass es hierzulande bald zu ernsthaften Spannungen zwischen Roma und Nicht-Roma kommen könnte, und dass auf diese Gefahr hingewiesen werden muss. Nicht lang nach der Uraufführung ereignete sich dann der Lynchmord von Olaszliszka, und in der Tat haben sich die ethnischen Spannungen verschärft. Das Theater muss also nicht nur aus finanzieller Sicht nachhaltig sein, sondern es muss meiner Meinung nach auch dazu beitragen, die Welt, in der wir leben, nachhaltiger zu gestalten – und dazu, dass wir uns, wenn möglich, nicht gleich gegenseitig an die Kehle springen, sondern fähig sind, gemeinsam über Probleme nachzudenken, die uns betreffen.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte unser Theater nicht einmal einen Namen – geschweige denn eine Strategie, was man von einer langfristig denkenden Kunst-Initiative wohl erwarten könnte. Der Vater meines Schauspieler-Kollegen Gábor Jászberényi, Sándor Bugyi, hatte jedoch eine Website für uns erstellt, und die Website benötigte eine URL und eine Adresse: So taufte er unsere Formation auf den Namen „Független Színház Magyarország“ (Unabhängiges Theater Ungarn). (Die außerhalb der etablierten Theaterstruktur arbeitenden Formationen, die heute als „unabhängige Theater“ bezeichnet werden, wurden zu jener Zeit noch „alternative Theater“ genannt.) Von dieser Namensgebung erfuhr ich erst, als er mir sagte, er würde uns nun die Homepage übergeben. So hat uns letzten Endes ein Zuschauer unseren Namen gegeben, der nicht nur begeistert im Theatersessel saß, sondern uns um einen Namen und eine Website bereichert hat. Ich denke, dass unser Theater ohne solche echten Fans und Unterstützer*innen – zusätzlich zu den fachlichen und finanziellen Investitionen – gar nicht hätte nachhaltig funktionieren können. Wir hätten schon längst schließen müssen, gäbe es um uns herum keine Menschen, die sinnvolle Beiträge zu unserer Arbeit leisten.

Meiner Meinung nach kann nicht von Nachhaltigkeit in der Kultur die Rede sein, wenn wir nicht genügend Ressourcen und Energie in die Bildung des Nachwuchses investieren.

Das war vor 16 Jahren; seitdem haben wir einen Namen. Allerdings musste ich mich auch mit der Tatsache auseinandersetzen, dass auf dem heimischen Kulturmarkt nicht nur Roma-Dramen und Roma-Held*innenfiguren fehlen, sondern dass es auch recht wenige Roma-Schauspieler*innen gibt. Ich wollte in einem Ensemble tätig sein, in dem Roma und Nicht-Roma zusammenwirken, Geschichten und Ideen austauschen und damit gar ein Beispiel dafür liefern, dass man auch auf diese Weise arbeiten kann – auch weil ich denke, dass Vielfalt viel mehr Spaß macht. Um Mitarbeiter*innen zu haben, musste ich zunächst damit beginnen, selbige auszubilden. Meiner Meinung nach kann nicht von Nachhaltigkeit in der Kultur die Rede sein, wenn wir nicht genügend Ressourcen und Energie in die Bildung des Nachwuchses investieren. Im Theaterstück „Tollfosztás“ (Federrupfen) habe ich mich als Erster mit den Roma-Morden von 2009 und den Diskriminierungsfällen und Hassverbrechen der zwanzig Jahre davor auseinandergesetzt – und zwar aus der Perspektive von Kindern. Vier Monate lang haben wir mit fünf Schauspieler*innen und dem ebenfalls jungen Regieassistenten 15 Stunden pro Woche zusammengearbeitet – und dabei wurde nicht nur geprobt, sondern es wurden auch die Grundlagen des Schauspielens erlernt. Von den dort Beteiligten verfolgen Emília Boda-Novy (damals noch Lovas) und Tamás András Szegedi seitdem eine aktive Theater-Laufbahn und arbeiten auch heute noch mit uns zusammen. Edmond Oláh (bekannt als Mizó) arbeitete später unter anderem in der Formation „Tudás Hatalom“ (Wissen Macht).

Eine wichtige Voraussetzung für Nachhaltigkeit ist wohl der organisatorische und institutionelle Hintergrund. Aber das Független Színház war keine juristische Person. Jahrelang wurde seine finanzielle und rechtliche Vertretung von einem soziokulturellen Unternehmen, der Kommanditgesellschaft „Multikulti 2009 Bt.“, übernommen. Wir hatten daran geglaubt, dass es möglich sei, ein Theater auf unternehmerischer Basis zu betreiben, und Soziale Unternehmen waren damals sehr in Mode. Es gab Forschungen zu uns, die zu dem Ergebnis kamen, wir seien eines der finanziell profitabelsten Sozialunternehmen des Landes. Ganz so war es allerdings nicht, da damals neben den Markterlösen schon immer mehr Fördergelder auf der Einnahmenseite verbucht werden konnten.

