Lea Schneider: ein loch im papier, das groß genug ist

Lea Schneider: made in china (Auszug)  ein loch im papier, das groß genug ist © Black Monty Studio

dies ist die hauptstadt, die südlichere hauptstadt, die hauptstadt, die keine mehr ist. ihr regierungspalast ist nicht europäisch. ihr regierungspalast ist so europäisch wie eine kolonialvilla. ihr regierungspalast ist ein nachbau, er steht auf den ruinen des regierungspalastes von jesus’ jüngerem bruder. ihr regierungspalast hat geschwungene dächer, einen pavillon für vergessliche vögel, gusseiserne fin-de-siècle-aufzüge von schindler, einen öffentlichen garten und einen goldfischteich. ihr regierungspalast kann für 40元 besichtigt werden, und dann bleibt man den ganzen tag. die regierung blieb bis zum 1. dezember 1937. als sie ging, wurden die stadttore versperrt. in den nächsten sechs wochen töteten japanische soldaten 400.000 zivilistinnen. in den nächsten vier wochen vergewaltigten japanische soldaten 20.000 frauen. die stadttore stehen noch, die stadtmauer auch, sie kann für 20元 besichtigt werden, und dann bleibt man den ganzen tag. es ist die einzige komplett erhaltene stadtmauer in china. ich habe das nicht gewusst.
im wūlóngtǎn-park brütet die hitze. alles könnte sehr neu oder sehr alt sein, der unterschied will sich nicht einstellen. ich schreibe briefe an till, der neben mir im schatten liegt. ich schreibe briefe an christoph, der sie in einer europäischen kleinstadt liest, das heißt: ich schreibe briefe in die vergangenheit. die vergangenheit, sagt l., ist dort, wo nicht alles zeitgleich geschieht; wo die gegenwart keine auf 350 km/h beschleunigte gleichzeitigkeit ist, sondern eine energetisch sanierte, luftdicht vermauerte sicherheit.
genau das ist das problem, sagt b. und greift nach ihrem bier: wir haben keine zeit zum nachdenken. meine studentinnen brauchen dreißig jahre, um zu merken, was sie wollen, und dann haben sie schon das gemacht, was alle anderen tun. was wir dringend brauchen, sagt b., ist individualismus. sie meint damit etwas anderes als ich.
x. sagt, der individualismus wird kommen, es dauert nur noch ein bisschen. und wie lange genau ist ein bisschen, fragt b. mit dem kopf im kühlschrank. 137 monate und 22 tage, keine sekunde weniger und keine sekunde mehr, sagt x. und nimmt b. die flaschen ab.
h. sagt, er muss in letzter zeit ständig an die 70er denken, es fühlt sich an, als kämen die 70er zurück, und ich frage mich, was würde ich alles nicht für selbstverständlich halten, wenn ich die generation meiner eltern wäre, oder die generation davor – wofür würde ich mehr kämpfen, wovor hätte ich mehr angst. in den 70ern gab es keine presse, nur regierungszeitungen, sagt h. vor drei monaten hat er seinen job als chefredakteur aufgegeben und eine werbeagentur gegründet. wovor hätte ich mehr angst.
dies ist nicht die stadt der schwalben. es ist die stadt, die man vergessen hat. vergessen, wàngjì: ein wort mit zwei silben, wie fast jedes wort in dieser sprache, in der jede silbe ein schriftzeichen und jedes schriftzeichen ein wort ist, die sich mit 85.568 schriftzeichen schreibt und mit 400 silben spricht, in der sich die dinge also permanent reimen und in der jedes dritte gesprochene wort dasselbe wäre, wenn man ihm nicht wenigstens eine zweite silbe spendieren würde, eine sprache, die eigentlich zwei sprachen, eine zum schreiben, eine zum sprechen, und beide sind sehr unpraktisch und sehr, sehr schön. wàngjì also, zwei silben: wàng: vergessen, jì: sich etwas merken. die deutsche übersetzung von wàngjì lautet: vergessen, aber wörtlich übersetzt heißt wàngjì: vergessen, sich etwas zu merken. natürlich, man kann das auch anders sagen. dies ist kein gedicht über den zu kurz gedachten zusammenhang von sprache und denken. dies ist im besten fall: ein loch im papier, das groß genug ist, um durchzuwollen. groß genug, um die fische dahinter schwimmen zu sehen. die pokémon.

