III.
6. März 1953.
- „Er ist krepiert.”
Keuchend stand ihr Vater an der Küchentür, in seiner Hand die Zeitung zitterte. Dass er tot war, wusste sie, am Morgen hatten sie stramm stehen müssen. Teri hatte geweint. Gut dreißig Augenpaare verfolgten von hinten, wie die beiden Schleifen auf ihrem Rücken vibrierten, zwei flatternden Faltern gleich. Borka wagte nicht, sich an den Beinen zu kratzen, sie stand nur gelangweilt da, den Bauch gegen die Bank gelehnt. Rákosi ist der beste Vater, alle Arbeiter sind seine Söhne, murmelte sie für sich, als sie sich endlich setzen durften. Sie spürte, wie die Stelle unter ihrem Knie juckte und rieb sie vorsichtig. Was nun geschehen würde, konnte man nicht wissen. Dieses Gedicht hatten sie im vergangenen Frühjahr lernen müssen. Alle Arbeiter sind seine Söhne. Söhne! Dann sind die Mädchen ja auch seine Söhne. Sie lachte leise. Die Lehrerin drehte sich abrupt um. Den Kopf gesenkt, schrieben alle von der Tafel ab,
Stalin ist gestorben, und dann folgten Sätze, die Borka nicht wirklich verstand. Sie konzentrierte sich nur noch darauf, ordentlich zu schreiben. Gerade.
Als sie mittags unter der schwarzen Fahne hindurchmarschierten, die über dem Schultor hing, hielt sie es für besser, still zu sein. Teri lehnte sich mit verweinten Augen gegen das Eisengeländer und tuschelte etwas mit einem anderen Mädchen aus ihrer Klasse.
- „Du hast gelacht”, zischte sie
- „Nein, habe ich nicht.”
Sie sah ihr in die Augen. Teri wandte sich schließlich ab
- „Ich weiß, du hast gelacht, weil Stalin gestorben ist”, sagte sie wieder.
- „Ich habe nicht gelacht”, wiederholte Borka und ging langsam weiter.
Papa wird lachen, dachte sie.
Sie bemerkte den Fink an der Straßenecke gegenüber, der Vogel saß auf einem tief gelegenen Ast und ließ mit seinem Gesang die ganze Gegend erklingen. Der Kater unter dem Baum lief im Kreis herum, fast wie sich selbst hinterher, und wandte sich immer wieder um, als würde ihn der Vogel von hinten rufen. Borka stampfte kräftig auf, um ihn zu verscheuchen, er aber wich nur ein bisschen aus, machte einen Buckel und blickte zurück. Wieder musste sie lachen. Sie konnte es kaum unterdrücken, sie platzte fast.
- „Du bist der Sohn von Rákosi”, flüsterte sie dem Vogel zu, der in diesem Augenblick davonflog.
Eine schlanke Frau mit hohen Absätzen trat aus dem Haus. Sie sah sich verwirrt um, als wisse sie nicht, wo sie war, dann bemerkte sie die schwarze Fahne am Haus gegenüber. Borka tat, als würde sie sich die Schuhe zubinden.
- „Hallo du, Mädchen!”
Sie blickte nicht auf, erst als die Frau sie zum zweiten Mal rief.
- „Weißt du, wer gestorben ist?”
Ihr zitterte die Hand, als sie eine Zigarette herauszog und sich zum Mund führte, dann kramte sie wieder in ihrer Tasche.
Bestimmt sucht sie nach Streichhölzern, dachte Borka, g
anz schön unordentlich. Den ganzen Morgen ist sie nicht weg gewesen. Vielleicht ist sie gerade erst aufgewacht. Borka machte den Mund auf und gleich wieder zu. Sie wusste nicht recht, ob sie ihr sagen durfte, wer gestorben war.
- „Stalin.”
Kaum hatte sie das ausgesprochen, da rannte sie auch schon davon, bei jedem Schritt schlugen das Federmäppchen, das Lineal und die Bücher in ihrer Tasche gegeneinander. Sie traute sich nicht zu lachen und auch nicht, sich umzudrehen, obwohl sie das Gesicht der Frau gern gesehen hätte. Erst am Ende der Straße hielt sie an. Die Frau war nicht mehr zu sehen. Borka lief den Hügel hoch. Weiter oben auf der Straße sah sie Márti, die ab und zu stehen blieb und den Hals hochreckte, als würde auch sie nach den Vögeln schauen. Vielleicht genau nach dem Fink. Sie wurde langsamer.