Als die Sponsor*innen auftauchten, wurde uns klar, dass wir als Einzelpersonen oder als Unternehmen für vielerlei Formen der Unterstützung nicht mehr infrage kommen konnten. So wurde nach der Kommanditgesellschaft die Nichtregierungsorganisation „Nők a Jövőért Egyesület“ (Verein Frauen für die Zukunft) unsere Trägerin und sie blieb es bis heute. Wenn ich schon das Thema Sponsoring erwähne, ist es wichtig anzumerken, dass wir von Anfang an ausgeschlossen hatten, staatliche oder kommunale Zuschüsse anzunehmen – unabhängig von deren jeweils aktueller Couleur. In den Kreisen der Minderheitenkultur wussten wir genau, dass eine Handvoll Roma-Ensembles weniger Geld bekämen, wenn wir uns ebenfalls um diese Subventionen bewürben. Außerdem hatten wir bei den alternativen Theatern schon vor 2010 einen feindseligen Kampf um Subventionen miterlebt, an dem wir uns ungern beteiligt hätten. Übrig blieben für uns also die ausländischen Geldgeber*innen, die privaten Stiftungen und Spender*innen.

Für die EU- und für andere internationale Fonds wäre eine winzige Roma-Initiative natürlich nicht überzeugend genug gewesen. Den ersten Anstoß in diese Richtung erhielten wir von der Badur Foundation und einer ihrer Kuratorinnen, Judit Durst, die bei uns zunächst eine Aufführung in London in Auftrag gab und dann immer mehr unserer Initiativen unterstützte. Sie sah ganz klar, dass sich die Bildung und Talentförderung benachteiligter junger Menschen sowie Theateraufführungen mit gesellschaftlichen Themen niemals selbst werden tragen können – im Kontrast dazu, wie es oft diejenigen sehen wollen, die an den Mythos des sozialen Unternehmer*innentums glauben. Ebenso kamen wir nach einiger Zeit mit ihr gemeinsam zu der Einsicht, dass wir auch auf andere Quellen zurückgreifen müssen – und dass es nicht gut ist, wenn unser Betrieb einzig von der Badur Foundation als Haupt-Mäzenin abhängig ist. Für die Entwicklung in diese Richtung wurde uns ein mehrjähriger Förderrahmen eingeräumt, und sie haben uns auch dabei geholfen, an die Selbstständigkeit zu glauben und die dafür nötigen Fähigkeiten zu erwerben. Nach etwa zehn Jahren schließlich, im Jahr 2023, haben wir die Sponsor*innen-Beziehung mit ihnen beendet. Erwartet ein*e Sponsor*in von einem Projekt oder einer Organisation, in zwei bis drei Jahren Wunder zu vollbringen und sich selbst zu tragen, dann wäre dabei auch zu bedenken, dass vielleicht die Möglichkeit bestünde, eine Initiative langfristig erfolgreich und effektiv zu machen – vorausgesetzt, dass dies das wirkliche Ziel ist und nicht bloß die Beibehaltung des Status quo.

Kommen wir aber nach den finanziellen und organisatorischen Themen zurück zum fachlichen Bereich, der mich immer viel mehr interessierte. Mitte der 2010er Jahre hatten wir bereits Aufführungen und Mitarbeiter*innen, jedoch fühlten wir uns zugleich ziemlich isoliert. Als ich 2015 von der deutschen Kulturstiftung des Bundes eingeladen wurde, die Leitung des Bereichs Theater und Drama eines großen internationalen Archivs für die Kunst der Sinti und Roma zu übernehmen, und als ich begann, die europäischen Roma-Theater aufzuspüren, war es eine sehr positive Überraschung, dass wir keineswegs allein waren: In vielen europäischen Ländern gibt es professionelle Roma-Theaterformationen – allerdings meist ohne Infrastruktur und institutionelle Unterstützung. Darüber hinaus hat das Roma-Theater aber auch eine Vergangenheit – das Roma-Theater „Romen“ in Moskau beispielsweise besteht seit den 1930er Jahren. Es bildet aber die Ausnahme: Das von Stalin geschaffene und von Putin aufrechterhaltene Theater verfügt über ein riesiges Gebäude und über signifikante staatliche Unterstützung – allerdings werden hier nur Musik-Shows und Tanzaufführungen gegeben, die keinerlei sozialen oder politischen Inhalt haben. Obwohl meine Arbeit im Archiv ziemlich schnell endete, führen wir die Mission, die wir dabei begonnen haben – die Werte des europäischen Roma-Theaters zusammenzuführen und zu präsentieren –, seitdem weiter. Seit 2017 veranstalten wir regelmäßig das internationale Theaterfestival „Roma Heroes“ – das erste internationale Roma-Theatertreffen in der EU –, und wir übersetzen die hier vorgestellten Stücke und zeichnen die Aufführungen auf Video auf, damit die kulturellen Werte nicht nur denjenigen zur Verfügung stehen, die an einem bestimmten Abend im Zuschauer*innenraum des Theaters sitzen, sondern auch weiter entfernt lebenden Personen und späteren Generationen. Im Jahr 2022 haben wir eine digitale Sammlung europäischer Roma-Theater und -Dramen erstellt, die unter romaheroes.org erreichbar ist. Ich denke, wenn wir über die Nachhaltigkeit von Kultur und Theater sprechen, sollten wir auch nicht vergessen, was das Theater späteren Generationen bieten wird, oder ob wir Kultur zu denen transportieren können, die zu den kulturellen Räumen aus verschiedenen Gründen keinen Zugang haben.

