Piroska Bakos
Glauben an ein besseres Leben

Glauben an ein besseres Leben
Foto: Kata Geibl © Goethe-Institut Budapest

 

 

Zimmer Nummer 2. Wir öffnen die Tür, durch die gewaltigen Fenster strömt grelles Sonnenlicht herein und erfüllt den ganzen Raum. Ein paar wenige Kästen, einen Tisch gibt es nicht, nur Sessel. Der Wäscheständer ist voll, neben der Tür ein riesiger Haufen Schuhe. Wie ein Zimmer im Studentenwohnheim. Allein die vier zusammengeschobenen Diwane passen nicht ins Bild. Auf dem mittleren Polster ein rotes Plüschherz. Hier schlafen sie. Die drei Buben und ihre Mutter. An einem Tag liegt sie neben dem einen, am nächsten neben dem anderen. Das beruhigt die Kinder.

Das puritanische Schlafzimmer der Familie. Die drei Jugnen und die Mutter schlafen nebeneinander
Das puritanische Schlafzimmer der Familie. Die drei Jugnen und die Mutter schlafen nebeneinander | © Piroska Bakos
Wir befinden uns im geheimen Zufluchtshaus der Ökumenischen Hilfsorganisation. Für ein paar Monate können hier Missbrauchte – vor allem Mütter mit Kindern – unterkommen, die von Zuhause fliehen mussten. Die 33-jährige Kata war gerade erst 15 geworden, als sie Tomi kennenlernte. „Ich habe dich erzogen”, sagte ihr der Mann später immer wieder. Ihre Eltern unterstützten die Beziehung nicht, doch Kata hielt daran fest. Sie brach die Schule ab, maturierte auch nicht. Sie begann in einer Fabrik zu arbeiten, die Arbeit und der Trubel gefielen ihr, doch als sie erfuhr, dass sie schwanger war, musste sie aufgrund der im Betrieb eingesetzten Giftstoffe sofort in Krankenstand gehen. Dann bekam sie zwei weitere Kinder.
 
Als meine ersten beiden Söhne ein bisschen größer waren, habe ich versucht, die Matura nachzuholen, doch schon nach der ersten Prüfungsphase musste ich wieder aufgeben. Tomi hat mir bei nichts geholfen. Er hat wortwörtlich gesagt, meine Aufgabe sei es, den Kindern Zucker in den Arsch zu blasen, deshalb müsse ich zuhause bleiben. Gleichzeitig warf er mir aber andauernd vor, dass ich nichts hätte, nicht einmal einen Verdienst. Er hätte mich am liebsten stets zuhause behalten. Vor der Geburt der Kinder kam es sogar vor, dass er mich tatsächlich in der Wohnung einsperrte und wegging.
 
Kata spricht leise. Sie hat keine Wut in sich. In ihren Augen spiegelt sich maßlose Traurigkeit wider. Wenn sie redet, ist es, als bäte beinahe ihr ganzes Wesen um Verzeihung. So hat sie es in den vergangenen Jahren gelernt.
Kata, die Mutter hat angefangen zu arbeiten. Sie möchte ein neues Leben, und ein eigenes Zuhause haben
Kata, die Mutter hat angefangen zu arbeiten. Sie möchte ein neues Leben, und ein eigenes Zuhause haben | © Piroska Bakos
Für ihn war ich sozusagen nur seine Sklavin, er hat mich als sein Eigentum behandelt. Er ist launisch, seine schlechte Stimmung ließ er stets an uns aus. Um die Kinder kümmerte er sich nicht, der Älteste liebte Fußball, und trotzdem ging immer nur ich zu seinen Spielen. Unser Wochenendprogramm bestand darin, dass wir in ein Fastfood-Restaurant in einem anderen Teil der Stadt fuhren. Das Geld verwaltete er, jeden Tag gab er mir eine bestimmte Summe, meine Bankomatkarte nahm er mir ab. Wenn eines der Kinder krank wurde und ich Medikamente besorgen musste, musste ich ihn erst anrufen und fragen, ob ich das Medikament kaufen dürfe. Ich schrieb genau auf, wann ich wie viel wofür ausgab. Selbst eine Differenz von 1000 Forint fiel ihm auf, ich hatte ständig Angst und fragte mich: „Oh Gott, habe ich alles aufgeschrieben?” Ich musste mit ihm sogar absprechen, wenn ich Hygieneartikel für mich kaufen musste. Er half mir bei gar nichts, ist die ganze Zeit nur mit dem Auto herumgefahren, während ich ohne Auto mit den drei Kindern im Schlepptau quer durch die ganze Stadt zum Kindergarten bzw. zur Schule und dann wieder nachhause marschierte. Oder zwölf Liter Milch und Lebensmittel zum Kochen auf meinen Schultern vom Geschäft nachhause schleppte. Sogar seine Kumpel zogen ihn deshalb schon auf, so kam ich schließlich zum Führerschein. Er wollte mich im wahrsten Sinne des Wortes an sich fesseln, er hat über mich geherrscht.
 