          中华字海 meer aus worten. sämtliche schriftzeichen der chinesischen kultur (1994)
          臧棣:像雪山一样升起丛书 zāng dì: aufsteigen, wie es die schneeberge tun (2011)


also: alles sammeln, weil alles gesehen werden soll. die ingwerscheiben und die muskatbrühe, die 20 x 20 cm großen gehwegplatten, je 1 kreis, 4 schwünge und 16 quadrate am rand — ca. 3000 augen mit je sehr viel schlaf in den winkeln. den nudelstand und den pfannkuchenstand, den mann vom mobilen schlüsseldienst, der mittagsschlafend an seinem mobilen schlüsselstand lehnt, einen wasserschlauch im garten der universität. die fetten, schlafenden campuskatzen, tragbare, batteriebetriebene, an den rändern ihres plastikgehäuses allmählich abkrümelnde mini-radios, lautsprecherdurchsagen, ein auto-alarm, der sich in den platanen verfängt, rote bänder in den ästen und fahrräder, lastenräder, zìxíngchē. liùshí niándài de zìxíngchē, sagt x., fahrräder wie aus den 60ern: wo immer sie hinfahren, fahren sie durch staubiges nachmittagslicht.

                               孙文波:六十年代的自行车 sūn wénbō: fahrräder in den 60ern (2002)

nostalgie, sagt l.: eine hitze, in der sich alles verschläft, im körper nach unten sinkt und an wichtigkeit verliert. die straßen streifen an hügeln entlang, an etwas vertraut mediterranem. in nánjīng denke ich zuerst an italien und dann an etwas, das ich nicht mehr vergleichen muss, um es gern zu haben.
dies ist nicht die stadt der schwalben. dies ist die stadt, in der ich dich liebe. ihre wände weißgewaschen wie eine akte, die tore rund wie ein langsam platter werdender ball. noch kann man durchgehen. durch eine vergangen - heit, die eine von vielen, die ein ohrwurm der gegenwart, die genau so ist, wie sie sein soll, rènao nämlich. rènao ist ein wort für die form von gemütlichkeit, die sich einstellt, wenn in einer großen gruppe von menschen alle durcheinander reden und dabei eine lautstärke erzeugen, in der man oben und unten vergisst – eine lautstärkenfläche, in der alles weich wird, entkrampft und an wichtigkeit verliert.

                                                                 li-young lee: the city in which i love you (1990)

in nánjīng sehe ich eine armut, die wie müdigkeit aussieht, eine armut, die alles verkauft, dessen sie habhaft werden kann, kronkorken, benutzten blumendraht, kaulquappen, dinge, von denen ich keine ahnung hatte, dass man sie verkaufen kann, eine armut, die riesige plastiksäcke mit sich herumträgt, eine armut aus rotweißblauweißrotweißblau gestreiften, wasserabweisenden, zusammengetackerten allzweckplanen, eine armut, die als sichtschutz vor einem baugerüst hängt.
in nánjīng sehen mich platanen, wo immer ich hinkomme, die meisten davon wurden gepflanzt, bevor die regierung ging. nánjīng ist eine stadt, von der ich nicht gewusst habe, dass sie eine stadt mit platanen ist, eine stadt mit buchläden und parks und straßencafés und seen, deren große glücksgeschichte noch nicht geschrieben ist. in nánjīng gibt es ein beständiges sägen, das keines ist, ein schubsen heiserer zirper vom ast. wenn ich vorbeikomme, dimmen die grillen kurz ihre lautstärke. als ob sie mich sehen würden; als ob sie ihnen peinlich sei.
in nánjīng lese ich einen essay von lǐ chénjiǎn, den alle gelesen haben, weil er fast einen tag lang online war, bevor die zensurbehörde die klickzahlen bemerkte. lǐ chénjiǎn ist der dekan des yuánpéi-kollegs an der universität běijīng. lǐ chénjiǎn ist einer der höchsten beamtinnen chinas. zynismus, schreibt lǐ chénjiǎn, bildet die basis unserer gesellschaft, und das hat einen einfachen grund. wenn du alle entfernst, die ihre meinung sagen, dann bleiben diejenigen übrig, die keine haben. zhūjūn, jù zuò quǎnrú, schreibt lǐ chénjiǎn: sehr geehrte damen und herren, widerstehen sie der versuchung, zynikerinnen zu sein.

