Abwanderung
Was bedeutet „weit weg“?

An der Landesstraße 67…
An der Landesstraße 67… | Foto: Dóri Pilinszky

An den Hängen des Zselic-Gebirges gelegen, scheint Szentlászló auf den ersten Blick ein genauso ruhiges, in die Jahre gekommenes, kleines Dorf zu sein, wie wir es überall im Land finden können. Während die Verengung der Möglichkeiten viele junge Menschen vertreibt, fühlen sich einige überraschenderweise sehr vom Einsiedler-Dasein auf dem Land angezogen.

Das nie dagewesene „goldene Zeitalter“

In Szentlászló wohnen etwa 820 Menschen. Seit dem Systemwechsel ist die Einwohnerzahl um hundert Personen gesunken; allerdings hatte der Bevölkerungsrückgang schon in den 1950er Jahren begonnen, und die massivste Veränderung in diese Richtung war auch nicht in den vergangenen Jahrzehnten zu beobachten, sondern bereits in den 1960er Jahren.

Bushaltestelle Szentlászló
Früher standen die Menschen hier morgens Schlange | Foto: Dóri Pilinszky
Im Vergleich dazu gelten die 1970er Jahre im lokalen Gedächtnis als die „goldenen Zeiten“, als man die „Stärke“ der Siedlung dadurch definierte, dass „fast tausend Menschen“ im Dorf wohnhaft waren. Morgens brachten vier bis fünf Busse die Arbeitnehmer*innen, die in langen Schlangen an der Haltestelle warteten, nach Pécs, zu den Standorten des Bauunternehmens des Komitats Baranya und zu denen von „Mezőgép“, bzw. nach Szigetvár zur Konservenfabrik und zur Schuhfabrik.

Zur damaligen Zeit gab es auch vor Ort mehrere Beschäftigungsmöglichkeiten: Fast alle waren Mitglied in der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft, und auch eine Schuhfabrik am Rande des Dorfes sicherte etwa sechzig Frauen den Lebensunterhalt. In den frühen 2000er Jahren wurden beide Unternehmen abgewickelt.

Von den 260 einheimischen Familien halten heute nur noch 31 Tiere. Die Bewohner*innen von Szentlászló pendeln auch heute noch in die umliegenden größeren Siedlungen. Die Möglichkeiten im Dorf sind begrenzt: Größte Arbeitgeber sind die Kommunalverwaltung sowie die Firma „Aqua-Híd Kft.“, und außerdem kann man bei einigen kleineren Unternehmen Arbeit finden.

Der morgendliche Spitzenverkehr ist bei Weitem nicht mehr so groß wie damals.

Kein Geld, keine Arbeitskraft

Auffälliger als das langsame Schrumpfen von Szentlászló sind nur die Alterung und der Austausch der Bevölkerung: Viele kehren schon nach ihrem Schulabschluss nicht mehr in ihr Heimatdorf zurück oder bevorzugen bei der Familiengründung eine andere Siedlung.

Sie ziehen nicht unbedingt weit weg. Fakt ist aber, dass während zum Beispiel im nahegelegenen Szigetvár ein*e angestellte*r Automechaniker*in ungefähr den Mindestlohn erhält, man in Pécs das Anderthalbfache und in Budapest das Vier- bis Fünffache verdienen kann. So ist es durchaus üblich, dass die Eltern alleine zurückbleiben, und wenn sie krank werden oder sterben, behalten die Kinder nicht das Elternhaus.

Nach Angaben des Zentralen Statistischen Amtes (KSH) sind seit 1990 jedes Jahr durchschnittlich 33 Personen aus Szentlászló weggezogen und 32 Personen an ihre Stelle gekommen, während – ebenfalls durchschnittlich – jährlich elf Personen starben und neun geboren wurden.

Zusatzkosten

Nach der Grundschule in Szentlászló und dem Gymnasium in Szigetvár wohnte Gergő in einem Studierendenwohnheim in Budapest: Er bekam eine Anstellung bei dem Markt- und Meinungsforschungsunternehmen, bei dem er früher bereits im Rahmen eines Studierendenjobs Erfahrung gesammelt hatte.