Als sie am Morgen in der Reihe standen, hatten sie einander gegrüßt. Die Klassen waren zusammengetrommelt worden und alle mussten singen. Mártis Klasse trat direkt vor ihnen an. Als sie sich umdrehte, fühlte es sich plötzlich so an, als sei da doch eine, die keine Fremde war. Dabei sprachen sie im Treppenhaus nie miteinander. Wenn sie sich zufällig über den Weg liefen oder zur gleichen Zeit in den Garten gingen, spielte die eine vor dem Haus, die andere dahinter, als hätten sie das so ausgemacht. Manchmal blieb Márti oder sie an der Hausecke stehen und wartete ab, bis sie Plätze getauscht hatten, und wenn Les auf die andere Seite des Gartens laufen wollte, fing eine von ihnen ihn ein.
- „Mir ihr darfst du nicht spielen. Das geht nicht”, flüsterte sie, und Márti tat, als hätte sie es nicht gemerkt.
Vielleicht haben sie das auch ihr eingeschärft, dachte Borka. Immer wieder nahm sie Anlauf, ihren Vater zu fragen, ob sie mit Márti spielen dürfe, selbst wenn ihr Vater war, wer er war.
- „Der ist von der Staatssicherheit”, sagte Großmutti, während sie die Suppe mit der Kelle auf den Teller schöpfte. Das rote Fett bildete auf dem Löffel eine dünne Schicht, als sei er mit Farbe überzogen. Als sie ihn wieder eintauchte, um für Julia die zweite Portion in die zweite Schüssel zu holen, wurde er wieder so. Im Teller schwammen Sellerie- und Kartoffelstückchen obenauf, und ein paar Fasern Fleisch.
Das mit der Staatssicherheit sagte Großmutti in einem solchen Ton, dass Borka sich nicht traute, noch einmal zu fragen, ob das mit der Staatssicherheit auch für Márti galt oder nur für ihren Vater. Am Abend fragte sie dann ihren Papa, ob Onkel István wirklich von der Stasi sei. Und Bözsi, die zu ihnen in das kleine Zimmer eingewiesen worden war, obwohl sie nicht wollten, dass sie bei ihnen wohnte. Sie hatten auch nicht gewollt, dass Onkel István samt Familie in ihrer anderen Wohnung lebten. Wegen ihnen mussten sie bei Großmutti, dem Onkel Alter, und Rosa wohnen, und es war noch ein Glück, dass Rosa nicht geheiratet hatte, denn dann würden ihr Mann und ihre Kinder auch noch hier wohnen und Bözsi in dem kleinen Zimmer, denn eine Familie kann nicht fünf Zimmer haben.
Ihr Vater schaute sie kaum an.
- „Der ist von der Stasi, ja. Die Bözsi nicht. Die ist nur ein ungehobelter Prolet”, sagte er schnell und beugte sich zu ihr hinunter.
- „Pst, schweig still”, fügte er hinzu.
Borka nickte. Schweigstille bedeutete, dass sie nie, nirgendwo und mit niemandem außer mit ihrem Papa darüber sprechen durfte, aber auch das nur, wenn niemand sonst es hören konnte. Nicht einmal Mama. Auch Großmutti nicht. Oder Les. Oder der Hund.
-„Sind Michele und Julia auch in der Schweigstille?”, fragte sie noch zurück, ohne selbst zu wissen, warum.
Der Bruder ihres Vaters kam jedes Wochenende mit seiner Familie von der Budaörsi út zu ihnen.
Dann zogen die beiden Männer sich hinter den Paravent zurück, wo Stifte und Papier bereit lagen, dort flüsterten sie miteinander.
- „Michele ist der Einzige, der mit mir in der Schweigstille ist. Nur er allein. Und Michele heißt er nur heimlich. Wenn jemand ihn in der Schule fragt, heißt er Mihály. Weder Lola, noch Julia, noch Onkel Géza sind in der Schweigstille. Und Onkel Alterfranz und Großmutti auch nicht”, sagte er leise.