李沉简:挺直脊梁拒做犬儒(北大一二〇纪念)lǐ chénjiǎn: zynismus und rückgrat. 120 jahre universität běijīng (2018)

also: alles sammeln, weil alles genannt werden soll. eine entscheidung, es nicht gut sein zu lassen; sich nicht zu gewöhnen, nicht schleichend und nicht der einfachheit halber und nicht an diese erbärmliche angst. eine entscheidung, die in der gegenwart um die gegenwart; die jede trauer verweigert; die im wūlóngtǎn-park auf der kleinen insel hinter dem getränkeautomaten, hinter mülltrennung und weidenzweigen und mittagspause, hinter kräutereistee in dosen und take-away in plastiktüten, hinter einer entscheidung, hinter die sie nicht zurückgeht: say it too fast and it sounds like a platitude: exactly the kind of reductive, crushing generality i want to try to avoid.

       eileen j. cheng: literary remains. death, trauma, and lǔ xùn's refusal to mourn (2013)
       kate briggs: this little art (2018)


dieses land ist kompliziert, sagt b., ist mir mittlerweile auch egal, ob das gut oder schlecht ist, es ist auf jeden fall interessant. keine ahnung, was in zwei jahren sein wird; ich kann mich kaum noch erinnern, wie es vor zwei jahren war.
also alles sammeln, weil alles anders sein wird: sonnenschirme, tomaten mit zuckerguss, den xuánwǔ-see, wenn man von der stadtmauer herunterschaut, die regattastrecke der ruderboote – winzige nadeln zwischen den inseln, den dicken blumenkohlköpfen im see. y. sagt, nach der schule sei sie hierhergekommen, wenn sie allein sein wollte. y. sagt, ich soll mehr trinken, duō hē diǎn, und das sagen alle. gekochtes wasser, kāishuǐ, noch so ein zweisilbenwort: kāi: öffnen, shuǐ: wasser. gekochtes wasser, kāishuǐ, noch so ein glücksfall: geöffnetes wasser.
y. sagt, alle warten darauf, dass die immobilienblase platzt; y. sagt, sie weiß noch nicht, ob sie dann wieder nach berlin geht. als y. zum ersten mal nach berlin ging, dauerte es zwei monate, bis die mauer fiel. 1989, das war ein furchtbares jahr für china, sagt y., ich bin danach lange nicht mehr zurückgekommen. während ich sie ins herz schließe, frage ich mich, was ich von ihr hören will. y. arbeitet für den staat. y. hasst xí jìnpíng, weil xí jìnpíng intellektuelle hasst. das hat er mit máo gemeinsam, sagt y., diese verachtung für die aufklärung. ich habe das nicht gewusst. y. sagt, sie hat keine lust mehr auf kalligraphiekurse, und das ist ihre bezeichnung für auswärtige kulturpolitik; y. sagt, china ist komplizierter als das. ja, sage ich, und darum ist es ja so interessant. y. lächelt müde. duō hē diǎn.
und unter uns liegt der see, liegt die ruhe einer stadt, die man vergessen hat, auf chinesisch: die ruhe einer stadt, die man vergessen hat, sich zu merken; die ruhe einer seit den 50er jahren irgendwie übersehenen stadt; die ruhe einer stadt mit 8 millionen einwohnern.
in nánjīng, in einem herbst, der ein sommer ist, den wir mit gesprächen gestopft haben wie ein jiǎozi, so gierig gefüllt, dass es beim kochen platzen wird, in einem herbst, der ein anfängerfehler, der schöner als objektiv möglich und ein sommer ist, lege ich das lexikon des modernen chinesisch neben tills kaffeetasse auf einen tisch auf einem balkon an dem trocknende handtücher hängen, fußnoten zu fußnoten, ausleger an den stegen von sprachen, die sich von uns lossagen, uns versprechen.
dabei sind sich deutsch und chinesisch so ähnlich, sagt y., beide behaupten ihre worte, ungeschickte übersetzungen, wo die anderen sprachen sich auf eleganz einigen, bestehen deutsch und chinesisch auf wörtlichkeit. kindersprachen, in denen alles heißt, was es ist, in denen es nicht television, sondern fernsehen heißt, oder eben diànshì, noch so ein zweisilbenwort, diàn: elektronisch, shì: sehen, diànshì: elektrosehen, oder eben: fernsehen. sprachen mit geringer fremdworttoleranz; sprachen, die sich alles aneignen, was sie finden können; sprachen, die sich der welt mit zärtlichkeit nähern, mit der zärtlichkeit, mit der man einen fisch erschlägt.
und das ist kein zusammenhang, sagt x., keine traditionslinie, keine anthropologische konstante, das ist ein loch im papier, das groß genug ist, eine dieser zufälligen, strukturellen ähnlichkeiten, was logikerinnen als wunder bezeichnen, all diese irgendwie wahlverwandten monster, die hektisch von ihren inseln in der geschichte kreischen und aufmerksamkeit wollen.