In Budapest lernte er seine Frau aus der Gegend von Szolnok kennen. Nachdem sich herausgestellt hatte, dass sich beide ihre Zukunft nicht dauerhaft in Budapest vorstellen können, fing die Rechnerei an, wohin es nun gehen sollte. In dieser Runde schied Szentlászló schnell aus.

„Für kurze Zeit haben wir mit dem Gedanken gespielt, in ein Dorf zu ziehen. Aber wenn wir von dort aus in eine nahegelegene Stadt zur Arbeit fahren, machen die Fahrt- und Zusatzkosten locker so viel aus, dass wir für das Geld in einer Stadt eine Wohnung mieten können.“

So zogen sie zunächst nach Szolnok, wo Gergő Regionalleiter bei einer Arbeitsvermittlungsfirma wurde. Nachdem er wegen seiner Arbeit immer öfter im Nordosten Ungarns unterwegs war, folgte ein weiterer Umzug, diesmal nach Eger. Sie bekamen zwei Töchter, und zwischenzeitlich hatte er einen weiteren Jobwechsel: Derzeit arbeitet er als Produktionsleiter bei einem Maschinenbauunternehmen.

„Würde ich nach Szentlászló ziehen und einen solchen Job finden, so würde ich zwanzig bis dreißig Prozent weniger verdienen, also um die 300.000 Forint netto. Das würde sich nicht mehr lohnen. In Budapest wären es gar 700.000 bis 800.000, aber dort würde ich mich nicht wohlfühlen.“

„Der Tod eines Dorfes ist, dass man sich jederzeit ins Auto setzen kann.“

Neben dem Finanziellen musste ein weiterer wichtiger Faktor in die Waagschale gelegt werden: die Freizeitgestaltung. Hier verlor Szentlászló erneut das Rennen. Das Dorf, in dem bis zum heutigen Tag eine Bibliothek, ein Fitnessstudio und zwei Heimatmuseen Möglichkeiten zur Entspannung bieten, konnte mit der reichhaltigen Kulturszene der größeren Städte nicht mithalten. „Für meine Altersgruppe war es schon wichtig, mal ins Kino gehen zu können. Okay, man kann nach Kaposvár fahren, aber das sind immerhin bereits 25 Kilometer Fahrt.“

Heute ist Szentlászló für ihn nur noch eine entfernte, angenehme Erinnerung, wo er mit seinen Töchtern drei- bis viermal im Jahr hinfährt, um seine Mutter zu besuchen. Als Erwachsenem kommt ihm das Dorf jedoch schon wie ausgestorben vor. „Ich finde dort nichts mehr, was mich interessieren würde. Die meisten meiner Jugendfreunde sind nicht mehr im Dorf, auch aus meiner Klasse sind höchstens fünf oder sechs dortgeblieben. Ich habe nicht das Gefühl, dass mich etwas an diesen Ort binden würde“, sagte er.

Wer Szentlászló verlassen hat, tat dies seiner Meinung nach wegen der besseren Arbeitsmöglichkeiten.

„Der Tod eines Dorfes ist, dass man sich jederzeit ins Auto setzen kann. Morgens fährst du sowieso nach Kaposvár zur Arbeit. Oder sei es nur ins Nachbardorf – auch dann kannst du dein Kind in eine andere Schule bringen. Und ab diesem Punkt sucht jeder nach den besseren Möglichkeiten.“
Mein Foto ist zu Hause statt meiner I.
Mein Foto ist zu Hause statt meiner I. | Foto: Dóri Pilinszky
Szentlászló hatte aber auch sein Gutes. Gergő zum Beispiel hat sehr gut Deutsch gelernt, was er der Dorf-Grundschule zuschreibt. Dank seiner acht Jahre dort kann er sich auf Deutsch unterhalten. Darüber hinaus hat ihm das Dorf Fähigkeiten anerzogen, die heutzutage bevorzugt als Soft Skills bezeichnet werden:

„Wenn man in einem kleinen Dorf aufwächst, das keineswegs ein Schlaraffenland ist, und wenn man merkt, dass man um alles kämpfen muss, so bringt das Ordnung in das Wertesystem. In der Stadt sind die Menschen viel gleichgültiger, sie interessieren sich nicht so sehr füreinander. Bis zum heutigen Tag ist es ein großer Vorteil für mich, dass ich gut Kontakte knüpfen kann, mich gut mit anderen unterhalten kann.“

Über alle Berge

Gergő erfuhr bei einem Klassentreffen, dass ehemalige Mitschüler*innen, die ins Ausland gegangen sind, nicht immer bloß von einer attraktiven Gelegenheit, von Ehrgeiz oder Abenteuerlust getrieben waren, sondern auch von bloßem Zwang: etwa von einem Kredit in Schweizer Franken.

„Ich weiß mit Sicherheit von zwei solchen Menschen – der eine arbeitet im Gesundheitswesen, der andere ist Koch –, die einfach nicht imstande waren, die Raten zu bezahlen. Sie sind auch dageblieben. Wenn es jemand einmal nach Österreich schafft und dort 4000 Euro verdient, wird er nicht mehr zurückkommen. Diese Leute waren gezwungen, das Land zu verlassen, weil sie sonst alles verloren hätten: sogar das Eigentum der Familie, der Eltern, da auch diese mit dem Kredit belastet worden waren. Und es gab welche, die bei einem Monatsgehalt von mehreren tausend Euro die Raten auch innerhalb von fünf bis zehn Jahren nicht begleichen konnten, so sehr ist der Kredit in die Höhe geschossen.“
Warten auf das Herrchen
Warten auf das Herrchen | Foto: Gréta Kovács
Mehrere verließen Szentlászló Richtung Österreich, wo sie hauptsächlich im Bau- oder im Gastgewerbe arbeiten. Auch Zoltán verbringt die meiste Zeit außer Landes, weit entfernt von seinem Dorf. Er hat eine Berufsausbildung als Heizungs- und Gasinstallateur. Als Angestellter eines Unternehmens für Gebäudetechnik in Pécs ist er meist in Österreich, manchmal auch in Deutschland im Außendienst. Ursprünglich stammt er nicht aus Szentlászló, ist aber hier aufgewachsen und lebt hier mit seiner Familie. Von den sieben Tagen der Woche verbringt er nur drei zu Hause: Jeden Sonntag bricht er auf und kehrt am darauffolgenden Freitag im Morgengrauen wieder nach Hause zurück.

Auch am Anfang schon war er von der Firma ins Ausland entsandt worden, auch mal für zwei Wochen, doch erst in den letzten paar Jahren ist die Arbeit im Ausland zur wöchentlichen Routine geworden. Die Firma stellt ihren Mitarbeiter*innen alles zur Verfügung, was für die Arbeit jenseits der Grenzen benötigt wird: Unterkunft, Verpflegung, Transport, Covid-Tests, faire Bezahlung und bessere Arbeitsbedingungen als hierzulande.

Zugleich ist aber Zoltán kaum im Familienalltag präsent. „Es kam schon mal vor, dass das Kleinkind die Stimme seines Vaters nicht erkannte, so oft war er fort“, erzählt seine Frau. Genau deshalb würde auch der Mann dieses Leben niemandem empfehlen. „Klar, finanziell lohnt es sich eigentlich schon, aber viel besser als früher ist es nicht. Nur kommt man aus dem Hamsterrad schwer wieder raus, wenn man einmal drin ist.“

„Szentlászló ist mir schon zu groß.“

Auch wenn die jungen Menschen Szentlászló verlassen, gibt ihnen das Dorf eine starke Prägung mit, die man so leicht nicht loswird und die einen auch zurück in die Gegend führen kann. Bernadett etwa ist im Dorf aufgewachsen, sie ist hier zur Schule und von hier aus aufs Gymnasium gegangen, danach auch zu ihrer ersten Arbeitsstelle nach Pécs. Sie war bereits verheiratet, als es sie während einer Geschäftsreise ins zehn Kilometer entfernt gelegene Terecseny verschlug, ein winziges Dörfchen am Waldrand mit heute knapp über dreißig Einwohnern: Sie wollte dort einem Kollegen den Geburtsort ihres Großvaters zeigen.

