Soziale Architektur in Ungarn
Architektur auf der Gratwanderung
Ende der 1990-er Jahre verstärkten sich in der Architektur Ansätze, die im Gegensatz zu Projekten von Star-Architekten schlicht und sozial engagiert waren, auf freiwilliger Basis beruhten und eigens für kleine Gemeinschaften entstanden. Diese schwer definierbare Bauweise wird in der englischen sowie ungarischen Fachpresse meist als soziale Architektur, genauer gesagt sozial engagierte Architektur bezeichnet. Weitere charakteristische Kennzeichen dieses Baustils sind die lokale und persönliche Anwesenheit der Architekten, die intensive und innovative Verwendung vor allem von regionalen Materialien sowie die gegenseitige Beachtung und der Wissensaustausch zwischen Architekten und Bewohnern. Im Fokus stehen marginalisierte Gruppen, Menschen, die unter dem Existenzminimum leben sowie Gemeinschaften, die temporär oder permanent in Armut leben müssen.
Ähnlich den internationalen Phänomenen kann auch in Ungarn von einer Denkweise gesprochen werden, die der sozial engagierten Architektur entspricht. Sie weist sowohl Gleichheiten als auch Unterschiede und Eigenheiten auf, durch die sich die ungarische und osteuropäische Bauweise von den globalen Trends abhebt.
Der Beginn des gegenwärtigen Baustils im Sinne der sozialen Architektur kann in Ungarn – mit Ausnahme einiger herausragender Architekten, die in ihrer Anschauung ihrer Zeit bereits deutlich voraus waren – ungefähr um das Jahr 2008, also die Zeit der Wirtschaftskrise datiert werden. Die Gründe hierfür liegen ohne Anspruch auf Vollständigkeit vermutlich in den neugewonnenen architektonischen Kapazitäten sowie im Kennenlernen internationaler Trends in Ungarn. Außerdem, oder gerade aufgrund dessen ist es auch wichtig zu erwähnen, dass solche sozial engagierten Trends und aktivistische Ansätze hauptsächlich für einzelne Architekten oder Architektengruppen der jungen Generation charakteristisch sind, die ihre Arbeit merkwürdigerweise ziemlich isoliert voneinander verrichten, obwohl doch zwischen ihren Zielen, Mitteln und Möglichkeiten eine beträchtliche Ähnlichkeit besteht.
internationaler Vergleich
Internationale Projekte im Stile der sozial engagierten Architektur weisen häufig ähnliche Ausprägungen auf, und sind meist das Ergebnis notwendiger oder teils sogar zufälliger Kooperation und gemeinsamer Arbeit zweier Parteien über Grenzen, Kulturen und oftmals auch über Kontinente hinweg.
Solch eine Zusammenarbeit entstand beispielsweise zwischen den jungen norwegischen Architekten (TYIN tegnestue Architects) und einer vietnamesischen zivilen Organisation, die die Erweiterung eines Waisenheimes zur Folge hatte. Ein weiteres ähnliches Projekt wurde von der Architektin Anna Heringer, Gastprofessorin an der Universität Wien, in Kooperation mit der indischen Gemeinde Rudrapur durchgeführt. So entstand durch die Neuinterpretation der Verwendung regionaler Materialien ein neues Schulgebäude. Die zahlreichen schönen und in der Tat gut funktionierenden Projekte haben alle das Aufeinandertreffen westlichen Wissens bzw. architektonischer Anschauungen mit regionalen Bedürfnissen und Materialien gemeinsam. Die weitreichende Verbundenheit zwischen den Parteien gewinnt schließlich durch ihre persönliche Anwesenheit und das gemeinsame Bauen vor Ort an Tiefe und wahrer Wirkungskraft.
Anders verhält es sich gewissermaßen mit den Arbeiten des amerikanischen Rural Studios, die bereits seit zwei Jahrzehnten laufen. Das zur University of Alabama gehörende Studio reagiert hauptsächlich auf lokale kulturelle bzw. gesellschaftliche Bedürfnisse und Mängel.
Ungarische Initiativen
Auch in Ungarn sind die Ansätze ähnlich: Hier stehen hauptsächlich gesellschaftliche Fragen und Probleme aus Ungarn oder dem Karpatenbecken im Vordergrund.
