Alejandro Aravena
„Die Arbeit muss so fernab von der Architektur beginnen wie nur irgend möglich“
Die Architektur wird bisweilen als die höchste zivilisatorische Form der Kunst bezeichnet. Wird nun das Augenmerk auf den zivilisatorischen anstatt auf den künstlerischen Aspekt dieser Auffassung gelegt, so kommt man der ursprünglichen Funktion und dem ursprünglichen Zweck der Architektur näher. Obwohl ihre symbolische Rolle seit Anbeginn der menschlichen Zivilisation, allen voran aus religiösen Gründen, eine kultur- und gesellschaftsformende Kraft innehatte, diente die Architektur in erster Linie immer schon zur Lösung praktischer Probleme.
Ohne zu weitgehende und vereinfachende Schlüsse im Zusammenhang mit der „gegenwärtigen Lage“ der Architektur zu ziehen, sagt es doch einiges aus, dass diese sich ausbreitende, neue Welle der sozialen Architektur im gängigen Diskurs der letzten Jahre als etwas präsent war, das einerseits eine Lücke im meist doch noch in symbolischen Gebäuden denkenden und von Stararchitekten dominierten Metier füllt, andererseits jedoch – und das ist noch viel wichtiger – hilfsbedürftigen Gemeinschaften Lösungen und nachhaltige Lebensmodelle bieten kann.
„Während in Ungarn mit social architecture fast ausschließlich für einkommensschwache Schichten errichtete Mietwohnungen gemeint sind, wird der Begriff in anderen Teilen der Welt breiter gefasst: Anderenorts wird darunter nämlich jede Art von Investition verstanden, die der nachhaltigen Entwicklung der lokalen, wirtschaftlich schwachen Gemeinden dient. Während sich das in Europa hauptsächlich auf neuartige öffentliche Räume bezieht, fallen in Entwicklungsländern darunter ganz grundlegende Gebäude wie Schulen.” (Hg.hu)
Sei es im Hinblick auf die 2008 ausgebrochene Wirtschaftskrise, auf Naturkatastrophen oder die Polarisierung von Gesellschaften, der „zivilisatorische Anspruch“ an die Architektur, die Probleme der Menschen, Gemeinschaften und unterschiedlichen Gesellschaftsschichten zu lösen, ist eindeutig gestiegen.
Die Architekten haben den Bezug zur Realität verloren
„Es gibt nichts Schlimmeres als die richtige Antwort auf die falsche Frage zu geben“ – erklärt der chilenische Architekt Alejandro Aravena dem Architektur-Magazin Dezeen. Die größte Gefahr für die Architektur sieht er darin, dass sie den Bezug zur Realität verliert und keine Antworten mehr auf die wahren Fragen geben und somit auch keine tatsächlichen Probleme lösen kann. Es war die langjährige Erfahrung des 48-Jährigen, die ihm gezeigt hat, dass man in der Architekturbranche ständig mit den anderen Architekten kommuniziert und auch seine Gebäude für sie baut.Gerade deshalb hatte laut des Guardian die Auszeichnung Aravenas 2016 mit dem bedeutendsten Architekturpreis der Welt, dem Pritzker-Preis, den die Jury eigentlich „älteren Architekten für imposante kulturelle Bauten” gegen Ende ihrer Karriere zu verleihen pflegt, Symbolcharakter.
2015 beispielsweise wurde Otto Frei für das 1972 fertiggestellte Münchener Olympiastadion posthum mit dem Preis geehrt. Es sei aber auch erwähnt, dass der Preis im Jahr davor an Shigeru Ban ging, der aus recycelten Kartonröhren Häuser für obdachlos gewordene Opfer der krisenerschütterten Gebiete errichtet hatte.
Das gemeinnützige Architekturprojekt von Alejandro Aravena bietet Notleidenden nicht nur einmalige Unterstützung, indem es ihnen zu einer Wohnung verhilft, sondernd kann eine reale Alternative für den Weg aus der Armut bedeuten. Als Kurator der Architekturbiennale Venedig 2016 sucht Aravena in erster Linie nicht Antworten auf architektonische, sondern auf gesellschaftliche und menschliche Fragen, so zum Beispiel auf die Migrationskrise. Manche vertreten die Auffassung, dass schon die Idee zum Konzept der Sozialwohnung, das er mit der Elemental-Gruppe erarbeitet hat, einen Wirtschaftsnobelpreis verdient hätte.
