Soziale Architektur
Die Dorfbeschützer

Der Tiger am Eingang von Szakácsi
Foto (CC BY-SA): Márton Botond - Sziget Festival Official

Ein architektonisches Geschenk verleiht der von Armut und Zwist geprägten Dorfgemeinschaft im ostungarischen Szakácsi Kraft zum gemeinsamen Handeln.

Es geschah im Sommer 2012. Schon seit Tagen munkelte man, der Tiger sei in der Gegend unterwegs. Manche schüttelten ungläubig den Kopf, andere wagten zu schwören, sie hätten ihn mit eigenen Augen gesehen. Die Kinder zogen sich abends die Steppdecke über den Kopf und zeichneten mit ihren Fingern die Streifen des Tigers auf die Decke. Die alten Leute rauchten bis zur Abenddämmerung Pfeife vor ihren Häusern, und bevor sie sich zur Ruhe legten, blickten sie blinzelnden Auges in die Weite. In der Abenddämmerung schien es mitunter, als blitzte aus der Ferne das Auge des Tigers auf.

Im Juli kam er an. Mit der Gleichgültigkeit einer riesigen Katze spazierte er seelenruhig ins Dorf hinein, schlich auf weichen Pfoten lautlos um die Häuser. Dann blieb er stehen und schaute noch einmal zurück, in Richtung der fernen Berge. Nun wussten die Dorfbewohner, dass er für immer unter ihnen leben würde. Auch in den düstersten Nächten müssten sie sich nicht mehr fürchten – der Tiger würde über ihre Träume wachen.

Obwohl es wie ein Märchen klingt, ist doch jedes Wort der obigen Geschichte wahr. Das Dorf heißt Szakácsi, befindet sich im nordostungarischen Komitat Borsod und ist Ungarns ärmste Gemeinde. Und der Tiger ist zwar nicht aus Fleisch und Blut, dafür aber überlebensgroß: Er ist eine gemeinsame Kreation der Künstlergruppe Hello Wood und des Bildhauers Gábor Miklós Szőke.

Mit der Kunst dem Gemeinwohl dienen

Die Geschichte von Hello Wood begann 2010, als eine Handvoll Architekturstudenten es nach der Wirtschaftskrise satt war, nur in der Theorie bauen zu dürfen. Unter Leitung von Péter Pozsár, einem Dozenten der Moholy-Nagy-Universität für Kunsthandwerk und Gestaltung (MOME), zogen sich die jungen Kreativen in ein Camp zurück, um aus Holz alles zu bauen, was das Material nur hergibt.

Péter Pozsár erzählt: „Im Laufe der Zeit wurde die – fast ausschließlich mit Holz arbeitende – Gruppe immer größer. Gleichzeitig dachten wir darüber nach, wie wir mit der Kunst irgendwie dem Gemeinwohl dienen könnten. Gerade zu dieser Zeit hörten wir von dem Ort Szakácsi, wo fast ausschließlich in tiefer Armut lebende Roma wohnen. Erst hatten wir die Idee, dass wir ein paar Häuser kreativ renovieren könnten. Das haben wir dann aber wieder verworfen, weil es unter den Bewohnern des Ortes Neid hätte schüren können. Gemeinsam mit ihnen haben wir schließlich herausgefunden, dass wir dem Dorf etwas geben müssen, das zugleich keinem und allen gehört.“

Und der Tiger gehört tatsächlich keinem und allen. Die Dorfbewohner, die als Roma ihre fernen Wurzeln in Indien wissen, schlugen vor, dass die Intervention das Tier zum Gegenstand haben sollte. Und sie sehen in dem Kunstwerk nicht nur eine Verschönerung, sondern auch ein Symbol, das sie als etwas Eigenes empfinden.

Die drei Meter hohe Tierskulptur wurde unter Mitwirkung einer Gruppe von Architekturstudenten innerhalb einer Woche fertiggestellt. Die größte Herausforderung war allerdings gar nicht der Bau selbst, sondern der Transport: Der Tiger passte nämlich nicht durch das Tor des Camps. So konnten die Studierenden ihre Kenntnisse in puncto Statik in der denkbar angespanntesten Situation testen. Schlussendlich wurde alles erfolgreich gelöst, und das Fahrzeug, das den Tiger transportierte, konnte in Szakácsi eintreffen.