Nach dem Verfolgen und Kennenlernen der internationalen Baukunst Ende der 2000er Jahre gewannen marginalisierte Kleingemeinden auch in der ungarischen Architektur mehr an Aufmerksamkeit. Man erkannte, dass die Architektur als Mittel grundlegend zur Bewältigung bzw. Lösung einiger Probleme dieser Gemeinden beitragen kann. Es wurden zahlreiche Versuche und Initiativen von der Basis her gestartet, die allesamt einen überaus komplexen und steinigen Weg gehen mussten, da neben architektonischer Intelligenz auch die gemeinschaftsstiftende Kompetenz und das Wissen um die Finanzierung gut ausgeprägt sein müssen. Die Vertreter der ungarischen sozialen Architektur müssen sich auf Feldern bewegen, in denen die heimischen Wurzeln kaum auszumachen und die Ziele schwer definierbar sind. Dennoch ist dieser Ansatz ein wichtiger, der allem Anschein nach aus seinen Kinderschuhen herauswachsen und hoffentlich in den nächsten Jahrzehnten zu einem beachtlichen Teil der architektonischen Denkweise werden kann.
Das inzwischen mehrjährige Projekt der ungarischen technischen Universität BME in Monor (Péter Fejérdy DLA, Katalin Fazekas, Balázs Kemes, Miklós Oroszlány) ist nicht nur für die Qualität der Architektur ein herausragendes Beispiel, sondern auch für eine einwandfreie Best Practice. Die Kooperation ist hier nicht nur zwei-, sondern sogar dreiseitig. Der angestrebte Baustil trifft hier sowohl auf die Bedürfnisse der lokalen Gemeinde als auch auf die sozialen Ziele des Ungarischen Malteser Caritas-Dienstes. Diese Zusammensetzung ist ideal, da der Architekt kein unberührtes oder völlig fremdes Feld betritt. Der Caritas-Dienst, der sich schon lange in der Ortschaft Monor befindet, kennt nämlich die Geschichte der lokalen Gemeinde gut, wie auch dessen Beziehungssystem, aktuelle gesellschaftliche Situation und Bedürfnisse. Aus diesen kann auch die Baukunst zahlreiche gut interpretierbare Elemente schöpfen. So entstand im Sommer 2014 mit Hilfe der regionalen Ressourcen eine Biobrikett-Fabrik, die sowohl aus architektonischer als auch aus funktionaler Sicht als ein anschauliches Beispiel dient.
Ein ähnlich spannendes Projekt ist das Programm von Vera Holczer, das sich, gestützt auf ihre Diplomarbeit, über die Jahre stets weiterentwickelt hat und in dessen Rahmen in der Kleingemeinde Markóc Gemeindeplätze, Obstverarbeitungseinrichtungen und Trockner errichtet wurden. So wollte man die Architektur mit dem Schaffen einer kleinen Manufaktur verbinden.
Auch in einem der Labors der ungarischen MOME Universität (Moholy-Nagy-Universität für Kunsthandwerk und Gestaltung) konnte die sozial und gesellschaftlich engagierte Architektur zur Geltung kommen. Das Projekt Cloud Factory in Bódvavölgy, das von Bori Fehér geleitet wird, vertritt einen etwas komplexeren und theoretischeren Ansatz. Neben der lokalen Arbeit und der persönlichen Anwesenheit der Architekten werden auch die selbstreflexive Analyse der Prozesse sowie die längerfristige strategische Planung betont. Hierbei kann das Design zum Mittel werden, das durch die Erkenntnis und die mögliche Problemlösung eine Interpretation auch auf lokaler Ebene ermöglicht.
Think Global, Build Social!
Die oben genannten Projekte wie die der István-Széchenyi-Universität in Bogyoszló wurden im Zuge der Ausstellung Think Global, Build Social! miteinander in Verbindung gebracht, die, kuratiert von Andres Lepik, bald auch in Budapest zu sehen sein wird. Die Ausstellung, die internationale Projekte vorstellt, wird um eine Sektion erweitert, in der die ungarischen Versuche, darunter auch die oben beschriebenen Arbeiten, weitläufig vorgestellt werden. Die ungarische Abteilung soll dem breiten Publikum zeigen, dass es Initiativen solcher Art gibt, und möchte gleichzeitig für die isoliert voneinander arbeitenden Gruppen den Austausch ihrer Erfahrungen und Wissen ermöglichen.