Interview mit Zsolt Szomora
„Es ist heute schwer, diese Musikkultur am Leben zu erhalten“
Zsolt Szomora ist Primas, Vertreter der traditionellen Kaffeehaus-Zigeunermusik. Die vom Goethe-Institut im Oktober 2020 organisierte Veranstaltungsreihe Rikárdó hat dennoch etwas ausgekocht wurde mit einem open-air Konzert im 8. Bezirk von Budapest, inmitten der Neubausiedlung um die Szigony Straße herum eröffnet. Die Bewohner konnten aus ihren Fenstern der Lashe Shave Band sowie Zsolt Szomora und seinen Musikern zuhören. Mit Zsolt Szomora führte Andrea Pócsik im November 2020 ein Interview.
Ich beginne mit denselben allgemeinen Fragen, mit denen ich auch das Gespräch mit Tamás Szegedi eingeleitet habe, weil es mich besonders interessiert, welche Ähnlichkeiten und Parallelen die verschiedenen Kunstgattungen aufweisen: Wo und wann wurdest du zum ersten Mal als „Roma-Künstler“ angesprochen? Welches Erlebnis ist damit verknüpft?
Da ich in einer Musikerfamilie aufgewachsen bin – mütterlicher- wie auch väterlicherseits hat schon seit Generationen jeder in meiner Familie sein Brot als Musiker verdient –, war es für mich schon als kleines Kind eine natürliche Gegebenheit, dass meine Alltagserlebnisse meist im Kontext der Musik entstanden. Das erste wirklich entscheidende Erlebnis hatte ich 1986 im Alter von sechs Jahren, als mein Bruder Palika Szomora im Budapester Kongress-Zentrum einen Auftritt als jüngster Prímás des „Hundertköpfigen Zigeunerorchesters“ hatte und das Orchester anführte. Im Alter von sechs Jahren begann ich an der Musikschule in der Dohány-Straße Musik zu lernen, mit vierzehn Jahren kam ich in das Rajkó-Ensemble, in dem ich zwei Jahre lernte, danach durfte ich im „Hundertköpfigen Zigeunerorchester“ weiterlernen und spielen. Diese Lehrjahre wirkten sehr prägend auf meine darauffolgenden Jahre, da ich bei den besten Musikern und Prímás-Geigern unendlich viele Erfahrungen und Kenntnisse sammeln konnte: zum Beispiel bei Lajos Boross, László Berki, Sándor Buffó Rigó, Sándor Járóka, und ich könnte noch viele andere aufzählen. Ab meinem achtzehnten Lebensjahr spielte ich dann als selbstständiger Prímás in der Welt der Restaurants. Von da an hatte ich kontinuierlich Anfragen und Möglichkeiten in Gaststätten und Kaffeehäusern, sowohl in Ungarn als auch im Ausland.
In welchen Musikrichtungen hast du das Musizieren begonnen?
Anfangs in der klassischen oder Kaffeehaus-Zigeunermusik in traditioneller Besetzung: Zymbal, Kontrabass, Bratsche, Geige. Das hat sich im Laufe der Jahre geändert, später spielte ich auch in Begleitung von Klavier, Gitarre, Akkordeon und auch mit einem Salonorchester. 1999 wurde ich Mitglied im Honvéd-Ensemble unter der Leitung von Antal Szalai, wo wir Liszt, Brahms, Strauss, klassisch-ungarisches volkstümliches Kunstlied, Operetten und auch Volksmusik spielten. Zwischen 2004 und 2011 folgte ich zahlreichen Einladungen aus dem Ausland und spielte in verschiedensten Formationen in Marokko, Brasilien, Japan, Belgien und Monaco. Auch auf Kreuzfahrtschiffen der Princess Cruises Line und der Costa Cruises Line hatte ich mehrfach Engagements.
Das ist also eine Konstante in deiner Laufbahn: Du spieltest immer die traditionellen Musikrichtungen, nur die Besetzung der Ensembles variierte. Inwiefern war das eine bewusste Entscheidung? Es ist bekannt, dass die Kaffeehaus-Zigeunermusik (oder, mit anderem Namen, die Unterhaltungs- oder Dienstleistungs-Musik in Gasthäusern) schon seit Anfang des Jahrhunderts im Verfall begriffen war, was sich in mehreren Wellen bemerkbar machte. Es gab immer wieder Bemühungen, sie neu zu beleben, auch in der näheren Vergangenheit. Verspürst du ein „Sendungsbewusstsein“, zur Fortsetzung und Aufrechterhaltung dieser Traditionen persönlich beizutragen? Oder inwieweit ist das eine familiäre Prägung, eine bestimmte Form der Existenzsicherung?