Als der Ihre empfunden

Die Einwohner von Szakácsi feierten ein großes Fest, um den Tiger zu begrüßen: Im Gemeinschaftshaus des Dorfes standen eine gigantische Menge Gulasch sowie selbstgebrannter Schnaps für die Architekten bereit, und natürlich durfte bei der Feier auch die traditionelle Musik nicht fehlen. Schon der Abend an sich war ein gewichtiges soziokulturelles Ereignis, doch – gerade am Anfang – waren viele der Budapester Architektur- und Designstudierenden sprachlos angesichts dieser erhebenden und besonderen Mischung von Armut und Freundlichkeit.

Die große Frage war natürlich, inwieweit die Dorfbewohner den Tiger tatsächlich als den ihren empfinden, und natürlich auch, wie gut sie auf ihn aufpassen würden.

Péter Pozsár über die Reise des Tigers nach Budapest: „Das Sziget-Festival hat den Tiger offiziell für eine Woche von den Einwohnern von Szakácsi ausgeliehen, und die Dorfbewohner waren sehr stolz darauf, dass endlich einmal sie diejenigen waren, die etwas an die Budapester ausleihen konnten. Nachdem der Tiger nach dem Festival wieder ins Dorf zurück transportiert worden war, erhielt ich einen panischen Anruf aus Szakácsi: Es gäbe ein großes Problem – dem Tiger fehle der eine Zahn, und der andere sei mit Ketchup beschmiert! Das zeigt doch wunderbar, in welchem Maße die Menschen in Szakácsi den Tiger schon zu diesem Zeitpunkt als den ihren empfanden und mit wie viel Sorge sie auf ihn aufpassen.“

Vielleicht ist es auch dem Tiger – ihrem Tiger – zu verdanken, dass die zuvor zerstrittene und resignierte Gemeinschaft einige Zeit, nachdem der Tiger aufgestellt worden war, mit vereinten Kräften ein erfolgreiches EU-Projekt startete.

Der Drache

Der Tiger ist nicht die einzige Kreation, mit der die Architekten von Hello Wood den Alltag der Menschen im Bezirk Borsod bereichert haben. Unweit von Szakácsi liegt die Gemeinde Bódvalenke, ebenfalls Heimat vieler sehr armer Roma-Familien. Bis zum heutigen Tage gehen die Frauen des Dorfes zum Waschen an einen Bach, dessen Wasser sie über ein Eisenrohr in die zum Waschen verwendete Holzwanne leiten. Im Winter allerdings gefriert das Wasser im Rohr. Deshalb umwickelten die Frauen das Rohr bisher mit Tüchern, welche anschließend angezündet werden, um das Eis im Rohr zum Schmelzen zu bringen. Das Team von Hello Wood leistete hier seinen Beitrag zur örtlichen Kreativität, indem es eine Holzkonstruktion errichtete, dank derer die Frauen beim Waschen nicht mehr im schlammigen, sumpfigen Wasser stehen müssen. Zudem wurden auf der Konstruktion Sitzgelegenheiten geschaffen, auf denen sich die Frauen ausruhen können; den Kindern dienen sie zugleich als Klettergerüst. Auch den hölzernen Wäschetrockner von Bódvalenke schmückt ein altes Symbol: der Drache.

Die Menschen von Bódvalenke haben ihren Wäschetrockner dieses Jahr neu gestrichen, um ihn vor der Witterung zu schützen. Derweil wurde in Szakácsi der verloren gegangene Tigerzahn ersetzt. Insgesamt haben sowohl die Bewohner von Szakácsi als auch die von Bódvalenke in den vergangenen zwei Jahren sehr auf die Objekte ihres neuen Stolzes aufgepasst – so wie der Tiger und der Drache während der langen Nächte von Borsod stets der Dorfbewohner Träume hüten.
 

Top