Rede auf der Eröffnung der Ausstellung "Komplett Kafka"
András Forgách: Über Franz Kafka
Die Rede von András Forgách, Schriftsteller, Übersetzer und Dramaturg über Franz Kafka anlässlich der Eröffnung der Ausstellung Nicolas Mahler – Komplett Kafka.
"Franz Kafka – ist das krank cafka?"
Das obige köstliche Wortspiel im ungarischen hörte ich von Endre Bálint, dem großen Maler, kurz vor seinem Tod.
Krank Cafka? Was im ungarischen soviel bedeutet wie „das kranke Flittchen”.
Ist das nicht respektlos gegenüber dem großen Schriftsteller?
Nein.
Denn in den letzten Jahrzehnten hat sich etwas geändert.
Franz Kafka wurde einst wie Amerika entdeckt.
Mit seinen unheimlichen und musikalisch reinen Sätzen, seinen brutalen und traumhaften Geschichten, seinen Parabeln mit visionärer Kraft bleibt er ein Fixstern am Firmament der Weltliteratur.
Er ist ein Schriftsteller dessen jedes geschriebene oder gesprochene Wort, jedes Dokument, jedes Artefakt, jede Kritzelei, jedes Gekritzel oder jeder Fetzen Papier, der mit seiner Biografie verbunden ist, heute ebenso wichtig ist, und nicht nur seine Hauptwerke, von denen er, der strengste aller Richter, nur wenige für bewahrenswert hielt.
Die Welt hat recht schnell erkannt, dass Kafkas Werke unausweichlich sind, und daran hat sich bis heute nichts geändert.
Was hat sich also geändert?
Das Bild von Kafka, als Mensch.
In den letzten Jahrzehnten ist vieles über ihn bekannt geworden.
Vor allem, dass alles genau umgekehrt ist.
Um Kafkas genialen Zeitgenossen Karinthy zu zitieren: "Die Straßenbahn ist diejenige, die auf der anderen Straßensteite, in die entgegengesetzte Richtung fährt."
Denn was macht einen Autor zu einem Klassiker?
Ein echter Klassiker wird er dann, wenn er sich auch als das Gegenteil entpuppt.
Wenn man ein Autor heiterer Werke voller humoristischer Wendungen ist, ein Autor unsterblicher Satiren wie Gogol, dann muss auch sein melancholisches, selbstverliebtes, tief religiöses und tragisches Wesen entdeckt werden.
Aber wenn man wie Kafka der erste und immer noch einflussreichste Vertreter der Entfremdung und der Ängste ist, ist es unerlässlich, sein unendlich menschliches, alltägliches Gesicht der Welt zu zeigen, das oft in scharfem Kontrast zur Stimmung seiner Schriften und zu einigen zweifellos dunklen, düsteren und untröstlichen biografischen Fakten steht.
Dies ist der natürliche Prozess des Klassiker-Werdens.
Ein Schriftsteller kann froh sein, wenn noch hundert Jahre nach seinem Tod über ihn geschrieben und gelesen wird.
Aber hier geht es um mehr.
Franz Kafka hat sich in die Reihe der Größten eingereiht: Homer, Shakespeare, Cervantes, Bach, Mozart, Rembrandt.
Es geht nicht nur darum, dass das, was er geschrieben hat, gut war oder dass er Meisterwerke geschaffen hat, sondern dass er selbst zu einem eigenen Mythos geworden ist.
Szilárd Borbélys Roman Kafka fia - Kafkas Sohn, in dem er Kafkas Leben mit den Fakten seines eigenen Lebens vermischt, der jüngste sechsteilige deutsche Fernsehfilm von Daniel Kehlmann, der vor einer freien Interpretation von Kafkas Schriften nicht zurückschreckt, und der im vergangenen Jahr veröffentlichte Comic von Nicolas Mahler, um nur einige von tausend Beispielen zu nennen, behandelt, gestärkt durch diesen Mythos, die Zusammenhänge zwischen Kafkas Lebensereignissen und seinen literarischen Werken so frei wie möglich und scheut sich nicht gegebenenfalls sogar, die im besten Sinne des Wortes wildesten Vermutungen zu Kafka als Tatsachen zu behandeln.
Kafka geht nahtlos durch die strengsten Filter einer jeden historischen Epoche.
Er kann einfach nicht veralten.
Das ist es, was ich einen Klassiker nenne.
Julius Cäsar soll sich furchtbar gefreut haben, als seine Soldaten, die im Triumphzug für ihn marschierten, obszöne Sticheleien über seine jugendlichen sexuellen Seitensprünge machten. Er wusste, dass ein anständiger Mythos in der Tat solch pikante Haftstoffe braucht.
So wie auch die griechischen Götter alles andere als makellos sind.
Aber das ist noch nicht alles.
