Blanka Kovács
Populismus und Bevölkerungsrückgang

Klartexte, Grafik: Kristóf Ducki
© Goethe-Institut Ungarn

2015 sagte der Präsident des ungarischen Parlaments László Kövér: „Wir möchten, dass unsere Töchter es als höchste Stufe der Selbstverwirklichung erachten, wenn sie uns Enkelkinder gebären können.“ Damals ahnten erst wenige, dass sich diese etwas ärgerliche, aber irgendwo doch witzige Aussage drei Jahre später in Kampagnen zurückmeldet, welche die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler viele Milliarden Forint kosten würden. Aber wie konnte es in der Kommunikation der ungarischen Regierung so weit kommen und was hat all das mit Populismus zu tun?

Wenngleich Kennerinnen und Kenner der ungarischen Regierungspartei Fidesz zurecht die Frage aufwerfen mögen, was denn bitte überraschend daran sei, dass eine rechte christlich-konservative Partei der weiblichen Emanzipation den Kampf ansagt, liegt die Antwort in Wirklichkeit weniger in der Ideologie als vielmehr in den Statistiken. Wirft man einen Blick auf die demografischen Daten, wird ersichtlich, warum die Politikerinnen und Politiker Panik schieben: Wenn es so weitergeht, wird die Bevölkerungszahl in Ungarn innerhalb einiger Jahrzehnte um mehrere Millionen schrumpfen. Die Fertilitätsrate des Landes sinkt immer weiter, das heißt, von Jahr zu Jahr entscheiden sich weniger Menschen für ein Kind beziehungsweise werden in den Familien weniger Kinder geboren. Dass Fidesz also mit einem gravierenden Problem konfrontiert ist, lässt sich nicht bestreiten – beanstanden lässt sich hingegen umso mehr die Kommunikationsweise der Partei im Zusammenhang mit dem Thema Bevölkerungsrückgang. Denn die Regierung hat die Motivation zur Familiengründung beziehungsweise zur Entscheidung Kinder zu bekommen in jene populistische, Feindbilder schaffende und emotions- anstatt faktenbasierte Rhetorik gebettet, derer sie sich seit 2015 in ihrem Kampf gegen die liberale Werteordnung bedient.

Was ist Populismus?

Was Populismus genau ist, lässt sich bis heute nur schwer definieren, obwohl er in den letzten Jahren zu den beliebtesten Forschungsthemen im Bereich der Politikwissenschaften gehörte. Einer der berühmtesten Theoretiker auf diesem Gebiet ist Ernesto Laclau, dessen Buch On populist reason als elementares Werk gilt. Nach Laclau liegt eines der Hauptmerkmale des Populismus darin, dass die jeweilige politische Macht ihre Kommunikation und Maßnahmen von dem mehrheitlichen Willen der Bevölkerung anstatt von einer absoluten Ideologie leiten lässt und emotionsbasierte anstatt faktenbasierte Rhetorikkniffe anwendet. Ein weiteres Kriterium liegt darin, dass der Populismus Feindbilder sowie eine wir-vs.-sie-Dichotomie schafft, in der das Wir meist das unterdrückte Volk bildet und das Sie die böse, herrschende Eliteschicht, welche die Bedürfnisse des Volkes nicht erfüllt.
 
Im Fidesz-Populismus kommt den Medien eine bedeutende Rolle zu, denn Orbán treuergebene Oligarchen haben über Jahre hinweg Verlage aufgekauft und die Redaktionen zu Regierungssprachrohen gemacht. Das gilt unter anderem für sämtliche Komitatszeitungen, das öffentlich-rechtliche Fernsehen, den Fernsehsender TV2 – einen der führenden Privatsender des Landes – sowie mehrere landesweite Radiosender. Die Informationsmacht ist also gegeben, es müssen nur mehr die Plattformen mit Inhalt gefüllt werden.