Das ist eine vielschichtige Angelegenheit: Das Erbe meines Großvaters ist die stärkste Inspirationskraft. Mein Großvater war Gyula Farkas, der 1952 das Rajkó-Ensemble gegründet hatte. Er selbst war, wie auch sein Großvater und Vater, Komponist und Dirigent. Ich und auch mein Bruder haben schon als Kinder miterlebt, wie er morgens die Kinder im Rajkó-Ensemble unterrichtet und erzogen und am Nachmittag dann zu Hause Privatstunden gegeben hat. Wir sahen, wie er Noten schrieb und wie er instrumentierte, und wie er die junge Generation an die Raffinessen unserer musikalischen Tradition – und auch an ihre Pflege und Weitergabe – heranführte. Ich bin bemüht, auch auf anderen kulturellen Gebieten tätig zu sein; das habe ich von meinem Vater abgeguckt und von ihm gelernt, er ist ebenfalls Musiker, Kontrabassist. Er hat mich in die Aufgabenbereiche der öffentlichen Bildung eingeführt. Zwischen 2006 und 2010 war ich Abgeordneter im VI. Budapester Bezirk – und in Üllő, an meinem Wohnort, wo ich 2009 mit meiner Familie hingezogen bin, bin ich seit 2010 Präsident der Roma-Selbstverwaltung. 2017 habe ich den Gyula-Farkas-Traditionsverein gegründet. In beiden Einrichtungen organisiere ich Veranstaltungen zur Bildung und zur Traditionspflege – hierzu gehört natürlich auch die ungarische Kaffeehaus-Zigeunermusik. Doch so wie die Welt, muss sich natürlich auch die Musik anpassen und verändern. Man erwartet von uns Musikern nicht immer die traditionellen Stilrichtungen und Besetzungen. Seit Jahrzehnten schon spielt jeder Musiker, das kann ich sagen, auch Tanzmusik, Salonmusik und im Django-Stil.
Habt ihr euch auch auf diese Weise der Band „Lashe Shave“ angeschlossen? Denn sie vertreten doch eine andere Richtung: urbane Folklore, Roma-Volksmusik vom Balkan.
Ja, eigentlich spielten wir zum ersten Mal im Rahmen des Rikárdó-Festivals mit ihnen zusammen. Doch dieser Trend hält schon seit 20–25 Jahren an: Mitglieder der Kaffeehaus-Zigeunerkapellen wirken in Jazzbands oder auch in traditionelle Volksmusik spielenden Folklore-Ensembles mit. Ich meine, beim Rikárdó-Festival war aber etwas anderes wichtig und wertvoll: die Freude am gemeinsamen Musizieren.
Ich nehme an, dass es auch für den Verein für Traditionspflege wichtig ist, junge Leute mit einzubeziehen. Wie siehst du die Situation in Ungarn? Wie kann man Jugendliche dazu inspirieren, diese Werte anzuerkennen und die Traditionen fortzusetzen? Eventuell sogar auch dann, wenn sie nicht aus Familien von Zigeunermusikern stammen.
Es ist heute sehr schwer geworden, diese Musikkultur am Leben zu erhalten, aber wir müssen sie bewahren und pflegen. Über die letzten paar Jahre kann man sagen, dass der Aufschwung im Tourismus die Situation der Musiker in der Gastronomie positiv beeinflusst hat – es gab mehr Möglichkeiten und Gelegenheiten zum Musizieren. Die Lokalbesitzer haben wieder erkannt, welch wichtige Rolle die Zigeunermusik im kulturellen und gastronomischen Leben Ungarns spielt. Auch die ungarische Regierung hilft mit verschiedenen Programmen, diese Gattung lebendig zu halten und zu bewahren. Abgesehen davon gibt es aber das sehr große Problem, dass es keinen Nachwuchs, keine musikalische Ausbildung, keinen Unterricht gibt. Wir versuchen mit dem Verein Veranstaltungen – etwa Aufführungen mit ungarischen volkstümlichen Kunstliedern und Ausstellungen – zu organisieren, in deren Rahmen wir unter Mitwirkung von eingeladenen Künstlern, Sängern und Musikkapellen die alten Traditionen aufleben lassen.