Die Biografie des großen Schriftstellers wie sein Werk kanonisiert und verschmilzt mit ihm im Laufe der Zeit.
Wir wissen sehr wenig über Shakespeare.
Seine Biografien, voll mit wildesten Annahmen über ihn, füllen eine ganze Bibliothek.
Heute ist Prag Kafka. Kafka-Statuen, Kafka-Gemälde, Kafka-Gläser.
So wie Dublin = Joyce und Lissabon = Pessoa.
Wir benutzen Kafka heute in unserem intellektuellen Haushalt wie unsere Brille, unser Messer, unsere Armbanduhr, unseren Bleistift.
Wir wissen jetzt von Kafka, dem alptraumhaften Maler der entfremdeten Bürokratie und der totalitären Gesellschaft, wie effizient er als Bürokrat war, wie geschickt er als Anwalt war, der Star der komplizierten Unfallversicherungsfälle, der so beliebt war bei seinen Vorgesetzten, dass er mit allen heikelsten Fällen beauftragt wurde, der davor bewahrt wurde, im Ersten Weltkrieg in den Schützengräben zu landen, obwohl Kafka zum Militär wollte.
Es geschah, dass Kafka bei der Lektüre eines seiner Werke einen Lachanfall bekam.
Darin ähnelt er auch einem anderen großen Tragödiendichter: seinem Vorbild Kleist.
Nur wenige wissen, dass Kafka, der unter furchtbaren Qualen starb und praktisch verhungerte, gerne Motorrad fuhr, Boot fuhr, an den Strand ging, Bier trank und auch gerne mit Mädchen ausging, vor allem in den unterschiedlichen Sanatorien, ins Kino und ins Theater ging. Seine Gymnastikübungen machte er jeden Morgen nackt am offenen Fenster stehend, von Zeit zu Zeit besuchte dieser heilige Mann Bordelle (laut seiner Tagebücher schleppte ihn sein bester Freund Max Brod in Paris täglich mehrmals dorthin), und in seiner Wohnung, in den Tiefen seiner Schublade, bewahrte er pornographische Bilder auf.
Ganz zu schweigen davon, dass er in einem Brief an seine Verlobte im Februar 1911 auch mit seinem eigenen Genie als Zeichner prahlt:
„Wie gefällt Dir mein Zeichnen? Du, ich war einmal ein großer Zeichner, nur habe ich dann bei einer schlechten Malerin schulmässiges Zeichnen zu lernen angefangen und mein ganzes Talent verdorben. Denk nur! Aber warte, ich werde Dir nächstens paar alte Zeichnungen schicken, damit Du etwas zum Lachen hast. Jene Zeichnungen haben mich zu seiner Zeit, es ist schon Jahre her, mehr befriedigt, als irgendetwas.“
Zu dieser Zeit war er noch als Künstler tätig.
Brod rettete seine Zeichnungen oft vor dem Papierkorb oder schnitt sie aus Kafkas Universitätsnotizen aus, die er wie seine Manuskripte auch sammelte.
Zu dieser Zeit war er sich sicher, dass Kafka ein großer Maler werden würde.
Obwohl Kafka dies nie in seinem Verhalten zeigte, beweisen seine zahlreichen Notizen, dass er sich seines Genies bewusst war.
Aber er strebte nie nach äußerem Erfolg auch dann nicht, als die Großen seiner Zeit, Rilke, Musil, Werfel, ihre Bewunderung für ihn zum Ausdruck brachten.
Nicolas Mahlers aufschlussreicher, täuschend kurzer und humorvoller Comic, der das gesamte Werk und die gesamte Biografie Kafkas zu interpretieren versucht, macht diese "krank Cafka"-Umkehrung mit Volldampf.
Mahler scheut sich nicht, mit Witz und Frechheit Kafkas Zeichnungen - von denen die meisten nach einem langen Rechtsstreit in einem Schweizer Tresor gefunden und erst kürzlich, im Jahr 2021, vollständig veröffentlicht wurden – weiterzudenken und anhand von brillant ausgewählten Zitaten aus Briefen, Tagebüchern und Rezensionen, den seltsamen, singulären Charakter von Kafkas Wesen und seiner Kunst darzustellen. Er wird damit auch dem im Zusammenhang mit Kafka häufig kritisierten Max Brod gerecht.
Es soll hier genügen, auf die ironische Konnotation des Wortes "Komplett" im Titel hinzuweisen.
Auf ungarisch sagen wir: "Nem vagy komplett!“, was soviel bedeutet, wie „Du bist nicht ganz Dicht!“.
Ja, hier, in diesen wenigen, scheinbar leichtfertig entstandenen Zeichnungen, können wir den vollständigen Kafka erleben, das Gesamtwerk, das nun seine eigene Umkehrung zu ertragen hat, so wird er kosmisch.