Kata wiegte sich lange in dem Glauben, ihr Lebensgefährte würde sich wenigstens um der Kinder willen ändern. Dann tröstete sie sich mit dem Gedanken, dass sie doch eine Familie und ein Zuhause hat, dass sie es schon irgendwie überleben werden. Nachdem die Kinder geboren worden waren, zog sie zu ihnen ins Kinderzimmer und von da an war ihr nur mehr wichtig, dass mit ihnen alles in Ordnung ist. Doch vor drei Jahren, als der Vater der Kinder im Ausland zu arbeiten begann, ging es endgültig in die Brüche.
 
Er kam nur an den Wochenenden nachhause, doch dann musste alles so laufen, wie er es wollte. Freitags hatte ich tatsächlich Magenkrämpfe bei dem Gedanken, wie wohl die nächsten drei Tage verlaufen werden. Auch den Kindern sah ich an, dass das so nicht gut für sie war. Vergebens versuchte ich meinem Lebensgefährten zu verstehen zu geben, dass das so kein gutes Ende nehmen würde, es interessierte ihn aber nicht. Heute weiß ich, dass ich früher hätte handeln sollen. Er gab mir immerzu das Gefühl, ich wäre dumm, eine Idiotin und nichts ohne ihn. Er hat uns alle seelisch terrorisiert. Vor zwei Jahren habe ich dann endlich den Schritt gewagt und ihm gesagt, dass ich unsere Beziehung so nicht fortführen könne. Ich habe es ihm nicht ins Gesicht gesagt, sondern nur am Telefon, weil ich Angst vor ihm hatte. Er kam gleich am nächsten Tag nachhause. Morgens hatte ich mit den Kindern gerade bei der Schule geparkt, der Motor lief noch, als er plötzlich neben dem Auto auftauchte. Die zwei Jüngeren entriss er mir und marschierte mit ihnen los, er sagte, er nehme sie mit. Durch die halbe Stadt bin ich neben ihm hergegangen und habe versucht ihn zu überzeugen, die Sache zu besprechen, jedoch ohne Erfolg. Er hat die beiden in unsere Wohnung gebracht, aber mich und meinen älteren Sohn nicht mehr hineingelassen, also sind wir bei einem Freund untergekommen. Zwei Wochen lang durfte ich nicht in die Nähe der Kinder. Ich suchte Hilfe bei der Polizei, doch man sagte mir nur, dass mein Lebensgefährte jetzt eben schneller gewesen sei. Ich war überrascht – so funktioniert das also? Wenn ich als Erste bei der Schule oder beim Kindergarten ankomme, dann gehören die Kinder mir? Er ist dann wieder nach Ungarn gezogen und hat sich vor Ort einen Job gesucht. Mithilfe von Anwälten einigten wir uns schwer, aber doch über das Besuchsrecht.
 
Ab hier kann Kata die Tränen beim Erzählen nicht mehr zurückhalten. Sie sagt Dinge, die man als Außenstehender nur schwer begreifen kann, denn so etwas dürfte in einer heutigen Familie nicht mehr passieren.
 