Die Familie als Bindeglied populistischer Feindbilder

In der populistischen Rhetorik von Fidesz fungiert die Familie als Bindeglied unterschiedlicher Botschaften. An den Fragenkreis des Bevölkerungsrückgangs lassen sich mehrere Feindbilder knüpfen. Die Regierungspartei stellt in ihrer Kommunikation seit Jahren schon Migration sowie Flüchtlinge aus dem nahen Osten an den Pranger und brandmarkt die Gruppe all jener, die sich der Willkommenskultur gegenüber offen oder den Flüchtlingen gegenüber solidarisch zeigen. Wer diese Gruppe ist? Laut Fidesz eine „liberale Elite“, als deren Anführer und Mäzen György Soros fungiert, ein ungarischstämmiger, in New York lebender philanthropischer Geschäftsmann, der in unterschiedlichen Teilen der Welt, so auch in Ungarn, soziale Organisationen finanziert. Unter diesen Organisationen finden sich zwar tatsächlich welche, die sich mit Flüchtlingsangelegenheiten befassen, doch die meisten von Fidesz über Soros verbreiteten Informationen sind als Fake-News beziehungsweise die Wahrheit verdrehende Meldungen zu qualifizieren. Soros stellt ein perfektes Beispiel für das antielitäre Feindbild des Populismus dar: Er gehört zu den 30 reichsten Menschen der Welt, er hat sich offen der liberalen Werteordnung und der Unterstützung der Immigration verschrieben, außerdem lebt er in den Vereinigten Staaten, weshalb man in Ungarn nicht viel über ihn weiß.
 
Obgleich sich die Flüchtlingskrise innerhalb eines knappen Jahres legte, verfolgte Fidesz auch weiterhin konsequent ihre Anti-Soros-Kommunikation, zu deren nächstem Angriffsziel Gender Studies, also die Wissenschaft gesellschaftlicher Geschlechterrollen, sowie die von Soros gegründete und finanzierte Bildungseinrichtung Central European University wurden. (Nachdem ihr Betrieb in Ungarn unmöglich gemacht wurde, erklärte die Central European University am 3. Dezember 2018, dass sie Budapest verlassen und nach Wien übersiedeln werde.) Warum ein Studiengang, der die in die Gesellschaft eingebetteten Geschlechterrollen kritisch untersucht, nicht nach Ungarn gehört, durften die Laiinnen und Laien vor allem aus den Medienauftritten von Politikerinnen und Politikern der Regierungspartei erfahren. Sie beriefen sich meist darauf, dass die Marktnachfrage nach „Genderologen“ mangelhaft sei, dass der Begriff des gesellschaftlichen Geschlechts nicht vereinbar mit der Biologie, der Normalität beziehungsweise den christlichen Werten sei, sowie dass die Wissenschaft der gesellschaftlichen Geschlechter einen direkten Angriff auf die geschlechtliche, religiöse, familiäre und nationale Identität darstelle.
 
In diesem symbolischen Kampf lasse sich laut Fidesz der Bevölkerungsrückgang nur stoppen, wenn das Land voll von ungarischen Kindern sei, ansonsten würde Brüssel massenweise das Christentum despektierende Flüchtlinge aus fremden Kulturen in Ungarn ansiedeln. Dagegen müsse man vorgehen und möglichst bald möglichst viele Kinder auf die Welt setzen.
 
In der Rhetorik der Regierung ist das konservative Familienbild außerordentlich gut aufgebaut und klar umrissen. In der Vorstellung von Fidesz besteht eine Familie aus in Ehe lebenden (heterosexuellen) Eltern und mehreren Kindern, der Hauptverdiener ist der Vater, dass die Mutter zuhause bei den Kindern bleibt, steht außer Frage. Die Regierungspartei macht deutlich, dass diese Art von Familie für sie einen herausragenden Wert darstellt, den sie auch gewillt ist mit immer Mehr Geld zu fördern.

Das Thema Familie in der regierungsnahen beziehungsweise oppositionellen Presse

Am anschaulichsten zeichnen sich die populistisch-politischen kommunikativen Bestrebungen der Regierung ab, wenn man vergleicht, wie das Thema Familie auf einer regierungsnahen beziehungsweise einer unabhängigen Nachrichtenseite in Erscheinung tritt. Einander gegenübergestellt werden die Publikationen der offen regierungsnahen (Online-)Tageszeitung Magyar Idők sowie die Artikel eines der meistgelesenen Online-Nachrichtenportale Index.hu. Obwohl auch regierungsnahe Persönlichkeiten mit dem Eigentümerkreis von Index in Verbindung gebracht werden können, kann dieses Nachrichtenportal dank des Umstands, dass die Eigentümerin eine Stiftung ist, als ausgewogenes, im Allgemeinen eher regierungskritisches Medium erachtet werden.
 