- „Júlia wird aber
schon noch dazu gehören?”, fragte sie und nahm die Hand ihres Vaters. Sie wusste, dass sie das nicht hätte tun sollen. Sie wusste, dass das jetzt zu viel gewesen war, genau wie das Lachen in der Klasse. Aber sie war damit durchgekommen. Die Lehrerin hatte nicht hören wollen, dass jemand gelacht hatte.
Sie hat sich nicht getraut, es zu hören, dachte Borka.
Jetzt beugte sich ihr Vater ganz nah zu ihr herab. Sein Gesicht war seltsam, so, im Halbdunkel, direkt ihr gegenüber.
- „Ich weiß es nicht.”
Es war leichter so, dass er gesagt hatte,
’ich weiß es nicht’, als wenn er gesagt hätte,
’nein’. Denn dann hätte sie sich zwischen ihrem Vater und Júlia entscheiden müssen. Dabei gehörte sie doch zu ihr. Den anderen gegenüber hatten sie immer geschwindelt und behauptet, sie seien Geschwister.
- „Du lügst! Du hast einen kleinen Bruder”, hatte der eine Junge aus den großen Mietshäusern gekläfft. Der mit den roten Haaren. Sie hassten einander auf den ersten Blick, so sehr, dass der Junge ausspuckte, wenn er Borka sah.
- „Kann sein, dass ich einen habe. Aber nur Júlia ist meine Schwester”, brüllte sie zurück. Später erinnerte sie sich bloß noch daran, dass sie gerauft hatten.
Sie wurden getrennt. Den Rothaarigen hatten sie von rechts und von links fest im Griff. Das hoch aufgeschossene, gelbe Gras vor dem maroden Haus umwogte seine matschverschmierten Knie, die wahrscheinlich auch bluteten. Sie musste lachen, wie er so dastand und ständig versuchte, sich loszureißen, aber sie hielten ihn fest.
- „Mädchen darfst du nicht schlagen!”, sagte der eine leise zu ihm. Er war etwas größer als die anderen und wohnte weiter weg, am Móricz Zsigmond körtér. Er hätte nicht hierher kommen dürfen, zu den Kindern vom Hügel und aus der Häuserreihe unten bei der Bäckerei, um mit ihnen zu spielen.
- „Das ist kein Mädchen!”, rief der Rothaarige und spuckte wieder aus.
Júlia hielt sie fest, dabei wollte sie gar nicht schlagen. Auch vorhin hatte sie nicht schlagen wollen, aber sie musste es einfach tun. Plötzlich wandte sie sich ab, und Júlia ging mit ihr weg, ohne zurückzuschauen.
- „Aber wir sind doch gar nicht in echt Geschwister”, sagte Júlia am Gartentor. Sie sagte es so leise, als hätte sie Angst, sie würde sie schlagen.
- „Ausgesucht habe ich mir dich und nicht Les”, antwortete sie ihr.
Júlia zog die Schultern hoch und stand immer noch so da, als sie sahen, wie Márti sich langsam vom Garten her näherte aber sofort umkehrte, als sie sie bemerkte.
Auf der Treppe blieb Júlia stehen.
- „Werdet ihr nie miteinander reden?”
Im Treppenhaus hallte ihre Stimme laut, als stünde sie in der Oper auf der Bühne. Ohne zu antworten rannte sie klopfenden Herzens die Treppe hinauf. Selbst wenn Júlia ihre Schwester war, selbst wenn sie sich für Júlia entschieden hatte, konnte sie ihr nicht sagen, dass sie nicht mit Márti befreundet sein durfte, weil ihr Vater bei der Staatssicherheit war. Júlia war nicht in der Schweigstille. Aus der Schweigstille heraus darf man nicht reden. In der Schweigstille darf man alles sagen und alles fragen, aber nur, wenn man es niemandem erzählt.
An den Häusern wehten jetzt überall schwarze Fahnen. Die eine Schleife auf Mártis Schulter schwankte beim Gehen genau so wie die zwei Schleifen auf Teris Rücken, als sie weinte.
Was, wenn auch sie geweint hat, weil Stalin gestorben ist?, dachte sie, dann lief sie weiter. Sie wollte ihr unbedingt in die Augen schauen, um entscheiden zu können, was nun.