Sucht man nach Gründen für dieses Problem, welche sind die wichtigsten? Der fehlende institutionelle Rahmen – als einzige Ausnahme kann man das „Snétberger Zentrum für Musikalische Talente“ erwähnen –, oder aber schwindet die Anziehungskraft dieser Kunstgattung, dieser Stilrichtung selbst unter dem Einfluss der neueren Musiktrends?
Der fehlende Nachwuchs und die verengten Möglichkeiten wirken sich auf die gesamte Kunstgattung aus. Auch das Rajkó-Ensemble existiert nicht mehr in seiner früheren Form. Diese Art Werte zu schaffen ist ausgestorben, es gibt kein Orchester oder keine Schule mehr, wo man Jugendliche unterrichten würde. Vor zwanzig, dreißig Jahren hatte man begonnen, auf Abstand zu dieser Kunstgattung zu gehen – es wurden ja immer mehr Arbeitsmöglichkeiten abgebaut, eine nach der anderen, es wurden immer mehr Gaststätten geschlossen. Gegenwärtig ist die Ausbreitung des Virus das größte Problem. Auch andere Stilrichtungen sind betroffen, aber vielleicht die Kaffeehausmusik am schwersten. Denn wir haben keinerlei Interessenvertretung, keinen Zusammenhalt. Wir befinden uns, wie ich es sehe, im Prozess einer totalen Umgestaltung.
Wo liegt die Ursache für die fehlende Interessenvertretung? Funktioniert das System der Roma-Selbstverwaltung nicht, oder liegt es an der Zerrissenheit der Berufsgruppe?
Da gibt es mehrere Ursachen. Für den Zusammenhalt und die Institutionalisierung braucht es Lehrer, die die jungen Leute inspirieren. Doch gegenwärtig kämpft jeder um das eigene Überleben.
Wenn wir ein konkretes Beispiel nehmen: Lajos Kathy-Horváth, der Leiter des Roma-Kultur- und Unterrichtszentrums der Hauptstadt (FROKK), ist selbst auch Musiker. Gibt es dort solche Initiativen? Das könnte doch auch deren Aufgabe sein, oder?
Aber ja. Nur weiß ich von keiner derartigen Initiative.
Wie sieht es im Ausland aus? Du verfügst sicher über viel Erfahrung diesbezüglich, denn du spielst ja häufig im Ausland – jetzt zum Beispiel fahrt ihr nach Mailand.
Ungarische Musiker hatten früher sehr häufig Gastspiele im Ausland. Man wusste genau, was sie repräsentieren, was sie spielen und wie sie die Gäste unterhalten. Zahlreiche Zigeunerkapellen spielten überall auf der Welt, und sie brachten den Interessierten diese ungarischen kulturellen Werte und Traditionen auf unterhaltsame Weise nah. Für heute aber kann man konstatieren, dass nur sehr-sehr wenige ins Ausland reisen können, um Musik zu machen, weil sich die musikalische Auffassung, die Ansprüche und Erwartungen gegenüber der Musik sehr gewandelt haben.
Wenn du formulieren müsstest, was die wichtigsten Werte der Kaffeehaus-Zigeunermusik sind, welche würdest du nennen?
Dinge, die auch unsere Vorfahren vertreten haben. Sie haben die jahrhundertealten traditionellen Stilrichtungen und Gattungen der ungarischen Musik hochgehalten, das volkstümliche Kunstlied, den Csárdás, die Volkslieder und den Verbunkos. Die Art und Weise, wie die Instrumente – das Cello, das Zymbal, die Bratsche usw. – zusammenspielen, den Vortrag und vor allem die Unterhaltung der Gäste auf hohem Niveau. Überaus wichtig ist das Aussehen, die Eleganz. Leider gibt es heute nur noch ganz wenige Orte, an denen komplette Zigeunerkapellen spielen und die Gäste unterhalten.