Zwischen 1. September und 1. Dezember 2018 wurden auf Index im Zusammenhang mit ungarischen Familien und dem Bevölkerungsrückgang 16 Artikel veröffentlicht, in welchen es vor allem um die familienpolitischen Maßnahmen und Statistiken bezüglich des Bevölkerungsrückgangs ging. Auf diesem Portal kam die meiste Aufmerksamkeit in diesem Zeitraum der Abschaffung der Bausparförderung zu, welche in ganz Ungarn für Furore sorgte. Auf Index wurden außerdem unter anderem Nachrichten über die weitere Ausdehnung der Familiensteuerbegünstigungen, über den Plan des Baus von 2000 neuen Kindergärten und über die „nationale Konsultation“ in Bezug auf den Schutz der Familien veröffentlicht. Unter dem eigenen investigativen Material des Mediums befanden sich in den untersuchten Monaten 4 relevante Artikel: Einer prüfte die Chancen von Müttern eine Teilzeitbeschäftigung aufzunehmen, einer legte den Wandel hinsichtlich der gesellschaftlichen Erwartungen gegenüber Vätern dar, einer untersuchte, wie sich das nach oben verschobene Alter, in dem Menschen Kinder bekommen, auf die Demografie auswirkt, und einer berichtete darüber, dass trotz der Bemühungen der Regierung allen voran nicht jene gesellschaftliche Schicht eine Familie gründet und Kinder bekommt, über die sich die Regierung freuen würde. In den Artikeln wird kritisiert, dass das Familienfördersystem der Regierung eher jene begünstige, die sich ohnehin in einer guten finanziellen Lage befinden.
 
In Magyar Idők erschienen allein im November 2018 79 Artikel zum Thema Familie – das heißt, fünfmal so viele wie auf Index, und das in einem Drittel der Zeit. In einem Teil dieser Artikel waren Nachrichten über die familienpolitischen Veränderungen zu lesen. Die erschienenen Meinungsartikel sowie Stellungnahmen von Regierungspolitikerinnen und -politikern konzentrierten sich allesamt auf dieselben zwei Dinge. Einerseits wurde behauptet, dass Europa die niedrige Bereitschaft Kinder zu bekommen durch die Aufnahme von Immigranten und Flüchtlingen kompensieren wolle – was laut der ungarischen Regierung gefährlich sei und verhindert werden müsse. Andererseits wurde betont, dass, wenn die Opposition die Familienpolitik der Regierung kritisiert, sie in Wirklichkeit den Familien das Geld wegnehmen wolle, folglich müssten die ungarischen Familien also auch vor den Intrigen der Opposition bewahrt werden. In diesen Texten zeigt sich eindeutig das Muster der populistischen Feindbildschaffung und Panikmache.

Conclusio

Obgleich Populismus an sich ein komplexes Thema ist, lässt sich sein Kern anhand einer über Jahre hinweg geführten Kampagne, in der die Regierung sämtliche ihrer Ressourcen und populistischen Kommunikationskniffe zum Einsatz bringt, durchaus anschaulich verdeutlichen. Durch die Rhetorik der ungarischen Regierung bezüglich Flüchtlingskrise, Gender Studies und Bevölkerungsrückgang zieht sich ein und derselbe rote Faden, und zwar das Thema des schädlichen Liberalismus. Die Medienanalyse hat klar gezeigt, dass, obwohl die Bedeutung der demografischen Tendenzen außer Frage steht, die Hervorkehrung der konservativen Familie als Wert in den regierungsnahen Medien nicht nur zum Kinderkriegen anspornt, sondern mittels Panikmache auch der Erhaltung der Macht dient.

 
Weiterführende Literatur

Ernesto Laclau: A populista ész (On populist reason), Noran Libro, 2011
 
Ausgabe der Zeitschrift Fordulat zum Thema Populismus fordulat.net/?q=huszonkettedik
 
Infografik von Átlászó.hu über die Eigentümerstruktur der ungarischen regierungsnahen Medien adatujsagiras.atlatszo.hu/2018/11/28/infografika-matol-igy-nez-ki-a-kormanyparti-media-tulajdonosi-szerkezete

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