                                                     david der-wei wang: the monster that is history (2004)

also alles sammeln, weil alles in die sprache gehört: tee-eier, yóutiáo, die zensierten zeitungen am kiosk neben der metro-station gǔlóu, die niemand liest, die reportagen im nánfāng zhōumò und auf cáixìn, die alle lesen, die goldfischbecken und die elstern, die vor den tempeln stehen, ihre schwebenden schmuckflossen, das königinnenblau unterm flügespiegel, am rand. vögel welcher farbe sind das, die ihr eigenes vergessen fortfliegen?

                                                                        西川:夜鸟xī chuān: nachtvögel (ca. 1992)

in nánjīng sehe ich einen eisvogel, den einzigen eisvogel, den ich je gesehen habe, am rand eines zubetonierten kanals in xiānlín an der haltestelle der metro nr 2 nach jīngtiān lù.
in nánjīng sind die platanen bis etwa einen meter über dem boden mit weißer und die mauern in der altstadt mit pastellgelber farbe gestrichen, in nánjīng sind die klimaanlagen von hǎi’ěr, in nánjīng halten die stromkabel den himmel zusammen.
in nánjīng lerne ich den unterschied zwischen pragmatik und pragmatismus. er liegt in einer entscheidung, und er liegt im preis, den man zahlt: pragmatiker wollen ihn so klein wie möglich, pragmatisten kalkulieren ihn so hoch wie es geht. nicht aus lust an schmerzen, nicht aus heldinnentum, nicht aus hoffnung – hoffnung, schreibt lǔ xùn, ist die gleiche illusion wie verzweiflung – sondern aus einer entscheidung, die eine verbindlichkeit ist, aus einer verbindlichkeit, die eine verweigerung ist. aus der weigerung, es gut sein zu lassen, sich zu gewöhnen, der weigerung, zynisch zu werden, aus dem unvermögen, es gut sein zu lassen, aus der hoffnungslosen ernsthaftigkeit, mit der man sich einem spiel verschreibt, verspricht.

                        魯迅:鲁迅自选集 lǔ xùn: vorwort zu den selbstgewählten werken (1933)

ich schreibe, weil die leute es hassen, sagt lǔ xùn. die welt ist voll von leuten, die bloß ihre persönliche komfortzone sichern wollen, und weil sie die nicht einfach so haben dürfen, müssen wir ihnen von zeit zu zeit etwas lästiges vorsetzen, etwas, das sie in ihrer handlungsfreien welt stört.

                                                                               魯迅:墳 lǔ xùn: gräber (1927)

verschick deine liebe zum valentinstag, sagt das plakat hinter dem kiosk im wūlóngtǎn-park, schick sie per schnellkurier. tóngchéng fēisòng, nur 5元, lieferung in der ganzen stadt, nur 6 stunden. valentinstag, qīxì, der siebte tag im siebten monat, ist in nánjīng im herbst, der ein sommer ist. ich habe das nicht gewusst.

suǒyǐ yào jué mù, nǐ jiù gǎnkuài dòng shǒu ba, sagt b.: wenn du gräber ausheben willst, na, dann leg mal los.
西川:月亮 xī chuān: der mond (ca. 1995)


 qiūfēng qiūyǔ / chóu shā rén, sagt qiū jǐn, chinas erste feministin, die anarchistin mit dem herbst im nachnamen und dem schwert vom spiegelsee im künstlernamen, am 13. juli 1907, dem abend vor ihrer hinrichtung: herbstregen, herbstwind / diese erbärmliche angst. qiūfēng qiūyǔ / chóu shā rén, sagen millionen chinesische schulkinder, die ihre gedichte auswendig können.

                                                      秋瑾:秋风秋雨qiū jǐn: herbstwind, herbstregen (1907)

früher oder später werden wir alle eine kugel in den kopf kriegen, sagt h. das ist unabwendbar, und darum müssen wir sicherstellen, dass wir sie von unseren gegnern kriegen, und nicht von uns selbst.

                                                  jure detela via tibor hrs pandur: manifest ilegale (ca. 1975)

cǐkè, shéi méiyǒu fángwū jí bùbì ànjiē dàikuǎn, sagt h.: wer jetzt kein haus hat, muss keinen kredit mehr zahlen. und sowieso, sagt h., habe ich nie verstanden, warum irgendwer für den staat arbeitet, es gibt doch mittlerweile so viele möglichkeiten, in china geld zu verdienen. h. bezahlt mein mittagessen und lacht. man soll vorsichtig sein, erinnere ich mich, wenn geliebte menschen einem etwas zu großes schenken: es wird ein abschiedsgeschenk sein.
                                                         韩博:自由二 hán bó: freiheit nr. 2 (2017)
                                                         marina cvetaeva: erzählung von sonečka (1938)


 

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