Wenn du kein Geld für ein schönes Haus hast, dann bau eben ein halbes schönes Haus!
Aravena wurde 1967 in Santiago de Chile geboren, Anfang der 2000-er unterrichtete er in Harvard, wo in ihm auch die beschriebenen Überlegungen heranreiften und ihn schließlich dazu bewegten, das Kollektiv namens Elemental zu gründen, das aus mehreren, gleichgesinnten Architekten besteht und praktische Lösungen auf grundlegende gesellschaftliche Probleme mittels des sogenannten „participatory design“, also einer kommunikativ-kollaborativen Planung, sucht. 2004 rückte eines der Projekte von Elemental, das den gemeinnützigen Wohnungsbau neu interpretierte, in den relativen Fokus der Aufmerksamkeit.In der Hafenstadt Iquique in Nord-Chile musste die Wohnsituation von einhundert „Hausbesetzer“-Familien, die illegal auf einem Gelände von einem halben Hektar im Zentrum der 200.000-Einwohner-Stadt lebten, gelöst werden. Vom Staat erhielten die Familieneine Unterstützung von jeweils umgerechnet circa 6500 Euro, um ihre Situation zu regeln, das heißt, das Grundstück zu kaufen und darauf zu bauen. Da dieses Geld nicht einmal für einen Bruchteil dessen gereicht hätte, hätte das in der Praxis bedeutet, dass die Familien an den Stadtrand umgesiedelt und dadurch abermals von ihren Arbeitsplätzen und ihrer gewohnten Umgebung (nämlich der Stadt) abgeschnitten worden wären, wodurch ihre gesellschaftliche Lage nur noch verschlimmert, ja praktisch in Stein gemeißelt worden wäre.
Die Idee von Aravenas Team war es, die Häuser nur zur Hälfte aufzubauen, genauer gesagt, das Betongerüst der Wohnungen mit Küche, Bad und Dach, der restliche Teil wurde den Familien zur Fertigstellung überlassen. Dadurch wurden sie einerseits ermuntert, ihren Wohnraum ihren eigenen Bedürfnissen entsprechend zu gestalten, beziehungsweise mithilfe der Sozialunterstützung die Sache selbst in die Hand zu nehmen und sich selbst zu helfen, andererseits wurde dem Wohnblock dadurch ästhetisch gesehen ein farbenfroheres, menschlicheres Erscheinungsbild verliehen.
Für Hilfe beim Wiederaufbau nach dem Tsunami wandte man sich an ihn
Aravena ist der Meinung, den Architekten würden in der Ausbildung nicht die richtigen Dinge vermittelt. Viele von ihnen hätten schon im Vorhinein ihre Fragen und das mache ihr „Gehör selektiv“. Sie würden nur hören, was sie wollen und die Sprache, die sie gebrauchen, sei nur für Architekten verständlich. Einer der Grundsätze, auf dem Elemental basiert, ist der ständige Dialog mit den Betroffenen, der es ermöglichen soll, gemeinsam nach den entsprechenden Fragen – also den tatsächlichen Problemen – zu suchen und nicht nur vorweg formulierte Antworten zu liefern. „Die Arbeit muss so fernab von der Architektur beginnen wie nur irgend möglich“, sagt Aravena.Die Arbeit von Elemental aus dem Jahr 2004 wurde 2008 auf der Architekturbiennale in Venedig mit dem Silbernen Löwen ausgezeichnet, was jedoch noch viel wichtiger ist, ist die Tatsache, dass die Formel bis heute zur Anwendung kommt, sodass insgesamt bereits 2500 ähnliche Objekte in verschiedenen Städten in Chile und Mexiko übergeben werden konnten. 2010, als Chile vom Erdbeben und dem anschließenden Tsunami verwüstet wurde, wandte man sich an Aravena und sein Team für Hilfe beim Wiederaufbau der Stadt Constitución. Mittlerweile werden die (halbfertigen) Wohnhäuser von Elemental schon im chilenischen Fernsehen beworben.