Sie holte sie an der Treppenhaustür ein. Márti warf ihr einen kurzen Blick zu und lief dann die Treppe hinauf. Ihre Augen hinter der Brille waren ruhig und klar.
Sie hat nicht geweint, dachte Borka.
Sie setzte sich und löffelte ihre Suppe, als ihr Vater mit der Zeitung keuchend hereinkam und sagte, dass er krepiert sei.
Márti hat den Fink beobachtet, dachte sie sich, als sie ihren Vater sah,
Stalin ist ihr egal, jedenfalls interessiert er sie weniger als der Fink. Am nächsten Tag sprach sie sie auf dem Flur an.
- „Jetzt müssen wir nicht mehr getrennt nach Hause gehen”, sagte sie zu ihr, statt sie zu grüßen, und Mártis Augen hinter der Brille wurden groß.
- „Bist du lieber vorne oder hinten im Garten?”, fragte sie zurück, als wolle sie sagen, wie gut, dass sie sich all die Jahre abwechseln konnten, als hätten sie sich abgesprochen.
- „Im Keller”, antwortete sie, ohne zu wissen warum, und versprach Márti, dass sie ihn ihr zeigen würde.
- „Die Wände sind schwarz. Da bin ich geboren. Aber das war ein anderer Keller”, fügte sie hinzu.
Als sie das Haus erreicht hatten, hielten beide am Tor an, dann lief Márti weiter, ohne sich zu verabschieden. Borka ging langsam hinter ihr her, wieder und wieder blieb sie stehen, um das sprießende Gras zu betrachten.
- „Du bist mit der Tochter des Stasimannes gekommen", sagte Großmutti ohne Nachdruck.
- „Mit Márti”, antwortete sie und hob den Kopf. Aus Bözsis Zimmer war ein Wimmern zu hören.
Ihre Großmutter schickte sie zuerst in den Wohnraum, der ihnen zugeteilt worden war, dann erst ging sie zu Bözsi und brachte ihr heißes Wasser und Bettwäsche. Zweimal schickte sie Borka in den hinteren Raum zurück, und als ihr Bruder sagte, „die Bözsi hätte fast ein Junges bekommen”, schubste sie ihn an der Schulter weg und rannte die Treppe hinunter, aber sie traute sich nicht, bei Márti zu klingeln.
Unter dem Fenster des kleinen Zimmers, das genau unter Bözsis Zimmer war, blieb sie stehen und und begann zu pfeifen. Mártis Mama steckte ihren Kopf heraus und schlug das Fenster zu, aber ein paar Minuten später erschien Márti im Garten.
- „Bözsi hätte fast ein Kind bekommen, aber ich glaube, es ist gestorben. Sie weint. Großmutti hat das Blut hinausgebracht”, sagte sie zu Márti, die neben sie auf die Astgabelung des Walnussbaums geklettert war. Sie hatte nicht gewusst, dass Márti auf Bäume klettern konnte. Sie hatten einander nie belauert.
Márti sagte kein Wort, erst später erzählte sie, was Männer mit Frauen machen. Dabei sah sie sie nicht an, beide schauten auf den Garten des Nachbarn, als sei an dem Rauch, der in den Himmel stieg, etwas Interessantes. Márti fragte nicht, ob sie wisse, was Männer mit Frauen tun, oder was demnach ein Mann mit Bözsi gemacht hatte, mit der Untermieterin, sie ließ sich einfach auf den Boden fallen.
Es wurde langsam dunkel. Sie wartete noch, bis der Rauch in der Dunkelheit verschwunden war, dann sprang auch sie hinunter. Von irgendwoher war der Fink wieder zu hören. Plötzlich wurde der Garten traurig. Vielleicht weil Bözsis Bauch nicht so groß geworden war wie bei anderen Frauen, wenn jemand das mit ihnen macht, und weil das ganze Blut aus ihr herausgekommen war, und das Kind. Am Abend klopfte sie an ihre Tür, um zu fragen, ob sie ihr helfen könne. Bözsi hielt ein Laken vor ihren nackten Körper und öffnete die Tür.
- „Nein”, antwortete sie knapp und machte die Tür zu.
Übersetzung: Agnes Relle