Vor zwei Jahren waren die Kinder im Sommer zwei Wochen lang bei Tomi. Als ich sie abholen wollte, gab er sie mir nicht. Er stieß mich von ihnen weg und sagte: „Verschwinde von hier, du fasst sie nicht an, sonst fangen sie sich noch etwas ein, mach dir doch neue Kinder!” Er beschimpfte mich als alles Mögliche, dass es durch die ganze Straße schallte, die Polizei rief ich jedoch wieder vergeblich, man sagte mir, ich hätte keinen Gerichtsbeschluss. Er hat dann die Kinder den ganzen Sommer über bei sich behalten. Ich habe versucht, irgendwie in ihre Nähe zu gelangen, wenn die Nachbarn anriefen, um mir zu sagen, dass die Kinder auf der Straße seien, bin ich sofort hin, aber er ließ mich nicht in ihre Nähe, er warf die Dinge, die ich ihnen mitgebracht hatte, vor ihren Augen weg. Dann ging die Schule wieder los. Mein Anwalt riet mir, nicht dasselbe zu tun wie ihr Vater, die Kinder sollten nicht hin- und hergezerrt werden. Im Rahmen des kommunalen Beschäftigungsprogramms bekam ich einen Job im Hortgebäude, ich wartete jeden Nachmittag auf meine Söhne, damit ich sie sehen konnte. So oft hätte ich sie am liebsten einfach geschnappt und mitgenommen, aber das habe ich nicht getan. Ich wollte ihr Leben nicht noch schwerer machen. Ihr Vater schimpfte immer mit ihnen, wenn sie sich mit mir getroffen hatten. Den Mittleren ohrfeigte er sogar. Bei jeder Gelegenheit sagte ich ihnen, wie sehr ich sie liebe und dass sie sich immer auf mich verlassen können. Doch mein ältester Sohn sagte immer nur: „Mama, du hast uns verlassen”, seinem Vater war es gelungen, ihn mir zu entfremden.
In der Zwischenzeit hatten wir immer wieder Gerichtstermine. Ich weiß nicht, was mein ehemaliger Lebensgefährte da erzählte, aber mir wurde nur Besuchsrecht zugesprochen. Mal gab er mir die Kinder, mal nicht. Es kam vor, dass ich fliehen musste, weil ich Angst hatte, er prügelt mich sonst zu Tode. Ein anderes Mal warf er mir den Christbaum nach. Das Jugendamt ist eingeschritten, man nahm ihm die Kinder weg und sie wurden für zwei Monate bei Pflegeeltern untergebracht. Bis heute verstehe ich nicht, warum das notwendig war, schließlich war ich doch da, ihre Mutter, als gesetzlicher Elternteil. Bis ich sie zurückbekam, war es schon wieder September, und das Ganze ging von vorne los. Er tauchte beim Haus auf und sagte, er nehme die Kinder mit, er riss den Fünfjährigen vom Fahrrad und stieß mich gegen das Auto. Als ich einkaufen ging, folgte mir zum Geschäft, am Parkplatz drückte er seine Zigarette auf mir aus, vor den Augen des Jüngsten. Wir fürchteten uns überhaupt auf die Straße zu gehen. Er konnte einfach alles machen, er hatte das Recht uns wehzutun, er hatte das Recht mich anzubrüllen, er hatte das Recht die Kinder seelisch fertigzumachen – nichts davon hatte Konsequenzen. Und ich konnte nichts tun. Alle schauten lieber weg, sowohl die Polizei als auch die PädagogInnen. Einmal sahen die Kindergärtnerinnen zu, wie er mir drohte, mir die Kehle durchzuschneiden. Oder er ließ die Kinder bei minus zehn Grad mit offenen Frühlingsschuhen und Übergangsjacke aus dem Haus und dennoch schrieb man in der Stellungnahme, dass beide Elternteile die Kinder in entsprechender Weise versorgen würden.
 