Hier verliebte sie sich in eine leerstehende, von Wildrosen gesäumte Schmiede aus dem Jahr 1906 – so sehr, dass sie und ihr Mann sie kauften. Nach der Renovierung beschlossen sie, dorthin zu ziehen.

„Ich habe versucht, ein bisschen ländlicher zu leben: Wir hielten Ziegen und Schafe, ich stellte Ziegenkäse her, wir hatten einen Bio-Garten. Als dann auch mein kleiner Sohn geboren war und anderthalb Jahre alt wurde, ergab sich eine Gelegenheit. Und die Wahrheit ist, dass das Landleben doch ein wenig langweilig sein kann. Oder zumindest nicht die Art von Herausforderung, die ich brauche.“

So begann Bernadett eine Tätigkeit als Ausschreibungsberaterin und Antragsverfasserin – aus Terecseny wegziehen will sie aber nicht. Auch ihren kleinen Jungen fährt sie nicht in die Stadt, sondern nach Szentlászló zum Kindergarten, wenige Gehminuten vom Haus der allein lebenden Großmutter entfernt. „Gott bewahre, dass wir hier wegziehen – wir können uns doch gegenseitig unterstützen, und die Kinder bekommen so auch die Großmutter-Erfahrung mit.“ Aber dass auch sie selbst nach Szentlászló ziehen – das hält sie vorerst für unvorstellbar.
Mein Foto ist zu Hause statt meiner II.
Mein Foto ist zu Hause statt meiner II. | Foto: Dóri Pilinszky
„Szentlászló ist mir schon zu groß. Hier schaue ich aus dem Fenster und sehe nirgendwo einen Nachbarn, wir sind hier mitten im Wald. Das ist eine ganz andere Stimmung, und ich denke, wenn ein Mensch das einmal erlebt und Gefallen daran gefunden hat, dann kommt ihm eine Siedlung mit der Größe von Szentlászló schon wie eine Großstadt vor. Da sind schon zu viele Leute.“

Multikulti

Trotz seiner geringen Größe beherbergt Terecseny mehrere Nationalitäten: Unter Bernadetts Nachbarn bilden überraschenderweise Belgier*innen und Niederländer*innen, mit denen sie sich eng anfreundete, die Mehrheit. „Ich spreche Deutsch, sie antworten auf Niederländisch. Wir helfen uns gegenseitig, kommen zusammen, kümmern uns um die Häuser der anderen, wenn sie nicht zu Hause sind.“

Es finden sich nur vier oder fünf ungarische Familien im ganzen Dorf, aber Bernadett kennt auch fast alle von ihnen aus ihrer Kindheit, denn auch die Kinder aus Terecseny hatten die Grundschule von Szentlászló besucht.

„Fast alle meiner ehemaligen Klassenkameraden leben in einem Dorf, wenn auch in einem anderen. Es sind aber viele auch in Szentlászló geblieben: Wir waren einundzwanzig Jugendliche, als wir die Grundschule beendeten, und die Hälfte davon, meine ich, lebt nach wie vor hier. Wohl keiner davon ist jetzt im Ausland – für kurze Zeit waren in den letzten Jahren einige weggegangen, nicht als Jugendliche, sondern bereits als Erwachsene, auch dann noch, als sie ältere Kinder hatten. Sie gingen weg, versuchten ihr Glück und kamen nach Hause. Auf Dauer ist aber definitiv niemand außer Landes gezogen.“

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