Elemental Wohnhaus in Mailand
Chance für die Armen – ein nachhaltiges, marktfähiges Modell
Was in Aravenas Modell abgesehen von den bereits erwähnten Aspekten echte Antworten auf gesellschaftlicher Ebene liefern kann, ist die Tatsache, dass eine solche sozial engagierte Architektur einen elementaren Teil der urbanen und wirtschaftlichen Struktur von Siedlungen ausmachen kann: Dank der 2004 erbauten ersten Wohnungen konnten die Menschen, die für gewöhnlich in der Praxis an die Peripherie gedrängt werden und dann dort festsitzen, nicht nur im Stadtzentrum und in der Nähe ihrer Arbeitsplätze bleiben, sondern der Wert der Wohnungen hat sich – gerade aufgrund der zentralen Lage – seither verfünffacht.Damit bietet Aravena (etwas vereinfacht gesagt) eine elementare, selbstermächtigende und selbstgenerierende Lösung zur Bekämpfung der Armut: Er baut mit wenig Geld auf teuren Grundstücken, wodurch er den ärmeren Schichten beispielsweise ermöglicht, Zugang zu besseren Schulen zu haben beziehungsweise durch die bessere Verkehrsanbindung zu einem Teil der urbanen Infrastruktur zu werden.
Wenn Mangel herrscht, machst du nichts Überflüssiges
Auch als Kurator der Architekturbiennale 2016 in Venedig wird Alejandro Aravena diesen Gedanken und praktischen Leitsatz präsentieren. Auf der Architektur-Fachveranstaltung möchte er einen halbjährigen Dialog schaffen, in erster Linie jedoch nicht in Form der Erörterung architektonischer Fragen, sondern durch das Aufzeigen und die Diskussion von Situationen aus der Praxis, in denen die Architektur und das menschliche Dasein als sich gegenseitig bedingende Faktoren untrennbar miteinander verbunden sind. Die Ausstellung läuft unter dem Titel Reporting from the Front, zu Deutsch „Bericht von der Front“.Die Katholische Univerität Santiago, Chile
Aravena würde der alten Wahrheit auch in der Architektur Gültigkeit zugestehen: Not und Mangel sind der Schlüssel zu Kreativität und Zweckmäßigkeit. „Der Mangel hindert dich daran, Dinge zu tun, die nicht unbedingt notwendig sind – im Gegensatz dazu kann dich der Überfluss dazu verleiten, unnötige Dinge einfach nur zu tun, weil du es kannst“, erklärt er. Übertragen auf die sozial engagierte Architektur heißt das: „Design sollte in Wahrheit nur einen Mehrwert darstellen, nicht bloß zusätzliche Kosten oder Zierde bedeuten; die Aufgabe der Architektur sollte es sein, den Weg zur gesellschaftlichen Gerechtigkeit und Gleichheit abzukürzen“, heißt es im für die Biennale formulierten Programm und Credo.
15 Jahre, eine Million Menschen pro Woche, zehntausend Euro pro Familie
Die Herausforderungen, auf die die traditionelle Architektur nicht länger wird Antworten geben können, werden immer mehr.Aravena nennt in diesem Zusammenhang die Migrationskrise als Beispiel: Eine Vielzahl von Menschen wird kostengünstige, einfach realisierbare und langlebige Wohnstätten benötigen. „In den nächsten fünfzehn Jahren müssen wir auf der ganzen Welt Städte für eine Million Menschen pro Woche bewohnbar machen, mit einem Budget von zehntausend Euro pro Familie“ – rechnet er vor. Seiner Ansicht nach muss die Architektur Lösungen für die Probleme der Armut, Segregation, Umweltverschmutzung und Überbevölkerung finden. Und für ihn reicht es nicht, sich der Probleme bewusst zu sein, er möchte den Menschen die entsprechenden Werkzeuge an die Hand geben.