Schließlich rief Kata vor Schulbeginn von der lokalen Familienberatungsstelle aus den Kriseninterventionsdienst an (Nationaler telefonischer Kriseninterventions- und Informationsdienst). Nicht einmal ihren Söhnen sagte sie, wo es hinginge. Die Disponenten halfen ihr übers Telefon, sie erklärten ihr, in welchen Zug sie einsteigen sollten und an welchem Bahnhof man sie abholen würde. Seither wohnen sie hier. Für die mittlerweile zehn-, acht- und fünfjährigen Buben fand man eine Schule beziehungsweise einen Kindergarten in der Umgebung. Sie sind, wie alle Kinder aus Missbrauchsbeziehungen, „Gastschüler“, das heißt, offiziell wurden sie in ihrer Schule zuhause nicht abgemeldet, damit ihr Vater nicht herausfinden kann, wo sie nun zur Schule gehen.
Die Kinder bringen oft Zeichnungen von dem Kindergarten und von der Schule nach Hause
Die Kinder bringen oft Zeichnungen von dem Kindergarten und von der Schule nach Hause | © Piroska Bakos
Mein Ziel war, dass die Kinder endlich zur Ruhe kommen und aus diesem schädlichen Umfeld ausbrechen können. Einen anderen Ausweg sah ich nicht. Am Tag nach unserer Ankunft war ich an einem Tiefpunkt, doch ich weiß, dass ich nur so die Kinder beschützen kann. Es ist sehr schwer für sie, wir mussten im wahrsten Sinne des Wortes bei null anfangen. Sie vermissen ihr Zuhause, ihre Zimmer und ihren kleinen Hund, aber wir sind zusammen und ich weiß inzwischen, dass es in Wirklichkeit das ist, was eine Familie zusammenhält. Im Moment zeigen sie mir ihr schlimmeres Ich, ihr Vater hat unheimlich viel Schaden bei ihnen angerichtet. Aber ich bin geduldig, sie brauchen Zeit, um zu erkennen, dass sein Verhalten nicht normal ist. In meinen Augen sind alle drei echte Helden. Ich bin stolz auf sie.
Die drei Jungen (10, 8 und 5 Jahre alt) hängen an ihren Kuscheltieren.
Die drei Jungen (10, 8 und 5 Jahre alt) hängen an ihren Kuscheltieren. | © Piroska Bakos
Wegen unseres Gerichtsverfahrens bin ich allerdings sehr enttäuscht. Gegen die Richterin habe ich einen Befangenheitsantrag gestellt. Vergebens wurde von Sachverständigenseite in Bezug auf den Vater überwachter Besuchskontakt vorgeschlagen, die Richterin hat dennoch angeordnet, dass wir die Kinder einander alle vier Tage übergeben müssen. Obwohl sie weiß, dass wir vor meinem ehemaligen Lebensgefährten geflohen sind, uns trennen mittlerweile mehrere Hundert Kilometer. Das Jungendamt hat den Vater wegen Gefährdung angezeigt, doch die Sache wurde mit der Begründung eingestellt, dass wir uns nun nicht mehr in Gefahr befänden, da wir nicht mehr in demselben Ort leben. So ist es sehr schwer. Wir leben in ständiger Ungewissheit. Aber ich mache weiter, so lange wie nötig. Es gibt sehr wohl diese elterliche Kraft, die einen bis zur Unendlichkeit durchhalten lässt, wenn es um die Kinder geht.

 
Jetzt höre ich zum ersten Mal Entschlossenheit in Katas Stimme. Sie ist nicht mehr alleine in ihrem Kampf, seit einem Jahr hat sie einen Partner an ihrer Seite. Sie planen eine gemeinsame Zukunft.
 
Ich wollte mich nicht wirklich verlieben. Aber er hat Ausdauer bewiesen. Er respektiert mich als Frau und Mutter, endlich werde ich nicht mehr als Objekt behandelt. Er hat mir die Augen geöffnet. Als missbrauchte Person muss man es irgendwie schaffen, an einen Punkt zu gelangen, an dem man erkennt, dass man sehr wohl etwas Besseres verdient. Man muss daran glauben, dass es auch bessere Menschen gibt. Dass es auch Partner gibt, die sich sehr wohl dafür interessieren, wie es dem anderen geht. Ich wünsche mir sehr, dass wir in ein paar Jahren ein echtes Zuhause haben. Die Matura habe ich auch noch nicht aufgegeben, ich möchte meinen Söhnen als gutes Beispiel vorangehen, sie sollen sehen, dass ich Pläne habe. Ich denke, es ist nie zu spät für etwas Neues.
 
 
(Die Namen der Personen wurden geändert.)

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