Kultur wird nur dann nachhaltig und lebendig, wenn wir sie nicht nur bewahren und jungen Menschen präsentieren, sondern wenn die Jugendlichen auch selbst die Möglichkeit bekommen, eine Verbindung dazu aufzubauen, die Werte infrage zu stellen.


Basierend auf den erstellten Videos und Ausschnitten aus Theaterstücken haben wir eine pädagogische Methodik erarbeitet und damit bereits viele Workshops durchgeführt, die auch Roma- und Nicht-Roma-Jugendliche erreichten, die zwar nicht bei den Festivals anwesend waren, aber auf diese Weise trotzdem mit den Geschichten in Berührung kommen konnten. In diesen Workshops erkunden wir, was eine*n Heldin*en ausmacht und wodurch der Weg dorthin gekennzeichnet ist. Danach lernen wir Roma-Dramen aus verschiedenen Ländern kennen und diskutieren darüber mit den Teilnehmer*innen. Anschließend werden die eigenen Held*innen sowie die Held*innentaten der Teilnehmer*innen vorgestellt, und aus den Geschichten, die sie miteinander geteilt haben, werden künstlerische Produkte geschaffen. Ich denke, Kultur wird nur dann nachhaltig und lebendig, wenn wir sie nicht nur bewahren und jungen Menschen präsentieren, sondern wenn die Jugendlichen auch selbst die Möglichkeit bekommen, eine Verbindung dazu aufzubauen, die Werte und sogar das Held*innentum einer dramatischen Held*innenfigur infrage zu stellen; wenn sie darüber diskutieren können, was sie selbst an der Stelle einer solchen Figur tun würden; wenn sie den*die Helden*in und das Wertvolle in sich selbst und in ihren Mitmenschen entdecken können; wenn auch die Roma-Teilnehmer*innen das Gefühl haben, dass es sehr wohl Dinge gibt, auf die sie stolz sein können – auf die Dramen, die dramatischen Held*innenfiguren, die Eltern oder sogar auf sich selbst; und wenn die Nicht-Roma-Teilnehmer*innen nicht nur das Gefühl haben, sie mögen sich doch schämen, weil sie privilegiert sind, sondern auch sie durch positive Erfahrungen bereichert werden, indem sie das Wertvolle in sich selbst und in der Roma-Kultur und -Gemeinschaft oder gar in dem*der Trainer*in erkennen. Das bedeutet natürlich nicht, dass in den Workshops oder Roma-Dramen ein rosiges Bild von unserer Geschichte und Gegenwart gezeichnet wird. Im Gegenteil: Wir zeigen, dass es in Schweden und der Schweiz noch in der jüngeren Vergangenheit (biologische) Völkermord (durch Sterilisierungen und Trennungen von Familien) gegeben hat, dass der Zwang zur Frühverheiratung in vielen rumänischen Roma-Gemeinschaften noch immer als Institution existiert, oder dass vom Balkan stammende Roma, die in Italien oder Deutschland geboren sind und die dortige Landessprache als Muttersprache sprechen, oft mit der Gefahr konfrontiert werden, aus dem Land abgeschoben zu werden, das sie für ihr Zuhause halten.

Wir haben mehrere Partnerschaften mit Theaterleuten aus dem Ausland aufgebaut und gemeinsame Bildungsprogramme entwickelt, neue Aufführungen kreiert und im Austausch in unseren jeweiligen Ländern präsentiert. 2017 hatte es nur hier bei uns ein internationales Roma-Theatertreffen gegeben; in den darauffolgenden sieben Jahren aber fanden Festivals auch in Österreich, Rumänien, Tschechien, der Slowakei und in Italien statt. Wir meinen, dass wir dazu einen wichtigen Beitrag geleistet haben.

Wir halten es in unserer künstlerischen Arbeit für wichtig, Situationen aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten und nicht nur schwarz-weiße Charaktere darzustellen, um die Ähnlichkeiten und die gemeinsamen Angelegenheiten sowie die alltäglichen menschlichen Geschichten von Roma- und Nicht-Roma-Menschen zu zeigen, und nicht nur die Roma und ihre spezifische Situation.

Nachhaltigkeit ist vielleicht am ehesten in uns selbst verwurzelt: Wenn wir uns selbst daran glauben, dass wir in schwierigen Situationen fähig sind, Entscheidungen zu treffen und Verantwortung zu übernehmen, dass wir in unserem engeren und weiteren Umfeld Veränderungen herbeiführen können – so wie die Held*innenfiguren aus den Dramen oder jede*r aktive Bürger*in.

 

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